Im vergangenen Dezember ermordete der 22-jährige türkische Polizist Mevlut Altintas den russischen Türkei-Botschafter Andrej Karlow bei einer Ausstellungseröffnung in Ankara. Er rief nach übereinstimmenden Presseberichten „Allahu Akbar“ und auf Arabisch „Vergesst Syrien nicht“. Sowie, auf Türkisch, „Die sich zum Dschihad bekennen.“ Ein Foto, das den gestikulierenden Attentäter vor seinem niedergeschossenen Opfer zeigt, in der rechten Hand die Tatwaffe, ging durch viele Medien.
Dieses Bild, aufgenommen von einem kaltblütigen türkischen Fotografen, der für die Nachrichtenagentur AP bei der Ausstellungseröffnung zugegen war, erhielt jüngst die begehrte Auszeichnung „World Press Photo“ für das beste Weltpressefoto (hier) des vergangenen Jahres. Der Preis, alljährlich von einer Amsterdamer Stiftung ausgelobt und mit 10.000 Euro dotiert, ist eine Art „Oscar“ für Bildjournalisten. Tausende bewerben sich mit ihren Arbeiten, wenige kommen aufs Treppchen.
Die Entscheidungen der Jury sind, versteht sich, selten unumstritten. Die seit 1955 gekürten Fotos bildeten oft Szenen aus Kriegs- und Krisengebieten ab. Einige lagen jenseits dessen, was Ausstellungsflaneuren mit „Zeit“-Abo, Nespresso-Maschine und Wellnessgrundversorgung noch erträglich erscheint. In der Lichtbildnerzunft grassierte der zynische Scherz: Wenn auf deinem Bild nicht wenigstens einem Menschen irgendein Körperteil fehlt, dann brauchst du es gar nicht erst bei World Press einzureichen.
Vor zwei Jahren schaffte es jedoch – Novum! - das stille Bild eines schwulen Paares im homophoben Russland auf die oberste Treppenstufe.
Bilder womöglich, welche von „Zivilcourage“ künden?
Peter-Matthias Gaede, ein sehr guter Schreiber und gefühlt (zumindest für einen ehemaligen Stern-Autor wie mich, der nie für ihn arbeiten musste) noch viel besserer Mensch, von 1994 bis 2014 Chefredakteur des Magazins „Geo“, hält die aktuelle Preisvergabe für falsch. Als Begründung schreibt der langjährige Doyen des hochbezahlten und hochglänzenden Nannyjournalismus, das Bild sei „ein Rückfall in die spezifische Erotik der Kopf-ab-Bilder“.
Die Jury hätte „Alternativen gehabt“. Weil: „Den Hass in unserer Zeit“ hätten andere Fotos, etwa solche von geschundenen Kindern in syrischen Städten, „eindrücklicher“ gezeigt. Lieber als die hasserfüllte Fratze eines offenbar islamistisch gepolten Killers hätte Gaede zum Beispiel ein Bild „von den um ihr Überleben kämpfenden Flüchtlingen in den Fluten des Mittelmeers“ gesehen.
Eine alternative, völlig legitime Blickwinkelbevorzugung. Wer auf der Welt möchte seine Welt schon gerne sonderlich anders betrachten, als diese ihm selber vorschwebt?
Warum, fragt daher der Mann, dessen grüne „Geo“-Hefte über viele Jahre vom Rauchtisch der Sozialkundelehrerin nicht wegzudenken waren, „müssen wir zu den Protagonisten unserer Zeit die Mörder machen?“ Ja, gibt es verdammt noch eins nicht Bilder, die als „Symbolfotos unserer Zeit“ (Gaede) schöner taugen als solche von todesverliebten Gottistgroß-Schreiern? Bilder womöglich, welche von „Zivilcourage“ künden?
Erst nach wunderbaren Poesieschleifen auf den Punkt
Ex-Chefredakteur Gaede, quasi ehrenamtlich noch immer gewiefter Lieferant bunter Lesefrüchte für das Justemilieu, bringt dazu einen Vorschlag ein. Hier nachzulesen in gebotener Länge, weil die Passage erst nach wunderbaren Poesieschleifen zu jenem Punkt kommt, auf den gegenwärtig alles Gutmeinende hinausläuft.
Spot on:
„Die Zivilcourage und den Mut und den Stolz jener farbigen 28-jährigen us-amerikanischen Krankenschwester Ieshia Evans etwa, die sich allein auf einer Straße in Louisiana für ‚black life matters’ einsetzt. Die in einem Sommerkleid da steht und demonstrativ ihre Hände reicht, auf dass sich Fesseln um sie legen, während drei martialisch hochgerüstete Polizisten auf sie zustürmen (siehe hier), im Hintergrund eine Phalanx von Polizei-Kriegern, wie sie Donald Trump gefallen würde.“
Ganz großes Bürgerrechtskino! Demnächst, darf man nach dieser Kopfwäsche hoffen, auch im World-Press-Theater. Der Qualitätsfotojournalismus ist groß! Vergesst nicht Adolf Trump!