Gastautor / 27.09.2018 / 06:20 / 50 / Seite ausdrucken

Liebes Deutschland, ich kenne Dich seit 60 Jahren…

Von Friedrun Schütze-Schröder.

Liebes Deutschland,

ich kenne dich jetzt seit sechzig Jahren. Du hast mir manchmal gefallen und mich hin und wieder irritiert, und ich muss zugeben: Aber so von Herzen wohl gefühlt habe ich mich mit Dir nie. Vielleicht liegt es an mir, wahrscheinlich sogar. Ich bin ambivalent, was Dich angeht.

Unsere erste Begegnung hatten wir 1959, ich war gerade mal fünf Jahre alt. Für mich, das kleine Mädchen aus den österreichischen Alpen, warst Du das Größte: Hagenbeck, die Ostsee (wenn auch im Nebel), U-Bahnen, Brücken zum Runterspucken auf selbige, ein Flughafen, Elbschiffe, der Michel, Kindertheater, die Nürnberger Spielzeugmesse – ich war hin und weg! 

Die Begeisterung hielt lange und erfuhr 1968 neue Nahrung. Was ich da in den österreichischen Nachrichten sah, war richtig cool: Studentenproteste, Langhaarige, Rockstars, kreischende Teenager, Aufstand allerorten. In der österreichischen Provinz aufzuwachsen war nämlich das Gegenteil von cool, und die härteste Droge, die wir kannten, war Inländer-Rum – nein, nicht der für die Touristen mit den 80 Prozent –, den mit den 38 Prozent meine ich, der in den Speisekammern herumstand und mit richtigem Rum gar nichts zu tun hatte.

Dann sind wir uns wieder persönlich begegnet: Ab 1970 lebte ich mit Dir und Du mit mir. Ich besuchte die Schule, machte Abitur und traf auf erstaunliche Phänomene: Österreich war irgendwie nicht so recht vorhanden und das Interesse an meiner Herkunft beschränkte sich auf die Aufforderung, etwas auf Österreichisch zu sagen. Ich habe mir in der Folge meinen Dialekt schneller abgewöhnt, als ein Huhn ein Ei legen kann. Dass ich als „Beutedeutsche“ bezeichnet wurde – sei‘s drum, aber dass einige der größten deutschsprachigen Dichter und Schriftsteller als Deutsche vereinnahmt wurden, hat mich geschmerzt: Kafka, Werfel, Rilke, Zweig, Walter von der Vogelweide… Was ich von zu Hause her kannte und liebte und was ohne das Wissen um die österreichische Herkunft nicht ganz zu verstehen ist, war seiner Wurzel entzogen und in einen anderen Kulturbereich verpflanzt worden. (Das machst Du übrigens heute noch und erklärst Nikolaus Lenau schnell einmal zum Deutschen… aber naja, ich verzeihe es Dir.)

Am meisten zu schaffen machte mir aber, dass bei aller Coolness auch eine gewisse Herzlosigkeit herrschte: Zwar kümmerte sich niemand um das, was ich anhatte, und die großen Rockbands traten alle in Deutschland auf, aber es war auch ein bisschen kalt und oberflächlich in diesem Land. Mir fehlten die österreichische Liebenswürdigkeit und Höflichkeit – die ich plötzlich als Verlogenheit und Hinterfotzigkeit verunglimpft sah, und auch der österreichische Grant, der wohl bei Dir auf vollständiges Unverständnis stieß. Und die Küche war – naja – für mich eher gewöhnungsbedürftig. Nein, Deutschland, Du warst nicht unfreundlich, Du warst nur so, wie soll ich sagen, hundertdreiprozentig, Du konntest alles und wusstest alles, jedenfalls, wenn man nicht zu den „Hippies“ gehörte, die gingen die Sache etwas lässiger an.

Nach dem Abitur ging ich eine Zeitlang nach Frankreich. Das Leben dort war um nichts einfacher, die Bedingungen für mich als Österreicherin sogar in rechtlichen Belangen härter, Österreich war nicht in der EWG. Trotzdem habe ich mich wohl gefühlt. Mir gefiel die Offenheit, mir gefiel es, wie man gemeinsam kochte und gemeinsam abwusch, dass man gab und nahm. Die Franzosen liebten ihr Land und waren stolz darauf; sie wussten, was Österreich war und was es ist, und mit der korsischen Dame im kleinen Laden ums Eck konnte ich über Napoleon reden. Dass ich Frankreich verlassen musste, tat weh – es hatte übrigens mit der erwähnten rechtlichen Härte zu tun. 

Noch einmal, Deutschland, versuchte ich es mit Dir. Du wolltest Kinder, ich war schwanger. Aber eine Wohnung zu finden, war schwer – kaum sahen die Vermieter meinen schwellenden Bauch, war es vorbei mit dem Mietvertrag. Nicht einmal Bruchbuden waren zu bekommen. Dabei war mein Mann Deutscher! Mir fiel nun Deine Härte zunehmend stärker auf. Verhandeln war nicht, Grautöne waren nicht, es gab viel Entweder-oder und ich nahm plötzlich eine gewisse Unbarmherzigkeit wahr, und das nicht mal so sehr im Umgang mit mir, sondern allgemein.

Also bin ich 1978 gegangen. Nein, Österreich ist kein Paradies und Wien für Zuwanderer ein hartes Pflaster, aber das Essen ist besser und die Fronten sind klarer. Seither haben wir beide ein sehr lockeres Verhältnis, Du und ich – ich besuche Dich manchmal, und ich beobachte Dich von außen. Bis vor einigen Jahren war das auch eine gute Sache, weil cool konntest Du immer noch sein. Dich von Zeit zu Zeit zu besuchen, tat sogar gut, ich konnte Deine guten Seiten genießen, ohne Deine Härten und Irrationalitäten aushalten zu müssen.

Dann begannen die Dinge sich zu verändern und jetzt erkenne ich Dich kaum wieder. Oder sollte ich besser sagen, ich erkenne Dich durchaus wieder, aber vor allem in jenen Dingen, die mich vor 40 Jahren veranlasst haben, mich von Dir zu trennen? Damals hatte mich unter anderem Dein Umgang mit den Neonazis irritiert, und ich verstehe nicht, warum die NDP nicht endlich verboten worden ist, sondern mit einer sehr erstaunlichen Begründung weiterexistieren darf. Damals hast Du mich, eine Zuwanderin, mit Herablassung behandelt, aber Du warst weit entfernt von dem, was sich heute abspielt. Als finanziell nicht besonders gut ausgestattete Fremde hatte ich keine offenen Arme zu erwarten, aber es gab auch keinen ideologischen Kampf, wie man mit unsereins richtig umzugehen hat. Ich hab halt versucht, Fuß zu fassen und nicht weiter aufzufallen, und das hat im Alltag ganz gut funktioniert. Sobald ich als Einheimische durchging, gab es keine Herablassung mehr. Großzügig warst Du nicht, aber man konnte sich auf das Recht berufen.

Damals hatte ich den Eindruck, dass es Dir auf die Einhaltung von Gesetzen ankommt, heute sehe ich, dass Du das durchaus nach Maßgabe der Situation handhabst. Lange Zeit hatte ich das Bild, dass Du Dich um Ausgleich mit Deinen Nachbarn und Partnern bemühst – heute nehme ich mit Erstaunen wahr, dass Du ausländische Präsidenten beleidigst und mit totalitären Regimes Geschäfte machst. Nicht, dass Du damit alleine stündest, aber es passt nicht so ganz zum Bild von Korrektheit, nicht wahr? Das Allerunerwartetste aber ist der politische und gesellschaftliche Zickzackkurs, den Du seit ein paar Jahren in fast allen wichtigen Themen fährst. Was soll denn letztendlich das Ziel Deiner Bemühungen sein, und wie willst Du all das Porzellan kitten, das auf dem Weg dahin zerschlagen wird?

Liebes Deutschland, musst Du das alles denn so machen? So hundertdreiprozentig? So unnachgiebig? So wenig den Zwischentönen zugewandt? So wenig liebenswürdig im Umgang? So wenig charmant? So sehr in Gefahr, Dich zu verrennen? Du kochst doch auch nur mit Wasser, wie wir alle. 

In diesem Sinne

Deine irritierte Nachbarin

Friedrun Schütze-Schröder ist Österreicherin, 1954 geboren und hat als Sozialpädagogin in Wien gearbeitet. Seit ihren jungen Erwachsenenjahren beobachtete sie die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

B.Klingemann / 27.09.2018

Die “Wiederaufbau”-Euphorie nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nahtlos von der Hippiebewegung / sexuellen Befreiung (in die Sie stießen) abgelöst. Danach kam nicht mehr viel. Es wurde verwaltet und viel gefressen und gesoffen. Die “Wiedervereinigung” war keine, weil man sich nicht unter denselben Umständen wie vor der Trennung in die Arme schloss. Der deutsche Nationalstolz hat 1945 aufgehört zu existieren. @Herr Cremer: Sie haben es - wie immer - auf den Punkt gebracht.

Robert Orosz / 27.09.2018

Ein irritierender Text. Und mit deutlich wahrnehmbaren larmoyanten Unterton. Was erwartete die gute Dame von der deutschen Gesellschaft genau? Hat Sie über Gebühr Zurückweisungen erfahren? Und selbst wenn sich diese empfundenen Ungerechtigeiten tatsächlich nationalübergreifend quantifizieren bzw. vergleichen ließen, liegen diese nicht vielmehr in der Person Friedrun S.-S. begründet als in ihrer Nationalität? Als Slowake (mit österreichischen Großeltern), der 1980 nach D emigriert ist, habe ich diese oben beschriebenen negativen Erfahrungen faktisch überhaupt nicht erlebt. Nein, vielmehr denke ich, daß es mir in der Slowakei als Slowake unter Slowaken sicherlich nicht besser ergangen wäre als hierzulande.

Udo Kemmerling / 27.09.2018

@ HaJo Wolf: Erneut volle Zustimmung! Zum Thema: Die nichtverbotene NPD als einziges erkennbares politisches Problem???? Ist auch eine Sicht auf die Dinge, wenn auch nicht die Richtige!

Werner Pfetzing / 27.09.2018

Wenn ich auf 3Sat -bevor der Spielfilm anfängt-  mal österreichische Nachrichten schaue, fällt mir immer eine gemütlich-warmherzige Gelassenheit auf, die ich im kalten und hysterisch überreizten Irrenhaus “Deutschland” vermisse. Dies ist besonders bemerkbar bei der Öko-Hysterie und dem AfD-Bashing. By the Way: Wien ist zum 9.ten Mal (!) zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt worden. Das sagt doch einiges aus !

Alexander Meyer / 27.09.2018

40 Jahre Beute - Wiener u kann dem nicht zustimmen, gerade in Sachen Freundlichkeit. Auffallend allerdings der Unterschied der pol Lage : Hier die Abwahl Grüner Weltverbesserer, dort der tgl Kampf um das Gutsein, vom Diesel übers Klima bis zum Asyli. Der Hausverstand hat auch in D noch die Mehrheit, aber wehe, wehe,wenn ich auf die Enkel sehe…

György Csonka / 27.09.2018

Österreich und Deutschland? Mir fällt der Spruch von Bruno Kreisky ein: “Wenn ich Urlaub mache, fahre ich am liebsten nach Bayern—da bin ich nicht mehr in Österreich und noch nicht in Deutschland”.

Sigrid Miller / 27.09.2018

Danke! ich knn die Betrachtung nachvollziehen, auch wenn ich erst später geboren wurde. Wir sind vor 11 Jahren von D nach Ö ausgewandert, und ich habe schon vor einiger Zeit immer wieder festgestellt, daß ich sehr froh darüber bin. Am Anfang haben wir, präpotent (habe ich in Ö gelernt) wie wir Deutschen nun einmal sind, immer gesagt, in Österreich ist der Balkan näher… da man mit Übertretungen, z.B. Schwarzbauten (im speziellen Fall ein sehr großer….) sehr konziliant umgeht…das brachte uns zum Staunen! (Typisch Deutsch, es so negativ zu formulieren ;D). Mittlerweile sind wir gut integriert, würde ich fast behaupten, uns zieht auch nichts zurück. Mein Lebensgefährte ist mittlerweile österreichischer Arbeitgeber. Ich habe mich einbürgern lassen (hat echt Geld gekostet und ich musste selbstverständlich einen Staatsbürgerschaftstest machen!) und arbeite nun an meiner Assimilation. Fleißg arbeiten und Steuern zahlen ist eh selbstverständlich. Sprachlich gelingt es schon, da mir manchmal der österreichische Begriff (Austriazismus) sofort auf der Zunge liegt, aber ich echt nach dem deutschen suchen muss! ;D Das liebe ich sehr! Leben und leben lassen, ist hier einfach deutlich zu spüren. Die Regierung muss auch schneller reagieren, weil Österreich ein kleines Land ist. Und allein die Steuerreform, die mir monatlich fast 100€ netto mehr beschert hat, ist doch in D nie gemacht worden.

Christoph Friedrich / 27.09.2018

Mozart, Haydn uva. waren Bürger des “Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation”, dessen Hauptstadt jahrhundertelang Wien war. Und nicht zu vergessen: Jener, der Deutschland zwischen 1933 und 1945 diktierte, war Österreicher, nach dem 1.Weltkrieg strebte der deutschsprachige Rest der Donaumonarchie zur Wiedervereinigung mit dem übrigen Deutschland, was aber von den Westmächten entgegen des Selbstbestimmungsrechtes der Völker verhindert wurde, und 1938 wurde die durchgeführte Wiedervereinigung von den meisten Österreichern freudig begrüßt (zumal der damalige Reichskanzler ja Österreicher war). Die (geistige) Trennung zwischen den beiden deutschsprachigen Bundesrepubliken begann erst nach dem 2.Weltkrieg. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Buch zur Fußballweltmeisterschaft 1966, in dem noch deutlich die Nähe der beiden deutschsprachigen Bundesrepubliken beschrieben wurde. Außerdem: Zwischen Norddeutschen, Berlinern, Sachsen, Westfalen, Badenern, Schwaben, Baiern, Tirolern, Salzburgern, Kärntnern, Burgenländnern, Wienern usw. gibt es schon einige Unterschiede, die mit den Staatsgrenzen ziemlich wenig zu tun haben.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Gastautor / 17.04.2024 / 13:00 / 15

Islamismus: Täter und Wohltäter

Von Sam Westrop. Die globale islamistische Wohltätigkeitsorganisation Islamic Relief arbeitet mit hochrangigen Hamas-Beamten zusammen, darunter der Sohn des Terroristenführers Ismail Haniyeh. Während Mitglieder des Europäischen Parlaments im Januar…/ mehr

Gastautor / 16.04.2024 / 06:00 / 203

Doch, es war alles falsch!

Von Andreas Zimmermann. Wir brauchen eine Aufarbeitung der Corona-Jahre, bei der eben nicht diejenigen das Sagen haben, die die Verantwortung für die Verheerungen dieser Zeit…/ mehr

Gastautor / 13.04.2024 / 15:00 / 6

Aufbau eines menschenwürdigen Gazastreifens (2)

Von Daniel Pipes. In Live-Interviews auf Al Jazeera und in anderen arabischen Medien machen immer mehr Bewohner des Gazastreifens ihrer Abneigung gegen die Hamas Luft.…/ mehr

Gastautor / 06.04.2024 / 14:00 / 13

Der Westen muss Geiselnehmer ächten – nicht belohnen

Von Michael Rubin. US-Präsident Joe Biden erlaubt es der Hamas, Geiseln als Druckmittel für Zugeständnisse Israels einzusetzen. Diese Haltung ist inzwischen eher die Regel als die Ausnahme,…/ mehr

Gastautor / 02.04.2024 / 06:25 / 60

„Traditional Wife“: Rotes Tuch oder Häkeldecke?

Von Marie Wiesner. Der „Tradwife“-Trend bringt die Verhältnisse zum Tanzen: Junge Frauen besinnen sich auf das gute alte Dasein als Hausfrau. Irgendwo zwischen rebellischem Akt und Sendungsbewusstsein…/ mehr

Gastautor / 01.04.2024 / 14:00 / 11

Neue Trans-Kinder-Leitlinie: Konsens statt Evidenz

Von Martin Voigt. Trans-Ideologie ante portas: Der neuen Leitlinie zur Behandlung minderjähriger Trans-Patienten mangelt es an wissenschaftlicher Evidenz. Sie ist nun eine "Konsens-Leitlinie". Pubertätsblocker, Hormone…/ mehr

Gastautor / 30.03.2024 / 14:00 / 6

Islamische Expansion: Israels Wehrhaftigkeit als Vorbild

Von Eric Angerer. Angesichts arabisch-muslimischer Expansion verordnen die westlichen Eliten ihren Völkern Selbstverleugnung und Appeasement. Dabei sollten wir von Israel lernen, wie man sich mit…/ mehr

Gastautor / 30.03.2024 / 06:15 / 44

Wer rettet uns vor den Rettern?

Von Okko tom Brok. Seit der deutschen Einheit ist Deutschland von einem eigenartigen „Rettungsfieber” befallen. Jeder Rettung korrespondierte dabei eine „Wende”. Beide Begriffe wurden dabei…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com