Warum wird Leipzig zum 35. Jahrestages einer der wichtigsten Demonstrationen des Herbstes 1989 ausgerechnet Olaf Scholz als Gedenkredner zugemutet? Seine Gedächtnisleistungen und seine Rhetorik unterbieten doch sogar noch seine Befähigung zum Kanzleramt.
Heute ist der 9. Oktober, und das ist in Leipzig eine Art Nationalfeiertag. Mit offiziellem Festakt, hochmögenden Festrednern, einem vielfältigen Programm und einem Lichterfest wird der Tag mittlerweile seit etlichen Jahren begangen. Anlass ist bekanntlich jene entscheidende Montagsdemonstration im Umbruchjahr 1989, als trotz eines martialischen Aufgebots der "bewaffneten Organe" und mannigfaltiger Drohungen der Obrigkeit zigtausende Demonstranten zum Protest gegen den SED-Staat durch die Stadt zogen. Mit bangen Erwartungen schaute das ganze Land auf Leipzig. In den Tagen zuvor waren die Sicherheitskräfte in Ost-Berlin, in Dresden und anderen Städten in der DDR recht brutal gegen Demonstranten vorgegangen. Es gab unvorstellbar viele Festnahmen und Misshandlungen der Festgenommenen. In diesen Tagen hielten es etliche Zeitgenossen für wahrscheinlicher, dass es Tote gibt, als dass sie sich hätten vorstellen können, diese Zeit ein paar Jahre später als "friedliche Revolution" zu feiern. Zwar war Leipzig nicht die erste Stadt, in der die Staatsmacht die "staatsfeindlichen" Demonstrationen nicht mehr zerschlagen konnte und das demonstrierende Volk schließlich nach erfolglosen Angriffen gewähren lassen musste. Dies war bereits am 7. Oktober in der vogtländischen Kleinstadt Plauen der Fall. Allerdings war das noch nicht überregional bekannt, und der 9. Oktober in Leipzig wurde von so gut wie allen Zeitgenossen auf allen Seiten als ein entscheidender Moment erwartet.
Bekanntlich unternahmen all die zusammengezogenen Truppenteile von Volkspolizei und Staatssicherheit angesichts der Masse von Demonstranten und der Tatsache, dass niemand die Verantwortung für den Befehl zum Losschlagen übernehmen wollte, an diesem Tage nichts, um die Demonstration zu zerschlagen. Die Diktatur zeigte die entscheidende Schwäche, dass sie sich der Stärke, die die Proteste gegen sie inzwischen gewonnen hatte, nicht mehr gewachsen fühlte. Dieser Staat war schließlich sowohl moralisch als auch wirtschaftlich und im Zustand seiner Infrastruktur vollkommen am Ende. Und die Sowjetunion konnte und wollte sich das teure Unterjochen der Satellitenstaaten nicht mehr leisten. All das war zwar schon länger offenkundig, doch an diesem 9. Oktober wurde das Ende des SED-Staats nach der Wahrnehmung vieler in gewisser Weise besiegelt.
Das Risiko, für die Teilnahme an Demonstrationen gegen das unbeliebte Regime Konsequenzen erleiden zu müssen, schwand rapide. Opportunisten und Mitläufer verstanden das ebenfalls als Signal eines Rückzugs des Regimes. Und wenn sich die Herrscher in einer Diktatur zurückziehen müssen, zeigen sie natürlich, dass ihre Macht schwindet, und in diesem Moment stellen auch die geschmeidigsten Mitläufer ihre Unterwerfungsbereitschaft auf den Prüfstand. Der weitere Ausgang ist allgemein bekannt, und zu runden oder auch halbrunden Jubiläen, wie dem heutigen 35. Jahrestag, wird natürlich allenthalben daran erinnert.
Jahrestags-Gedenk-Rummel
Wenn ich das nun eine Art Leipziger Nationalfeiertag nenne, mag das ein wenig despektierlich klingen, ist aber, was den Anlass angeht, mitnichten so gemeint. Ich bin zwar erst seit einigen Jahren Bürger dieser Stadt, aber war einigen von jenen Leipzigern, die zur aktiven Opposition gegen den SED-Staat gehörten, eng verbunden. Nach despektierlichen Worten ist mir allerdings schon, wenn ich mir so manche Spielart des Jahrestag-Gedenkrummels anschaue. Und auch jene Gedenkreden, bei denen aktuelle politische Verantwortungsträger das Ereignis auf eine intellektuell billige Art geschichtspolitisch zur Legitimation der eigenen Politik ausbeuten wollen, tragen nicht gerade zu meinem Wohlbefinden bei. Aber ich kann sie auch nicht ignorieren.
Heute also ist nun der 35. Jahrestag jenes 9. Oktober, und zu den Jahrestags-Ritualen gehört auch die "Rede zur Demokratie". Damit jetzt angesichts des Titels bei eventueller Unkenntnis der Jubiläumsrituale keine falschen Assoziationen aufkommen, sei hier nur erwähnt, dass diese schon zu einer Zeit alljährlich gehalten wurde, als an diese eine Partei, gegen die alle lautstark "unsere Demokratie" verteidigen wollen, noch nicht einmal zu denken war. Es gab über die Jahre Redner, die zum Anlass kaum passend waren, wie zweimal Frank-Walter Steinmeier – einmal als Außenminister und einmal als Bundespräsident – oder sein Genosse Martin Schulz, aber auch Persönlichkeiten, die dazu passten, wie Irina Scherbakowa, Basil Kerski, Wolfgang Templin oder György Dalos.
Und in diesem Jahr? Wer spricht in diesem Jahr? Im Programmheft steht:
"Höhepunkt des Festaktes wird die Rede zur Demokratie von Bundeskanzler Olaf Scholz sein. Als Festrednerin wird Marianne Birthler erwartet, frühere DDR-Bürgerrechtlerin und ehemalige Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik."
Ist die "Festrede" jetzt etwas anderes als die "Rede zur Demokratie"? Ist diese Unklarheit gewollt, damit man die Rede des Bundeskanzlers so schnell wieder vergessen kann, wie es Olaf Scholz auch selbst tun wird, während die Rede von Marianne Birthler dann Eingang findet in den Reigen der veröffentlichten alljährlichen Leipziger "Reden zur Demokratie"? Für die Nachwelt wäre das sicher eine gute Lösung, denn Birthler ist selbstverständlich eine dem Anlass angemessene Festrednerin – egal ob mit oder ohne Demokratie-Etikett, während man von Olaf Scholz eigentlich weder eine Fest- noch eine Gedenkrede hören oder lesen möchte.
Kuscheln mit den Mächtigen in der DDR
Selbstverständlich kann kein Veranstalter eines offiziellen Festakts "Nein" sagen, wenn es um einen Auftritt eines amtierenden Bundeskanzlers geht. Aber hätte nicht ein Grußwort gereicht? Warum ausgerechnet an diesem Tag an diesem Ort von diesem Mann eine Rede zur Demokratie?
Genosse Scholz neigt bekanntlich zum Vergessen von Ereignissen, an die sich zu erinnern ihm nicht zuträglich ist. Das lädt fast unwiderstehlich zu etwas billigen Bonmots über Gedenkreden mit Gedächtnisschwächen ein. Aber sein Gedächtnis muss der Kanzler gar nicht weiter bemühen. Seine Redenschreiber werden ihm bestimmt schon eine komplette Textbausteinlandschaft vorbereitet haben. Ob dabei wohl einem der Mitarbeiter der Gedanke gekommen ist, dass er Genosse Scholz in eine Rede zum Gedenken an das mutige Aufbegehren gegen die SED-Diktatur vielleicht auch ein paar selbstkritische Sätze hineinformulieren sollte?
Immerhin hatte er als Vize-Juso-Chef die DDR gern auf Einladung der SED- bzw. FDJ-Führung besucht. Die Funktionäre aus dem Osten umwarben den jungen linken Juso-Funktionär und SPD-Genossen aus Hamburg als potenziellen Bündnispartner. Und er kam gern mehrfach. Die Grenzwächter waren angewiesen, ihn und seine Delegation freundlich zu behandeln und auf schikanöse Zollkontrollen wie auch auf den Zwangsumtausch zu verzichten. Auch Egon Krenz, damals Honecker-Kronprinz im SED-Politbüro, empfing ihn zum Gespräch.
Dieses Kuscheln mit den Mächtigen in der SED-Diktatur wollte er im Nachhinein als deutsch-deutsches Gespräch gedeutet wissen, in dem man sich ja auch für vom Regime bedrängte DDR-Bewohner eingesetzt habe. Damit lässt sich aber nicht erklären, dass Genosse Scholz auch bereit war, der SED-Propaganda als Redner auf einer sogenannten Friedensdemonstration der SED-Jugendorganisation FDJ zu Diensten zu sein. Hatte er übersehen, dass diese Friedenspropaganda Teil einer Militarisierungspolitik der Gesellschaft war, in der Armeedienst und "vormilitärischer Ausbildung" eine immer größere Rolle spielten? Natürlich diente die sozialistische Hochrüstung nur dem Frieden, schließlich hatte sich die hochgerüstete DDR selbst zum "Friedensstaat" ausgerufen.
Ältester Radio-Originalton von Olaf Scholz
Wie schön, da mal einen Redner aus Hamburg zu haben, der die Abrüstung im Westen forderte. Olaf Scholz trat mit einigen an sich harmlos klingenden Sätzen im Mai 1987 bei einer FDJ-Friedenskundgebung in Wittenberg auf. Man kann sie noch hören, denn damals wurden sie für Stimme der DDR aufgezeichnet und landeten nach der Wiedervereinigung im gesamtdeutschen Rundfunkarchiv. Wiederveröffentlicht hat der SWR diesen Archivschatz, weil es sich vermutlich um den ersten aufgezeichneten Radio-Original-Ton von Olaf Scholz handelt. Der DDR-Rundfunk hat ihn also zuerst entdeckt.
Es wäre interessant, wenn Olaf Scholz in seiner "Rede zur Demokratie" darüber sprechen würde, wie es dazu kommt, dass man sich als junger Mensch, der in einer Demokratie aufgewachsen ist, von einer Diktatur so angezogen fühlt. Ist es die ideologische Nähe gewesen? Das gemeinsame Verständnis für die Funktionärssprache der Linken? Da gäbe es viel zu erklären, denn es ist nicht ganz leicht nachzuvollziehen. Die spießige graue DDR konnte den West-Linken nicht einmal die exotische Revolutionsromantik vorgaukeln, mit der die kubanischen Genossen vielleicht noch punkten konnten. Möchte uns Genosse Scholz das vielleicht bei seiner Rede zur Demokratie erklären?
Wie fühlt man sich im Gespräch mit den Vertretern einer Diktatur, die jene Untertanen, die ihr entfliehen wollten oder mehr Freiheit forderten, erst in ihre Zuchthäuser sperrte und sie dann vielleicht gegen Devisen in die Bundesrepublik verkaufte? Verdrängt man das im freundlichen Gespräch zwischen Egon und Olaf? Versteht Genosse Scholz das vielleicht als Übung im Fach Diplomatie, als Vorbereitung auf viele ähnliche Begegnungen im Regierungsamt?
Olaf Scholz hätte mit eigenen Erinnerungen also schon etwas beizutragen, auch dazu, wie leicht man in die Fänge von Nicht- und Missachtung von Freiheit und Demokratie gerät, weil sie einem höheren Ziel hinderlich scheinen. Das sind durchaus Fragen von brennender Aktualität.
Aber darüber wird er vermutlich nicht reden. Eher wird der Kanzler mit der ihm eigenen rhetorischen Kargheit die immer passenden, aber eben auch abgenutzten Floskeln vom Erreichen der Freiheit und Demokratie durch die mutigen Menschen, die sich der Diktatur entgegenstellten, vortragen. Davon hat er nun wirklich keine Ahnung. Aber vielleicht rät ihm auch jemand, trotz der Demokratie-Rede-Ankündigung bei einem kurzen Grußwort zu bleiben und den inhaltlichen Teil der Festrednerin Birthler zu überlassen. Ja, ich weiß, das ist ein frommer Wunsch. Heute Nachmittag wissen wir, ob Olaf Scholz, wie erwartet, eine Textbaustein-Gedächtnislücken-Rede in reduzierter Rhetorik gehalten hat. Schade um die Gedenktage, die dadurch nur noch zu Anlässen für eine größere Worthülsen-Produktion degradiert werden.
(Mehr zu Olaf Scholz und der DDR finden Sie hier, hier, hier und hier)
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.