Von Jesko Matthes.
Als gebürtiger Berliner liebe ich es, im Sommerurlaub vom Herrmannplatz die Sonnenallee herunter zu schlendern. Nirgends kann ich so gut Dinge essen, die es sonst nur in Marrakesch, Izmir oder Damaskus so frisch zubereitet gibt, oder in Haifa. Ja, auch in Haifa, nur dass es auf der gesamten Sonnenallee nach meiner Kenntnis nicht ein einziges israelisch bewirtschaftetes Geschäft gibt. Ich kann auch fast nirgends so frisches Obst und Gemüse kaufen oder einen gebrauchten PC für zwanzig Euro, der, mit Linux bespielt, wieder blitzschnell läuft. Das hier tippe ich auch auf so einem. Haarschnitt für einen Mann? Ab zwölf Euro. Meine hässlichen Eselshaare in Nase und Augen werden abgefackelt. In den Straßencafés sitzen ältere Männer in dunklen Anzügen, auch mit gestrickten Kopfbedeckungen, die einer Kipa zuweilen gefährlich ähnlich sehen. Es ist aber keine Kipa. Junge Frauen in Kopftuch und teilweise in engen Jeans tragen Einkaufstüten oder haben Kleinkinder an der Hand. Die Stimmung ist irgendwo zwischen motiviert ruhig und unmotiviert hektisch, so ist Berlin schon immer, spätestens, so denke ich, seit die ersten Kölner im Mittelalter auf der Fischerinsel siedelten, so wie Otto Nagel sie malte, als Kleinstadt unter der Petrikirche, dort, wo mein Vater aufwuchs. Und schließlich ist das hier Neukölln. Dieses Land wird sich sehr verändern.
Man kann den Leuten nicht ins Hirn sehen
Man kann den Leuten nicht ins Hirn sehen. Auch ich mit meinem südländischen Aussehen werde zuweilen in Sprachen angesprochen, die eindeutig nicht indoeuropäischen Ursprungs sind und die Reaktion ist zuweilen verwundert, wenn ich auf Deutsch antworte. Um es kurz zu machen: Ich fühle mich wohl in Neukölln. Ich lese dann allerdings in den Zeitungen seit Jahren von, viel zu milde gesagt, skurrilen Predigten in Hinterhofmoscheen, deren Imame in meinem Land alles Mögliche suchen, nur nicht den Seelenfrieden ihrer Schutzbefohlenen. Ich höre von den Problemen der Lehrer in Klassen, deren Kinder zu etwa 80 Prozent Deutsch als Fremdsprache erlernen. Einer dieser Lehrer ist mein Freund S. Das und noch mehr Probleme gehören auch zu Neukölln, zu Deutschland.
Mal eben kurz die Welt retten
Als Angela Merkel die Grenzen öffnete, meldete ich mich sofort freiwillig, um das hiesige „Camp“, ein eher spartanisches Notaufnahmelager auf Bundeswehrgelände, in einer ehemaligen Kaserne, medizinisch zu organisieren. Fünfundfünzigstundenwoche als Hausarzt? Pah. Wer, wenn nicht ich, wann, wenn nicht jetzt. Meine Frau hat mich selten vor Mitternacht zu Gesicht bekommen, bzw. meist gar nicht, denn sie schlief längst und bekam kleine zirzensische Zettel vor das Schlafzimmer gelegt. Das war die eheliche Kommunikation, denn sie muss früher aufstehen als ich. Ich schlief auf dem Sofa, wie früher, als wir ganz frisch verliebt waren, denn ich schnarche. Ein Urlaub wurde, neudeutsch, „gecancelt“. Und es gab sehr warme Abende im Oktober 2015. Da war sie wieder, die Neuköllner Atmosphäre. Die Kaserne hatte beinahe so etwas wie eine Flaniermeile, und abends saß man draußen, grillte, rauchte, diskutierte - und flanierte, die Kinder kickten Fußbälle hin und her. Nur die Erstuntersuchungen waren ein bisschen wie aus einem schlechten Hollywood-Katastrophenfilm. Seit wir einige „Fälle“ von Tuberkulose und Krätze hatten isolieren müssen, erfolgte die Aufnahmeuntersuchung mit Handschuhen, Mundschutz und Ganzkörper-Schutzanzug. Am Ende zog ich das sinnvolle, blödsinnige Zeug aus und setze mich auf die Holzbank zu den Neuankömmlingen und bot ein Zigarillo an. Wir hatten Untersuchungszelte, die Männer links, die Frauen und die Kinder rechts. Ich hatte sehr seltsame Gedanken. Ich saß da immerhin als deutscher Arzt und winkte: die Männer links, die Frauen und die Kinder rechts...
Sich von Wohlstandsdingen befreien
Dass ich meine Praxis und meine Garage von einigen Wohlstandsdingen befreite, die im „Camp“ dringend gebraucht wurden, habe ich anderenorts bereits geschrieben. In jenen Tagen berichtete ich der F.A.Z. per Leserbrief, wie ruhig die Stimmung in unserem „Camp“ sei und dass ich im Helferkreis so ziemlich alle politischen Meinungen von Linkspartei bis AfD zu hören bekam, was die Arbeit nicht im Geringsten beeinträchtigte. Ich kapierte nur nicht, wieso ein derart gut organisiertes Land wie das meine erst nach sechs, acht Wochen zögerlich begann, Menschen behördlich zu registrieren, die hier lebten. Wir als DLRG hatten es doch auch binnen vierzehn Tagen geschafft, siebzig wechselnd freigestellte Berufstätige und einen wachsenden, anfangs eher heterogenen Haufen Hauptamtlicher zu rekrutieren, dazu ein Grüppchen Rentnerinnen und Rentner, die Essen austeilten oder Bürodienst versahen. Die Kleiderkammer platzte aus allen Nähten. Leute rückten an mit Kinderspielzeug und alten Fernsehern, während die EDV noch versuchte, das „Außenlager“ in einer Bundeswehr-Turnhalle irgendwie an das Intranet anzubinden. Spät abends saßen wir und schrieben Faxe, bestellten Medikamente, planten Arzttermine in der Stadt. Vor dem Zaun standen Soldaten mit Maschinenpistolen und ließen die Neuankömmlinge bis 22 Uhr passieren, während ich immer zweimal meinen Dienstausweis vorzeigen musste. Ich fühlte mich sicher. Im tiefsten Frieden.
Ein Berliner im Himmel
Aber wie Aloisius, der Münchener im Himmel, wartete und wartete ich auf die himmlischen Eingaben meiner Regierung. Wo blieben die reaktivierten Beamten im Ruhestand aus Ausländerbehörde, Polizei, Gesundheitsamt, wo die pensionierten Lehrer mit einschlägigen Sprachkenntnissen? Und wo die türkisch- und arabischstämmigen, die kurdischen und paschtunischen Deutschen mit Doppelpass, die schon länger hier leben? Als Dolmetscher hatten wir einen Bundeswehrsoldaten afghanischer Abstammung, er machte mich stolz auf mein Land mit seiner Bundesflagge auf der Schulter, einen Türkischstämmigen mit Arabischkenntnissen aus dem Kreis der Rettungsdienstler der DLRG und einen weiteren aus dem privaten Wachschutz, der für sein Dolmetschen Ärger bekam mit seinem Chef. Meine Freunde. Einige Bewohner sprachen englisch und französisch und waren eine große Hilfe.
Nathan der Weise lässt sich blicken
Am meisten berührte mich, dass Schiiten und Sunniten gleich zu Anfang in demokratischer Abstimmung einen gemeinsamen liberalen Lehrer irgendwo aus Mesopotamien als ihren Imam wählten, und dass das Marienbild mit Jesusknaben, das ich, neben einem Bild der Sure Ja-Sin, die für jeden Moslem im Leben wie im Tode eine der wichtigsten ist, mitgebracht hatte, seinen Weg in die Gebetszelte fand, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
Warten auf Worte
Und wieder wartete ich. Ich warte nicht auf sehr viel. Ich wartete auf Worte. Auf Worte, die über bloße Banalitäten hinausgegangen wären. Ich schrieb an die F.A.Z., man möge mir erklären, wer das „Wir“ ist, das vor dem Schaffen steht, und was das „Das“ dahinter, und dass die F.A.Z. diese Frage der Kanzlerin dringend in aller Deutlichkeit stellen müsse. Ich warte bis heute. Irgendwann im Laufe des Jahres 2016 – Angela Merkel wechselte ein wenig die Sprache, das „Camp“ leerte sich, ich erlebte einen Sitzstreik unzufriedener Männer, weil sie noch auf Zuteilung einer Wohnung warteten, und einen verzweifelten, weinenden Vater, der mir erklärte, er sei Syrer, aber er sei auch Zimmermann und er wolle endlich Arbeit. Seine Kinder seien auch schon lange genug bespaßt worden und sollten endlich Deutsch lernen wie er per Lehrbuch und Smartphone. Es reichte mir und ich schrieb erstmals ans Bundeskanzleramt. Nicht wegen organisatorischer Dinge; ich merkte nur, dass sich die Stimmung im „Camp“ drehte, und in meiner Nachbarschaft hörte ich die ersten abfälligen Bemerkungen über Zuwanderer. Hier passierte also etwas sehr Ungünstiges, und der Terror, Dank der viel zu späten staatlichen Erfassung der Zuwanderer, war auch schon zu Besuch gekommen. Dann war das Lager leer. Es war also doch erst nach der Wahl Donald Trumps. Da schrieb, nein, faxte ich ans Kanzleramt, ob man nun langsam aufwache, ob man erkenne, dass nicht die „Populisten“ die Gesellschaft spalteten, sondern jene, die meinten, ihre Bevölkerungen würden alles Globalisierte und Unorganisierte führungslos-bevormundet mitmachten – und wo denn diejenigen blieben, die neben mehr oder minder tröstlichen Phrasen und Islamkonferenzen einmal die Eliten des Islams, der Juden und Kirchen in Deutschland ins Kanzleramt bäten, nicht zum Palavern, sondern zu einer öffentlich übertragenen Aufführung von Lessings „Nathan der Weise“. Die „Waschmaschine“, so nennen die Berliner das Kanzleramt, ist so hypertroph, die müssen da doch einen Vortragssaal haben.
Theater im Kanzleramt, oder: Ein naives Bild wird zur Farce
Ich habe ein Bild im Kopf. Wir schreiben Frühjahr 2016. Die Kanzlerin und der Bundespräsident. Er heißt Gauck und ist gelernter Pastor. Kurze Begrüßungsworte. Namhafte Schauspieler. Burghart Klaußner als Nathan. Til Schweiger, in schwarzer Uniform, als Tempelherr. Sibel Kekilli, mit Kopftuch, als Recha. Komparsen aus Laien, Deutschen und Migranten. Musik, immer kurz und knackig: Udo Lindenberg. Horst Seehofer und Thomas de Maizière telefonieren in der Pause mit Ermittlern, die schon lange Terrorverdächtigen auf der Spur sind. Sie kommen zu spät zurück aus der Pause, denn sie schützen mein Land vor Verbrechern, und die Geschichte ist ihnen, genauso wie Sahra Wagenknecht und Alexander Gauland, die auch in der ersten Reihe sitzen, bekannt: Nahostkonflikt, interreligiöse Liebe, ein ideologisierter, aber verliebter Christ, ein genervter, aber weiser Jude, ein herrischer, aber toleranter Moslem, alle im Zwiespalt, Ringparabel, ein Ausgang mit Kompromissen, die nicht täglich neu ausgehandelt werden müssen, und kein hohles Sprücheklopfen, wer hier zu Deutschland gehört. Christian Wulff wirkt ein bisschen blass, aber er hält wieder Händchen mit Bettina, und dann lächelt er. Alles live und in Farbe. - Am Ende langer, frenetischer Applaus, die Kanzlerin und der Bundespräsident auf der Bühne, mit allen Vertretern der Religionen und einem aus dem Humanistenverband auch. Keine weiteren Reden. Nur der Bundespräsident lächelt und ruft: Willkommen in Deutschland, so wie es heute wirklich ist. Und winkt. Hektisch rennen die Korrespondenten zu ihren Laptops, das ist ziemlich banal und plakativ, in dem Zusammenhang aber die Schlagzeile des Tages.
Ich warte weiter. Zu spät. Das Gequatsche von Leitkultur und Integration treibt mich langsam aber zuverlässig in den Wahnsinn. Langeweile. Überdruss. Ich zappe weg, glotze absichtlich Banales. Nur mein Bild im Kopf verfolgt mich, nun als Teil einer alltäglichen Farce, wahrscheinlich bis an mein Lebensende, die anderen länger. Idealismus? Naivität? - Das, Entschuldigung, ist mir wurscht. Das, was bei mir Idealismus und Naivität heißt, nennt man bei Politikern: Führung. Toleranz setzt einen Standpunkt voraus. Den muss ich haben und öffentlich äußern. Was gäbe es Idealistischeres, Naiveres und Nüchterneres als Lessings Nathan?
Haben wir sie noch alle?
Denn wir haben sie alle. Hier. Den Christen, der in eine Jüdin verliebt ist, die Muslima, die sich in einen Atheisten verguckt, den toleranten Moslem, den radikalen auch, der sich kurz fragt, ob er das deutsche Mädchen ansprechen und sein Leben leben soll oder der verschlüsselten Nachricht seines IS-Führungskaders auf dem Smartphone folgen, denn morgen bist du tot, und Allah stellt dir zwanzig Jungfrauen. Und den geistigen Glatzkopf, der fünfhundertmal an der Dönerbude war, bis ihm einer seiner Kameraden die Bockwurst als nationale Aufgabe eingeredet hat, auch die toten NSU-Mörder, den irren Bundeswehrsoldaten, der nicht dolmetscht, weil er kein Wort arabisch spricht, sich dennoch erfolgreich von den immer noch sanft den Schlaf der Gerechten schlafenden Behörden als syrischer Asylbewerber registrieren lässt und Todeslisten von Politikern führt. Das passiert alles fast gleichzeitig, während ich esse, arbeite, zappe, schlafe. Ich bin zu alt oder zu jung für das alles. Ich nehme Lessings Nathan aus dem Bücherschrank – und stecke ihn wieder zurück. Ich lege eine Platte auf. Es ist Carole King: It's too late, baby, now it's too late....
Ich weiß gar nichts. Nur so viel: Leitkultur und Integration beginnen im Kopf. So wie Fische vom Kopf her beginnen zu stinken. Wer wer wer ist der Kopf meines Landes?
Jesko Matthes ist Arzt und lebt in Deutsch Evern.