Georg Etscheit / 29.11.2020 / 16:00 / Foto: PIxabay / 20 / Seite ausdrucken

Liebe Abgeordnete, schlagt Euch doch!

Meine Mutter selig, inspiriert von der robusten „Kinderladen“-Pädagogik der siebziger Jahre und eigenen psychotherapeutischen Studien, empfahl uns Kindern zum Schrecken des Vaters, allfällige Konflikte „auszutragen“. Statt, wie es fürsorgliche Mütter gemeinhin tun, auf Sanftmut und Mäßigung unter den Blagen hinzuwirken, versuchte sie uns mit der Aufforderung „Schlagt Euch doch“ zu Handgreiflichkeiten zu animieren. Aggressionen, so ihr Credo, dürfe man nicht unterdrücken, man müsse ihnen freien Lauf lassen. Ihr war es höchst suspekt, dass mein älterer Bruder und ich keinerlei Neigungen erkennen ließen, uns gegenseitig eine blutige Nase zu verpassen oder uns an Schulhofkeilereien zu beteiligen. Wir setzten schon früh auf die Kraft des Wortes.

Manchmal wünsche ich mir allerdings, dass Claudia Roth in ihrer Eigenschaft als mutmaßlich reformpädagogisch versierte Bundestagsvizepräsidentin auch einmal „Schlagt Euch doch“ ins Bundestagsplenum hineinriefe und eine Massenschlägerei ausbräche, wie sie nicht erst nach der jüngsten Bundestagsdebatte über mutmaßlich von der AfD eingeschleuste „rechte“ Störer längst fällig und in anderen Ländern an der Tagesordnung ist. 

Warum sollen sich Abgeordnete im „Hohen Haus“ eigentlich nicht gegenseitig eine schmieren, sich die Corona-Masken vom Gesicht zerren, an Anzugjacken, Hemden und Röcken reißen, sich im Angesicht der, anders als ihr aggressiverer Vorgänger allzu lieb schauenden Bundestagshenne, lustvoll raufen, in die Wadln beißen, an den Haaren ziehen und demonstrativ Redemanuskripte zerreißen wie Nancy Pelosi? Solch ein reinigender Tumult liegt doch in der Luft, seit die AfD in den Bundestag eingezogen ist und der übergroßen Koalition der Sanft- und Einmütigen ein Ende bereitete.

Taiwan vor der Ukraine und Südkorea

Andere Länder sind uns da um Längen voraus. Einer 2012 an der Hertie School of Governance in Berlin entstandenen Studie zufolge – neuere Zahlen liegen dem Autor nicht vor – rangierte Taiwan bei der Zahl von Gewaltausbrüchen in Nationalparlamenten ganz vorne, gefolgt von der Ukraine, Südkorea, Italien, Russland und Indien. Die Mittel, auf den politischen Gegner einzuwirken, sind vielfältig und entsprechen oft landesüblichen Gepflogenheiten. So bedienen sich südkoreanische Politiker auch im Parlament der Judowurftechnik, während ukrainische Politiker (Klitschko!) den Faustkampf bevorzugen. In Jordanien soll sogar einmal ein Abgeordneter eine Kalaschnikow mit ins Plenum genommen haben, um die politischen Gegner einzuschüchtern. 

Zum Arsenal gewalttätiger Mandatsträger zählen darüber hinaus Stinkbomben, Tränengasgranaten, Eier, Wasserspritzflaschen und – Blumensträuße: In der Ukraine versuchte ein Mann, den damaligen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenuk mit einem Trick aus dem Plenarsaal zu entfernen. Er marschierte mit einem Blumenstrauß ans Rednerpult, übergab das Bukett aber nicht, sondern hob stattdessen den Regierungschef hoch und versuchte ihn wegzutragen, was ihm jedoch nicht gelang, weil sich Jazenuk am Rednerpult festklammerte. In Taiwan kam erst jüngst ein mit Wasser gefüllter Ballon zum Einsatz (http://www.parliamentfights.com).

In der Geschichte der Bundesrepublik gab es bislang nur eine einzige Parlamentsschlägerei, im März 1950. Der Tumult ereignete sich aber nicht im Plenarsaal, sondern im Bundestagsruheraum, wohin sich der wegen einer verbalen Entgleisung aus dem Plenum ausgeschlossene Abgeordnete Wolfgang Hedler, ein früheres NSDAP-Mitglied, zurückgezogen hatte. Dort wurde er von einem SPD-Trupp unter Führung Herbert Wehners aufgespürt und aus dem Raum gedrängt, wobei er durch eine Glastür eine Treppe hinabstürzte und sich leicht verletzte. Wehners Rollkommando wurde daraufhin selbst für mehrere Tage von Bundestagssitzungen ausgeschlossen und musste Hedler nach einem von diesem angestrengten Zivilprozess ein Schmerzensgeld zahlen.

Parlamentsschlägereien ereignen sich der Studie zufolge vor allem in jungen, noch ungefestigten Demokratien oder bei knappen Mehrheitsverhältnissen. Je kleiner die Mehrheit einer Regierung, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit von Gewalt. Deutschland, so der damalige Studienautor Christoper Gandrud 2012, biete sich für Schlägereien nicht an, die Demokratie sei etabliert, das Verhältniswahlrecht sorge für eine faire Verteilung der Sitze, gesellschaftliche Spannungen seien nicht so ausgeprägt wie in vielen anderen Ländern.

Das mit den Spannungen hat sich seither ein wenig geändert, und die Debatten sind infolge der Anwesenheit einer Oppositionspartei auch schon etwas lebhafter geworden. Aber so eine richtige Bundestagsknüppelei mit Claudia Roth als Einheizerin, live übertragen, das hätte was. Dann trüge Phoenix seinen Titel als Ereigniskanal endlich einmal zu recht. 

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Sabine Heinrich / 29.11.2020

@Dirk Jungnickel und @Ulla Schneider: Köstlich!  Nanu,@Uta Buhr, Sie haben ja genauso eine tief im Innern verborgene anarchische Ader wie ich! Als ich den Beitrag von Herrn Etscheid (DANKE!!!) gelesen habe, schlug meine Phantasie etliche Purzelbäume. Warum ich ausgerechnet an die Herren Hofreiter und Altmaier im Zusammenhang mit diesem zum Leben erwachten Bundestag denken musste, kann mir wohl nur ein Tiefenpsychologe erklären! Die Frau Roth - stets beherrscht und besonnen - sehe ich schon bei ihrem erfolglosen Versuch, für Ruhe zu sorgen, als würdige Nachfolgerin vom einstigen Kremlschef Chruschtchow, der bei einer Rede im Kreml wutentbrannt mit einem seiner Schuhe aufs Rednerpult eingedroschen hat. (60er Jahre, wenn ich mich nicht irre) Um die Behandlung der Verletzten brauchen wir uns nicht zu sorgen, eilen doch umgehend per Hubschrauber die hochrangigen Ärzte Drosten, Wieler, Lauterbach und natürlich Spahn herbei. Und nun wieder ernst. @Herr Ostrowsky: Von dem Auftritt von Herrn Meuthen wusste ich nichts. Ich bin entsetzt! So kann sich nur ein U-Boot verhalten! Ich glaube (glauben ist natürlich nicht wissen), dass die AfD unterwandert wird - mit allen Mitteln. Die inneren Grabenkämpfe sind für mich völlig unverständlich - als einzige Oppositionspartei müssen die Mitglieder nach außen geschlossen auftreten - im Hinterzimmer können sie dann gern ihre Meinungsverschiedenheiten austragen. Wenn ich so etwas in Filmen sehe, denke ich immer: “Leute., die sich so verhalten (wie jetzt Herr Meuthen) werden entweder bedroht, erpresst oder haben einen gut dotierten Posten in Aussicht.” Schade, dass sich die AfD zur Freude der anderen Parteien selbst zerfleischt!

Wilfried Cremer / 29.11.2020

Ich glaube, Sie meinen, dass Claudia Roth sich eine Abreibung verdient hätte, wollen diese aber nicht selbst vollstrecken, dafür aber potentielle Interessenten behutsam animieren.

R. Reiger / 29.11.2020

Mit Quotenregel?

Robert Jankowski / 29.11.2020

Das wäre was, wenn ein Sozialarbeiter versucht den Kampf auszudiskutieren und sich eine blutige Nase holt. Daumen hoch! Die Ehre des Hauses gibt es sowieso seit ca. 25 Jahren nicht mehr.

RMPetersen / 29.11.2020

Merkwürdige Empfehlung. Dann wäre die Gewaltätigkeit der AfD nachgewiesen und dem Verbot stände nichts mehr im Wege. Ist das die Absicht?

Jörg Plath / 29.11.2020

Das sollte dann aber auch Samstagabend im ZDF oder im Ersten übertragen werden. Dann schlaf ich von den Programmen vielleicht nicht mehr ein…

Karl Mistelberger / 29.11.2020

Bei Claudia Roth muss ich immer an einen Fleisch gewordenen Mini-SUV denken.

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