Wie ich zu einem radikalen Verteidiger der Meinungsfreiheit wurde.
Am 21. Januar 2010 ging ich mit meiner Frau durch Köln spazieren. Am Dom entdeckten wir einen Rentner, der dort eine Galerie aufgestellt hatte, an der er den Passanten unter anderem eine Karikatur zeigte, auf der ein Jude zu sehen war, der ein Kind aß und sein Blut trank. Ich war von der Karikatur so entsetzt, dass ich sofort die Polizei anrief und eine Anzeige wegen des Verdachts auf Volksverhetzung nach § 130 StGB stellte.
Die Kölner Staatsanwaltschaft entschied jedoch, dass die Karikatur nicht antisemitisch sei, da die dargestellte Person auf der Karikatur nicht als Jude erkennbar sei, weil sie keine „Krummnase“ habe. Unglaublich, aber wahr, die Staatsanwaltschaft erklärte tatsächlich:
„Typisch für antijüdische Bilddarstellungen zu allen Zeiten ist die Verwendung von bestimmten anatomischen Stereotypen, die den Juden schlechthin charakterisieren sollen. Dabei werden insbesondere Gesichtsmerkmale überzeichnet, um den Juden als hässlich, unansehnlich und rassisch minderwertig erscheinen zu lassen (jüdische ‚Krummnase‘, etc.). Einer solchen Bildsprache wird sich vorliegend nicht bedient.“
Die Kölner Staatsanwaltschaft entschied: Wo keine Krummnase, da kein Jude! Es war das erste Mal, dass mich arge Zweifel plagten, ob der Staat das Recht haben sollte, die Meinungsfreiheit einzuschränken.
Der Rentner vor dem Kölner Dom tat sich bis zu seinem Tod im Jahr 2016 immer wieder mit hasserfüllten Aussagen hervor. An seiner Galerie behauptete er zum Beispiel, das israelische Volk erpresse bereits seit Jahrhunderten die Welt, womit er klar machte, dass er nicht das Volk des Staates Israel meinte, das es schließlich erst seit dem Jahr 1948 gibt, sondern das israelische Volk, das es bereits seit Jahrhunderten gibt: Juden. Zudem verglich der Rentner Israel mit Hitler und behauptete: „Wie früher die Deutschen mit den Juden – so heute die Israelis mit den Palästinensern.“
Völkermord an Juden als legitimer Widerstand?
Da die Holocaustleugnung und die Billigung, Leugnung und Verharmlosung des Nationalsozialismus laut § 130 StGB ebenfalls eine Straftat ist, erstattete ich aufgrund dieser Parolen erneut Anzeige, da die Behauptung, die Nazis damals seien so gewesen wie die Israelis heute, eine klare Verharmlosung des Holocausts darstellt. Wieder entschied die Kölner Staatsanwaltschaft, bei der Aussage handele es sich um erlaubte Kritik am Staat Israel:
„Ferner bleibt entscheidend zu berücksichtigen, dass im Falle einer Mehrdeutigkeit des Erklärungsgehalts solange nicht von einer allein strafrelevanten Deutung auszugehen ist, bis andere Deutungsmöglichkeiten auszuschließen sind.“
Die Zweifel, ob der Staat das Recht haben sollte, die Meinungsfreiheit einzuschränken, wuchsen.
Im Jahr 2014 erklärte der Rentner schließlich den Völkermord an Juden als legitimen Widerstand, indem er titelte: „HAMAS = Volks-Widerstand“. Mehrere Menschen erstatteten daraufhin Anzeige. Eine Anzeige las sich wie folgt:
„Die Hamas fordert meinen Tod! Artikel 7 der Gründungscharta der Hamas fordert den Tod aller Juden weltweit, also auch in Deutschland. Das ist der Grund, warum die Hamas in Deutschland als Terrororganisation eingestuft wird. Ich bin Jüdin! Die Hamas fordert meinen Tod. Vor dem Kölner Dom wird diese Forderung als legitimer Widerstand verharmlost. Ich erstatte daher Strafanzeige. Solange vor dem Kölner Dom der Aufruf zum Judenmord als Widerstand bezeichnet wird, werde ich in Köln als Jüdin beleidigt, bedroht und verfolgt.“
All diese Anzeigen wurden von der Kölner Staatsanwaltschaft abgelehnt, und meine Zweifel am Recht des Staates, die Meinungsfreiheit einzuschränken, wuchsen zur Gewissheit.
Die Narrenfreiheit reichte weit
Am 9. Juli 2011 rief ich bei der Polizei an, weil der Rentner seine abscheulichen Parolen an Laternen vor dem Kölner Dom befestigt hatte – niemand hat das Recht, wild zu plakatieren, schon gar nicht mit politischen, propagandistischen und aufstachelnden Plakaten. Die Polizei erklärte mir, dass das Ordnungsamt zuständig sei. Dort erklärte mir eine Dame, dass Wildplakatieren verboten sei. Daraufhin schlug ich vor, zum Domkloster 4 zu kommen, da dort seit Jahren nahezu täglich politische und anti-israelische Vorurteile verbreitet würden. Die Dame erklärte mir, dass momentan keine Kapazitäten frei seien, da das Ordnungsamt damit beschäftigt sei, „wild grillende“ Menschen zu entfernen. Ich rief also wieder bei der Polizei an und berichtete, dass das Ordnungsamt nicht tätig werden könne, worauf die Polizei erklärte, dann doch mal einen Wagen vorbeizuschicken. Vor Ort wurde mir erklärt, dass die Plakate des Rentners an den Laternen toleriert werden. Die Polizei sagte: „Er genießt hier nun mal Narrenfreiheit. Er wird toleriert!“
Die Narrenfreiheit des Rentners reichte weit. In einem Flugblatt, das er im April 2013 vor dem Kölner Dom verteilte, bezeichnete er mich als „kriminellen Israel-Lobbyisten“ und holte weit aus gegen mich. Eine Anzeige meinerseits endete am 12. Februar 2014 vor dem Kölner Amtsgericht mit der Entscheidung, dass ich als „krimineller Israel-Lobbyist“ bezeichnet werden dürfe, da dies zulässige Kritik sei.
Vor zehn Jahren konnte die Polizei keine Bekundungen des Hasses gegen den Staat Israel entfernen, aber sie war damals durchaus in der Lage, Bekundungen der Solidarität mit Israel zu unterbinden. Hier ein paar Beispiele aus der damaligen Zeit: Bei einer Demonstration vor dem Hauptbahnhof am 27. März 2011 entfernte die Berliner Polizei eine Israelfahne und nahm zwei Menschen in Gewahrsam, weil sie sich weigerten, ihre friedliche Solidaritätsbekundung mit Israel zu unterlassen.
„Das war keine ungefährliche Situation“
Im Januar 2009 stürmten Einsatzkräfte in Duisburg eine private Wohnung in Abwesenheit der Mieter, um eine Israel-Flagge aus dem Fenster zu entfernen, da eine aufgeputschte Meute von israelfeindlichen Judenhassern auf der Straße den Anblick eines blauen Davidsterns nicht ertragen konnte und in guter alter Tradition deutscher Pogrome damit begonnen hatte, das Fenster mit Steinen zu bewerfen. Die Polizei hätte zwar dafür sorgen können, dass die Meute mit ihrer Gewalt aufhört, aber stattdessen stürmte sie die Wohnung und machte somit die Mieter der Wohnung nicht nur zu Opfern der Judenhasser, sondern gleich auch zu Opfern des deutschen Staates. Wieder einmal kapitulierte der deutsche Staat vor dem Terror der Sturmtruppen auf der Straße.
Im selben Monat fand in Bochum eine Demonstration von über 1.500 Personen gegen den Staat Israel statt, zu der vier Moscheegemeinden aufgerufen hatten. Im Zuge dieser Demonstration wurden Parolen wie „Kindermörder Israel“, „Stoppt den Holocaust in Gaza“ und „Terrorist Israel“ laut. Alles schien darauf hinauszulaufen, dass gleich jemand eine Israel-Flagge verbrennt. Als jedoch eine Studentin die Israel-Flagge herausholte und nicht verbrannte, sondern stolz schwenkte, leitete die Staatsanwaltschaft später ein Strafverfahren gegen die Studentin ein, das mit einer Geldstrafe von 300 Euro endete. Die Richterin hielt der Angeklagten vor: „Das war keine ungefährliche Situation, die Sie geschaffen haben.“
Dieser Satz der Richterin sowie die Aktionen der Polizei gegen Menschen, die Israel-Fahnen zeigen, haben mich zum radikalen Verfechter der Meinungsfreiheit gemacht. Der Staat darf einfach keine Zensur üben, auch nicht für einen vermeintlich guten Zweck, denn es trifft die Falschen. Nicht das Werfen von Steinen gegen ein Fenster mit Davidstern wird unterbunden, sondern das Zeigen der Israel-Flagge.
Die Gesetze schützen niemand
Die Erklärung der Solidarität mit Israel wird in Deutschland unterbunden, nicht aber der Ruf: „Tod den Juden! Adolf Hitler!“ Diese Parolen wurden auf einer Demonstration gebrüllt, die im Sommer 2014 in Essen stattfand. Dort wurden Hakenkreuze in Davidsternen gezeigt, vom „Judenterror“ gefaselt und sogar behauptet, Juden seien „früher angeblich Opfer“ gewesen, ganz so, als habe es den Holocaust niemals gegeben. Die Polizei schaute bei all dem zu. Am selben Tag interviewte der WDR-Journalist Stefan Göke die Polizistin Tanja Hagelüken. Sie wusste von einer friedlichen Demonstration zu berichten, und Stefan Göke fügte hinzu:
„Es hat keine Anzeichen dafür gegeben, dass sich Extremisten unter diese Demonstration gemischt haben, also weder von islamistischer Seite auf der einen Seite, noch von Rechtsextremen, die das Ganze nutzen konnten, um ihren Hass auf das Judentum oder auf Israel kundzutun. Das ist jedenfalls alles nicht passiert. Und bisher ist alles ein bisschen brisant, aber durchaus friedlich.“
Während Stefan Göke im WDR diese Worte in die Kamera sprach, hielt ein Demonstrant direkt hinter ihm ein Plakat hoch, auf dem stand: „Israel = Terrorist“. Stefan Göke hätte sich nur umdrehen müssen, und er hätte gemerkt, dass er Unfug redet! Im Sommer 2014 schallten die schlimmsten Parolen gegen Juden über deutsche Straßen: „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein!“ „Juden ins Gas!“ „Scheiß Jude, brenn!“
Wenn ich mir all die Gesetze, die die Meinungsfreiheit in Deutschland einschränken, anschaue, muss ich feststellen, dass all diese Gesetze nicht schützen. Sie schützen mich nicht davor, als Schwein bezeichnet zu werden, und sie schützen Juden nicht davor, dass ihre Vernichtung als „Widerstand“ verharmlost wird. Stattdessen verbieten diese Einschränkungen das Zeigen der Fahne Israels. Daher bin ich nun Mitglied im Artikel-5-Club. Dieser Club kennt nur eine Aufnahmeregel: Verteidige das Recht einer Person, deren Meinung du verabscheust, ihre Meinung zu sagen. Es darf jedoch keine Meinung sein, die du nur blöd findest oder bei der du lediglich eine andere Meinung hast; nein, es muss eine Meinung sein, die dein Blut zum Kochen bringt. Die Meinung muss dich richtig anekeln und dir Angst machen.
Ich möchte mit einem Nazi nicht plaudern
Oft höre ich, Meinungsfreiheit schließe keine Hassreden und Falschaussagen ein, aber genau das tut sie. Es ist die exakte Definition von Meinungsfreiheit, dass auch falsche Meinungen geäußert werden dürfen. Es gibt kein Zuviel an Meinungsfreiheit. Entweder gibt es Meinungsfreiheit oder es gibt sie nicht. So einfach ist das! Es gibt jedoch ein Zuviel an Angst und ein Zuviel an Beleidigtsein. Gegen Meinungen, die schmerzen, mögen sie nun schmerzen, weil sie wahr sind oder weil sie unwahr sind, hilft als Sofortmaßnahme ein einfaches Weghören und auf längere Sicht die Gegenrede als zivilisierte Form der Verteidigung.
Wer glaubt, ein Mensch sei eine Gefahr, weil er spricht, glaubt auch, eine Frau sei eine Gefahr, wenn sie ohne Verschleierung aus dem Haus geht. Die Zensur ist für die Redefreiheit das, was der Schleier für die Rechte der Frau ist. Jede Frau darf selbst entscheiden, ob sie einen Schleier tragen möchte, so wie jeder Mensch selbst entscheiden darf, ob und wozu er schweigen will. Es darf keinen Zwang geben, weder für den Schleier noch für den Mantel des Schweigens. Meinungsfreiheit gilt auch für die Hassrede. Sonst müsste der Koran schon längst verboten worden sein.
Stellen Sie sich einfach einmal vor, Sie gingen in eine Kneipe, und dort säße ein Mann mit einem Hakenkreuz am Revers. Sie würden denken: „Oh, ein Nazi, dem gebe ich kein Bier aus.“ Jetzt stellen Sie sich aber vor, er trüge dieses Hakenkreuz nicht, weil es verboten ist. Sie würden sich vielleicht hinsetzen, sich vorstellen, und er würde Sie nicht mit „Heil Hitler“ begrüßen, weil das unter Hassrede fällt. Sie würden ein wenig plaudern, dabei das ein oder andere Bier trinken, vielleicht sogar ein Bier ausgeben, bis das Gespräch auf ein Thema fällt, bei dem Sie plötzlich merken: „Scheiße, ein Nazi!“ Dann aber ist es zu spät. Sie haben ihm bereits ein Bier ausgegeben. Alles nur, weil ein Verbot des Hakenkreuzes und des Sagens von „Heil Hitler“ Sie daran gehindert hat, den Mann sofort als das zu erkennen, was er ist. Ich weiß lieber, wie jemand drauf ist, bevor er zur Tat schreitet. Außerdem möchte ich mit einem Nazi nicht plaudern. Mit einem Nazi möchte ich ausnahmslos Klartext reden oder ihn blockieren. Um aber entscheiden zu können, ob ich jemanden ignorieren oder blockieren möchte, muss ich ihn zunächst erkennen können.
Meinungsfreiheit ist nicht das Problem
Reden lassen und Zuhören ist ein präventiver Schutzmechanismus. Nur so lerne ich das Innere eines Menschen kennen und kann rechtzeitig entscheiden, ob ich mich vor ihm schützen sollte. Meinungsfreiheit nutzt dem Gehassten immer mehr als dem Hassenden. Internetseiten zu löschen, im Glauben, man würde dadurch etwas verhindern, ist so produktiv wie Bücher zu verbrennen. Das Verbieten von Meinungen ist ein Präventivschlag, ein Kampf gegen eine Zukunft, die aus der eigenen Angst konstruiert wurde. Wer Meinungen verbietet, nimmt andere Menschen als Geisel der eigenen ängstlichen Vermutung. Diese Angst ist die Wurzel des totalitären Denkens, das Gewalt über Gedanken als Präventivschlag ermöglicht.
Das Problem ist nicht die Meinungsfreiheit, sondern der Wille der Hassenden, die Meinungsfreiheit mit Gewalt abzuschaffen. Gedanken verschwinden jedoch nicht, nur weil sie nicht mehr gesprochen werden. Der Mensch, der in den Augen eines anderen Menschen ein Schwein ist, bleibt für ihn ein Schwein, auch wenn er es nicht mehr sagen darf. Das Messer in der Hose eines Mannes verschwindet nicht, wenn ihm der Mund verboten wird. Die Nazis wurden groß in einer Welt, in der es kein Internet gab. Meinungsfreiheit ist somit nicht das Problem, im Gegenteil: Eine der ersten Aktionen der Nazis, nachdem sie die Macht dazu bekommen hatten, bestand darin, Meinungen zu kriminalisieren und Kunst zu verbieten.
Deshalb ist ein Staat, der Zensur übt, immer schlimmer als ein Wüterich, der menschenfeindlichen Stuss redet.
Auch Andere äußerten sich zur Kölner Klagemauer:
„Mittlerweile ist die „Klagemauer“ [...] zu einem Instrument einseitiger und verbohrter Kritik an Israel verkommen...Egal, was man von der Politik Israels hält – Antisemitismus und Rassismus dürfen und wollen wir nicht dulden.“ (Antwort der Grünen Köln auf einen offenen Brief)
Deutschlandfunk Kultur schrieb:„...das, was Herrmann dort auf seinen Papptafeln zur Schau stellt, ist alles andere als von Pappe: Es ist jede nur vorstellbare Hetze gegen den Staat Israel und seine Bürger. Auf einer – perfiderweise auch noch „Klagemauer“ benannten – 20 Quadratmeter großen Installation wird Israel als blutrünstiges, mordendes Monster dargestellt, das nicht nur die Palästinenser misshandelt, sondern auch eine Gefahr für den Weltfrieden darstellt.“
Hier noch zwei Fundstücke auf der Achse zu Walter Herrmann aus den Jahren 2010 und 2011.
Gerd Buurmann. Als Theatermensch spielt, schreibt und inszeniert Gerd Buurmann in diversen freien Theatern von Köln bis Berlin. Er ist Schauspieler, Stand-Up Comedian und Kabarettist. Im Jahr 2007 erfand er die mittlerweile europaweit erfolgreiche Bühnenshow „Kunst gegen Bares“. Mit seinen Vorträgen über Heinrich Heine, Hedwig Dohm und den von ihm entwickelten Begriffen des „Nathan-Komplex“ und des „Loreley-Komplex“ ist er in ganz Deutschland unterwegs. Seit April 2022 moderiert er den Podcast „Indubio“ der Achse des Guten. Sein Lebensmotto hat er von Kermit, dem Frosch: „Nimm, was Du hast und flieg damit!“