In einer Zeit der politischen (und sonstigen) Platituden und Sprechblasen drängt es mich manchmal, einen Blick zurück zu werfen, getreu einem Satz des hochverehrten Winston Churchill: “The farther backward you can look, the farther forward you can see” (Je weiter du in die Vergangenheit blicken kannst, desto weiter kannst du in die Zukunft sehen). Bei diesem Blick in die Vergangenheit bin ich auf den französischen Publizisten (wie wir ihn heute nennen würden) und Politiker Alexis de Tocqueville (1805-1859) gestoßen, der von sich selbst gesagt hat: „Ich bin als Denker mehr wert denn als Täter; und wenn jemals etwas von mir in dieser Welt übrig bleiben sollte, so wird es eher die Spur dessen sein, was ich geschrieben habe, als die Erinnerung an das, was ich politisch geleistet habe.“ In dieser Selbsteinschätzung kommt die gleiche analytische Klarheit und Treffsicherheit zum Ausdruck wie in seinen Werken, von denen « De la démocratie en Amérique » (Über die Demokratie in Amerika) wohl das bekannteste ist (vgl. dazu die Anmerkungen von Klaus Harpprecht ).
Seine publizistische Vorgehensweise beschreibt Tocqueville so: „Ich studiere, ich versuche, ich bemühe mich, die Tatsachen so genau als möglich zu fassen, ihnen auf den Leib zu rücken, um aus ihnen die allgemeinen Lehren herauszupressen, die sie enthalten.“ Das hätte durchaus auch eine politische Leitlinie sein können, die der erste SPD-Vorsitzende der Nachkriegszeit, Kurt Schumacher, etwas schlichter so ausgedrückt hat: „Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit“. Seither ist diese Sicht auf die Dinge immer mehr durch eine ideologische Betrachtungsweise verdrängt worden, bis hin zum „postfaktischen“ Zeitalter, in dem wir uns – angeblich oder tatsächlich – gegenwärtig befinden.
Wie wohltuend und modern ist dagegen diese Erkenntnis Tocquevilles: „Eine der glücklichsten Konsequenzen der Abwesenheit einer Regierung ist das Reifen der individuellen Stärke ... Jedermann lernt für sich selbst zu denken und zu handeln, ohne mit der Unterstützung durch eine äußere Macht zu rechnen, die, so wachsam sie auch immer sein mag, niemals allen Bedürfnissen der Menschen in einer Gesellschaft gerecht werden kann.“ Diesen Gedanken möchte ich als mein politisches Glaubensbekenntnis bezeichnen. Ich war begeistert, es bei einem Mann wie Tocqueville bereits 1831 zu finden. Das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit hat ihn sein Leben lang beschäftigt. „Die Freiheit ist die erste meiner Leidenschaften“, bekannte er einmal. Als Prinzip der „Subsidiarität“ findet sich der Tocqueville’sche Gedanke immer noch im dritten Grundsatzprogramm der CDU von 2007:
„14. Freiheit ermöglicht und braucht die eigenverantwortliche Lebensgestaltung. Deshalb ist das gesellschaftliche Leben nach dem Prinzip der Subsidiarität zu ordnen: Was der Bürger allein, in der Familie und im freiwilligen Zusammenwirken mit anderen besser oder ebenso gut leisten kann, soll seine Aufgabe bleiben. Staat und Kommunen sollen Aufgaben nur übernehmen, wenn sie von den einzelnen Bürgern oder jeweils kleineren Gemeinschaften nicht erfüllt werden können.“
In der politischen Praxis hat die CDU-Vorsitzende Angela Merkel diesen Grundsatz allerdings mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.
Und als hätte er schon geahnt, was die Linksideologen uns eines Tages bescheren würden, schrieb Tocqueville: „Es gibt in der Tat eine männliche und berechtigte Leidenschaft für die Gleichheit; alle wollen gleich stark und geachtet sein. Diese Leidenschaft erhebt wohl die Niedrigen zum Range der Höheren; aber wir finden im menschlichen Herzen auch einen verderbten Gleichheitstrieb, der bewirkt, dass die Schwachen die Starken zu sich herunterziehen wollen und dass die Menschen die Gleichheit in der Knechtschaft der Ungleichheit in der Freiheit vorziehen.“
Keine Revolution hält ihr Versprechen
Da sehe ich förmlich die Direttissima zu Friedrich August von Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“ (The Road to Serfdom, März 1944 erschienen), das dieser „Den Sozialisten in allen Parteien“ gewidmet hat – noch so ein weitsichtiges Aperçu.
Und Tocqueville schreibt weiter: „Die Demokratie erweitert den Bereich der Unabhängigkeit des Individuums, der Sozialismus verengt ihn. Die Demokratie verleiht jedem Menschen seinen höchstmöglichen Wert, der Sozialismus macht aus jedem Menschen einen Beamten, eine Nummer. Demokratie und Sozialismus hängen nur mit einem Wort zusammen: Gleichheit. Aber achten Sie auf den Unterschied: Demokratie will Gleichheit in der Freiheit, Sozialismus will Gleichheit im Zwang, in der Knechtschaft.“
Wenn der Gute heute auf sein Vaterland und dessen Nachbarn schauen würde, es würde ihn grausen, was die „politischen Eliten“ daraus gemacht haben. Da ist von den Gedanken Tocquevilles nur noch wenig zu spüren, von seinem Bekenntnis: „Der Freiheit in der politischen Welt kommt die gleiche Bedeutung zu wie der Atmosphäre in der physikalischen.“
Auch die Feststellung von Tocqueville, dass es keine Revolution gebe, „die nicht unendlich mehr verspricht, als sie hält“, ist durch die Erfahrungen in der Sowjetunion und ihren Vasal-lenstaaten eindrucksvoll belegt und von Ladislav Mňačko in seinem Roman „Wie die Macht schmeckt“ ebenso beschrieben worden. Den Grund dafür hat kein Geringerer als Karl Marx benannt: „Alle Revolutionen haben bisher nur eines bewiesen, nämlich, dass sich vieles ändern lässt, bloß nicht die Menschen.“
Und auch die folgende Beobachtung Tocquevilles bestätigt sich letztlich immer wieder: „Der wahre Grund, die eigentliche Ursache, welche Männer der Macht verlustig gehen lässt, ist der: sie verlieren sie, wenn sie unwürdig geworden sind, sie zu tragen.“ Mögen sich auch die meisten eine Zeitlang sträuben, am Ende haben sie alle die Waffen gestreckt, ob sie nun Nixon, Filbinger oder zu Guttenberg hießen (um nur ein paar herauszugreifen). Tocqueville hat entsprechend den Gegebenheiten seiner Zeit nur von Männern gesprochen. Heute sind natürlich auch Frauen gemeint. Die „begnadete Strategin“ (Michael Wolffsohn) Angela Merkel hat es bisher allerdings immer geschafft, trotz mehrfacher Verletzung ihres Amtseides und diverser Rechtsbrüche oben zu bleiben. Seit den erhellenden Beiträgen von Günter Keil auf der Achse wissen wir auch warum: Als Physikerin ist sie offenbar in der Lage, die Gesetze der Physik, wie beispielsweise die Fallgesetze, ungestraft zu ignorieren.