Jesko Matthes / 12.02.2022 / 15:00 / Foto: Charles Amable Lenoir / 11 / Seite ausdrucken

Lili Marleen, vor 2600 Jahren

Ich greife mir aus meinem Bücherregal gern ein Gedicht der griechischen Dichterin Sappho gegen den Krieg und für die Liebe. Lili Marleen vor 2600 Jahren! Hören wir, was Sappho für uns singt.

Es riecht nach autoritärem Gehabe, allenthalben; es riecht anderswo, nicht sehr ferne, sogar nach Krieg. Bekommen auch Sie Lust, zu fliehen? Weg aus diesem Land, weg von seiner lächerlichen, hilflosen Arroganz, weg von seiner feigen, diskriminierenden Gleichgültigkeit? Weg von seinen hässlichen Phrasen, seinen erbärmlichen Kontrollen, in ein Land der Schönheit? Weg, nur weg! Doch wohin? Kennen Sie das Gefühl? Dann sind Sie wahrlich ein Konservativer. Ein Wesen, das das natürliche Gesicht menschlicher Kultur und seine Schönheit mehr schätzt als die geschminkte Maske unmenschlicher Rechthaberei. Ist das so? – Ach, dann treten Sie doch eine kleine Flucht der Sehnsucht an mit mir, das Land der Griechen mit der Seele suchend. Alle anderen bleiben im Lande und reden nicht dämlich.

Sappho, eine Priesterin der Aphrodite

Ich hingegen greife mir gern aus meinem Bücherregal ein Gedicht der Sappho, der ältesten europäischen Dichterin, von der wir wissen. Die Sumerer hatten Dichterinnen vor uns; und selbst mit dieser Form des „Wir“ muss ich vorsichtig sein; es ist das nächste Fremde. Wir Heutigen wissen wenig von jenen Zeiten, in denen Sappho wohl eine Priesterin der Aphrodite und die Vorsteherin eines Lyzeums war, einer Mädchenschule auf Lesbos. Und dass Sappho, immer wenn sie von sich selbst singt, es nur über die Liebe zu einem ihrer Mädchen tut, mag uns heute weniger seltsam erscheinen als in früheren Zeiten – während die heutigen nur vorgeben, weniger prüde zu sein. Nun, der Konservative bewahrt all das mit einem Lächeln, einem archaischen, zuweilen einem sardonischen.

Noch bevor Sappho eine Dichterin war, war sie eine Priesterin der Aphrodite, die auch dichtete, allerdings nicht nebenbei, sondern als Gottesdienst. Singend beschwor sie die Göttin der Liebe, schamanisch tanzend, wie eine jener minoischen Priesterinnen auf den Goldringen vor dem Altar der Natur, bis die Gottheit vom Himmel erscheint. Und für kurze Zeit werden sie eins, die Epiphanie als Metamorphose, die Priesterin als Göttin, ehrfürchtig bestaunt vom singenden Chor der Gläubigen. So schwer fällt es und so leicht als Priesterin der Aphrodite, vom Begehren zu singen und von der Lust. So fern ist uns diese Ekstase.

Eine Ode an die Liebe

Das Gedicht Sapphos, das folgt, mag man sich daher vorstellen wie hineingesungen in das Preußen der Kaiserzeit oder in das Dritte Reich, gesungen auch heute in die Quartiere der deutschen Soldaten in Mali, der russischen an den Grenzen der Ukraine, der amerikanischen im Baltikum und hier bei uns: Manche jubeln dem Militär zu. Andere, auch manche Soldaten, sehnen sich nach Frieden, nicht alle; denn das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.

Sappho singt dagegen die ihre. Sie sehnt sich nach ihrer schönen Schülerin und Geliebten, Anaktoria. Ein sehr modernes, subversives Gedicht, das die Vorzüge der Liebe zu einem Menschen preist gegen die Liebe zum Krieg. Gleichzeitig aber bereitet Sappho die Mädchen ihres Lyzeums vor auf ihre spätere Rolle als Ehefrauen wehrpflichtiger Männer, und schon ist alles gar nicht mehr so subversiv – nur eben ausreichend „emanzipiert“. Und so wunderbar gesungen, aus weiblicher Sicht. – Kypris ist Aphrodite, die Liebesgöttin aus Zypern, und Helena, na, wer schon? Die Ursache des Trojanischen Kriegs.

Ich liebe das klare Exposé, die logische Durchführung und die ebenso prachtvoll-sehnsüchtigen wie messerscharf-ehrlichen letzten sechs Zeilen, in denen man meint, nicht mehr den Krieg vor sich zu sehen, für den du bereit sein musst, willst du den Frieden bewahren, ... sondern die schöne Anaktoria. Lili Marleen vor 2600 Jahren! Hören wir, was Sappho für uns singt.

Sappho – Priamel-Ode

Fragment WS 16LP/27a,b,D – Übersetzung in Anlehnung an Hermann Fränkel, 1951

Οἰ μὲν ἰππήων στρότον, οἰ δὲ πέσδων,
οἰ δὲ νάων φαῖσ’ ἐπὶ γᾶν μέλαιναν
ἔμμεναι κάλλιστον, ἐγὼ δὲ κῆν’ ὄτ-
τω τις ἔραται

Mancher sagt: ein Wagenheer, andere: das Fußvolk,
und Dritte: eine Flotte sei das Schönste
auf der schwarzen Erde; ich aber sage:
das, was einer liebt.

πάγχυ δ’ εὔμαρες σύνετον πόησαι
πάντι τοῦτ’· ἀ γὰρ πολὺ περσκέθοισα
κάλλος ἀνθρώπων Ἐλένα τὸν ἄνδρα
τὸν πανάριστον

Einem jeden Menschen dies klar zu machen
ist sehr leicht. Es hat ja die schönste aller
Menschenfrauen, Helena, einst den Mann,
den allerbesten [verlassen],

καλλίποισ’ ἔβας ‘ς Τροίαν πλέοισα
κωὐδὲ παῖδος οὐδὲ φίλων τοκήων
πάμπαν ἐμνάσθη, ἀλλὰ παράγαγ’ αὔταν
οὐκ ἀέκοισαν

und sie stieg ins Schiff für die Fahrt nach Troja,
und vergaß ihr Kind, und der lieben Eltern
gedachte sie nicht mehr; es entführte sie,
nicht eben unwillig,

Κύπρις· εὔκαμπτον γὰρ ἔφυ βρότων κῆρ
] κούφως τ . . . οη . . . ν
κἄμε νῦν Ἀνακτορίας ὀνέμναι-
σ’ οὐ παρεοίσας

Kypris: In der Göttin Hand ist das Herz
geschmeidig [eines jedes Menschen].
So hat sie nun auch mich der Anaktoria erinnert,
der abwesenden,

τᾶς κε βολλοίμαν ἔρατόν τε βᾶμα
κἀμάρυχμα λάμπρον ἴδην προσώπω
ἢ τὰ Λύδων ἄρματα κἀν ὄπλοισι
πεσδομάχεντας.

deren geliebten Gang ich lieber sähe
und des Lichtes Spiel auf dem blanken Antlitz
als der Lyder Wagen und hoch in den Waffen
kämpfende Krieger.

Foto: Charles Amable Lenoir Tumblr CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

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Rudolf Dietze / 12.02.2022

Herr Ausländer ich will die Ukraine nicht dämonisieren. Ich sehe nur, was nach dem 1.WK mit Österreich-Ungarn geschah, ich nenne nur Lemberg, und nach dem 2.WK von Stalin vollendet wurde. Tschechen, Jiri H., der 1946/47 aus der Ukraine vertrieben wurde und danach in Joachimsthal Uran schürfte, oder Polen die von Ost nach Schlesien und Pommern vertrieben wurden. Wir Deutschen sollten uns immer bewusst sein, daß unserem Größenwahn die Buße folgte. Wir gehören nicht in diese Liga! Natürlich leben sicher auch vereinzelt Deutsche in der Ukraine, wie auch in Polen oder Tschechien aber der Großteil wurde “ethnisch gesäubert”. Alle Großmächte waren dafür. Nur gegen Widerstand konnte Restdeutschland 1990 wiedervereinigt werden.

Silvia Orlandi / 12.02.2022

Die Kriegsschreier und Kriegsgewinner , getarnt als “Demokratie und Menschenrechtverteidiger”  wittern wieder gute Geschäfte (GB Waffenlieferungen in die Ukraine) Wenn die USA/Russland so weitermachen mit den Stellvertreter Kriegen, weit weg vom Schuss, werden die Helme und das Verbandszeug in der Ukraine wohl gebraucht werden. Baut Krankenhäuser, Schulen, Strassen ... so gewinnt man die Herzen der Menschen und den Frieden.

Gerd Kistner / 12.02.2022

Danke! Keiner kann in Frieden leben, wenn es dem lieben Freunde nicht gefällt.

Arne Ausländer / 12.02.2022

Noch ergänzend zu “Die Ukraine hat es selbst in der Hand…” - Ja, sie kann sich der russischen Reconquista unterwerfen. Oder sich den westlichen Spielchen ausliefern. Was für eine freie Wahl! Übrigens etwas vergleichbar mit der Lage Finnlands 1939-1945: von Hitler an Stalin verkauft (per Zusatzprotokoll zum Sowjetisch-deutschen Freundschaftsvertrag von Ende 1939), dennoch 90% des Landes gerettet im Winterkrieg. Was blieb danach als ein mißtrauisches Bündnis mit Hitler? Immerhin durfte die Wehrmacht nur nach Lappland, nicht in den Rest Finnlands. So ist das Land noch heute zu 90% von russischer Herrschaft frei, die 10% Verluste von den meisten vergessen. - Zurück zu Ukraine: Die hat kein bißchen Land von Rußland genommen, wohl aber Rußland von ihr - trotz der Garantie der Grenzen 1996 im Gegenzug zum ukrainische Verzicht auf Atomwaffen. Aber Garantien von Großmächten sind wenig wert, wie seit 1974 auch Zypern bitter erharen muß. - Wehe den Schwachen!

Arne Ausländer / 12.02.2022

Immer wieder ärgerlich, wenn über Osteuropa solch Unsinn geschrieben wird, wie hier von Herrn Dietze. Es leben Polen in der Ukraine und Ukrainer in Polen (teils nach Breslau u.a. vertrieben). Die Feindseligkeiten haben eine lange Geschichte und sind gegenseitig, aber stets nur von wenigen betrieben. Heutzutage spielen sie kaum eine Rolle, ein paar Grafitti vielleicht, oder verbaler Blödsinn manchmal. - Um Uzhgorod/Ungvar leben Ungarn, in der Nord-Bukowina Rumänen, in Süd-Bessarabien Tataren und Bulgaren. Die Lage der Krimtataren war bis Anfang 2014 deutlich besser als danach. Die Ukraine ist keinesfalls erfüllt von Nationalismus, auch wenn durch die aktuellen Konflikte vieles schlechter wurde. Ich habe dies größtenteils selbst vor Ort gesehen, dazu natürlich auch historische Dokumente wie (jeweils) aktuelle Nachrichten zur Kenntnis genommen. Ich sehe keinen Grund zur Dämonisierung der Ukraine - ebensowenig gilt dies für andere Länder. Die Mächtigen freilich sind doch wohl kaum irgendwo ehrenwert. Ich wünsche der Ukraine - wie allen Ländern - Frieden. Eine NATO-Beteiligung würde die Gefahren nur erhöhen - letztlich zum Vorteil Chinas. — Warum fällt es den meisten so schwer zu sehen, daß auf allen Seiten die Mächtigen ihre üblen Spiele treiben, zum Schaden der einfachen Menschen, die ich überall weit überwiegend gutherzig und friedlich fand - ob auf Reisen in der Ex-Su, Ex-Jugoslawien, Nordirland oder Nordamerika.

Frank Mora / 12.02.2022

Lili Marleen? Ich halte es da mit der modernen, der amerikanischen Lili Marleen. Bei uns gänzlich unbekannt, im heartland ein Volkslied, das nebenbei den Beweis erbringt, daß nicht nur Jimmy Hendrix ein außergewöhnlicher Gitarrist war. “Galveston” von und mit Glenn Campbell.

Gerhard Döring / 12.02.2022

@giesemann “Ein Gott ist der Mensch wenn er träumt.“Wäre ich etwas älter wünschte ich mir die vollbusige polnische Pflegerin die immer bei der Werbung auftaucht. So träume auch ich von klarer Exposé und der logischen Durchführung mit meinem Geld in Frieden. Herr Mattes haben Sie Nachsicht,Lili Marleen ist mir zu nuttig.

Ursula Höll / 12.02.2022

Sehr geehrter Herr Matthes, Scönheit—wie gut, daß Sie mich daran erinnert haben an diesem wunderschönen Sonntag! Für ein Empfinden dafür braucht es wohl eine starke Einbildungskraft, die imstande ist, die Erscheinungen des Lebens symbolisch aufladen zu können, so daß wir getragen werden, wenn die Probleme kommen. Arkadien - Schönheit -Hoffnung - Kraft—- Ach, ich bin das Herumnagen am Elend so leid!!!- Die wirklichkeitserzeugende Kraft dieser Vorstellungen gibt es tatsächlich,—-nicht zu vergessen ein (griechischer) Himmel, in dem gelacht wird. Wie dankbar wir eigentlich sein müßten!

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