Der Parteitag der CDU, der nun stattfindet, ist der erste, seit Deutschland von der Bundeskanzlerin zum offenen Land erklärt worden ist. Aber wird die Frage der Grenzen unserer Republik überhaupt im Mittelpunkt der Debatten stehen? Eher nicht, denn im Vorfeld wurde alles getan, um die Aufmerksamkeit der Partei auf Fragen zu verlagern, die ins Unendliche führen. Da ist zum einen das „Hoffnungsthema Integration“: Man verlagert das Migrationsproblem ins Landesinnere und stellt dort große Perspektiven in Aussicht. Zum anderen wird der sog. „Kampf gegen die Migrationsursachen“ angeboten: Man verlagert das Migrationsproblem in die weite Welt und stellt eine Art großen Entwicklungs-Feldzug in Aussicht. Wobei man inzwischen kleinlaut zugeben muss, dass es „lange dauern“ wird, bis hier Resultate zustande kommen. Mit anderen Worten: die beiden Ersatz-Schauplätze gehören dem Reich der Spekulation an.
Dabei gäbe es für CDU und SPD allen Grund, auf jene September-Entscheidung zurückzukommen, mit der Frau Merkel – ohne Vorlage eines Gesetzes im Parlament – die Grenzöffnung für Personen ohne legalen Einreisestatus erklärt hat. Diese Öffnung ist nach wie vor der Kern des ganzen Dramas. Wir haben inzwischen mindestens 1 Million (eher wohl 1,5 Millionen) Migranten im Land, wobei die große Mehrheit noch nicht als Asylberechtigte anerkannt ist und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch keine rechtlich validen Asylgründe vorbringen kann. Bei mehreren Hunderttausend ist noch nicht einmal die Identität und Herkunft verlässlich festgestellt, und noch einmal so viele sind ohne jede Registrierung ins Land gesickert.
Und dieser Strom dauert an, Tag für Tag das gleiche Schauspiel an den Grenzübergängen zwischen Österreich und Deutschland. In einer Stadt wie Berlin treffen täglich 200 bis 500 Personen ein – wer Gelegenheit hat, einen Blick in die Leitstelle zum Empfang der eintreffenden Busse und Züge zu werfen, kann sich des Eindrucks einer Naturgewalt, die sich unerbittlich ihren Weg bahnt, nicht erwehren. Und jede neu eintreffende Ladung zwingt die Städte und Landkreise zu extremeren Notlösungen. Inzwischen ist es üblich geworden, diese Lage auf ein „Versagen der örtlichen Behörden“ zurückzuführen. Doch in Wahrheit trägt die Kanzlerin mit ihrer bis heute nicht revidierten Entscheidung die Verantwortung für die Zustände. Merkel war es.
Es wäre auch völlig verfehlt, die Lage als ein allmähliches Abarbeiten durch zunehmende Erfahrung und Professionalität zu beschreiben. Im Gegenteil öffnet sich die Schere zwischen der Zahl der an der Grenze Durchgelassenen und der Zahl der wirklich geklärten Fälle immer weiter. Wenn einmal etwas weniger Personen pro Tag an der bayrischen Grenze ankommen, ist das nicht auf eine Maßnahme der Bundesregierung zurückzuführen, sondern auf die Widrigkeiten des Wetters. Das Missverhältnis zwischen dem Zustrom von außen und den Ordnungsmöglichkeiten unseres Landes wächst Woche für Woche.
In dieser Lage müssten sich eigentlich alle Anstrengungen auf die Begrenzungsfrage konzentrieren. Und auf die Bundesgrenze, auf dem die Migrationswelle als solche wirklich erreicht und beeinflusst werden kann. Alles andere ist Spekulation auf das Verhalten von Sozialmilieus und Regierungen, auf die die Politik gar keinen Zugriff hat. Machbar hingegen ist eine allgemeingültige, gesetzlich fixierte, zahlenmäßige Zuwanderungsgrenze für jeweils ein Jahr. Für das laufende Jahr ist erreichte offizielle Zahl von 1 Million (registrierten) Migranten bei weitem genug, um sofort zu erklären, dass für Deutschland die Obergrenze erreicht ist. Damit läge Deutschland weit oberhalb dessen, was andere europäische Länder bei der Zuwanderung akzeptiert haben. Es könnte also sofort die Zurückweisung von Migranten beginnen. Für das Jahr 2016 müsste dann jede neue Zuwanderung an die Zahl der durchgeführten Abschiebungen gebunden werden. Ebenso an eine vollständige Registrierung der 2015 verdeckt ins Land gekommenen Personen.
Das wird gewiss nicht ohne Härten und Verwerfungen auf den Migrationsrouten vor sich gehen. Aber im Vergleich zu den spekulativen Lösungen „Integration“ und „Ursachenbekämpfung“ sind die Begrenzungsmaßnahmen maßvoller. Sie sind auch praktikabler, weil sie nicht auf die Zustimmung und Mitarbeit anderer angewiesen sind. Zugleich verführen sie die Migranten nicht zu falschen Hoffnungen und Begehrlichkeiten, die ganz unvermeidlich dann geweckt werden, wenn die Menschen erstmal im Land sind und den fertigen Wohlstand eines arbeitsamen Landes zum Greifen nahe sehen.
Ist eine Obergrenze „rechtlich unmöglich“?
Weil die spekulative Erzählung vom „guten Weg“, auf den alles gebracht werden könne, bei praktisch denkenden Menschen wenig verfängt, wird noch auf ein zweites Mittel zurückgegriffen: auf die Behauptung, eine Begrenzung sei aus prinzipiellen Gründen gar nicht möglich. Wenn Zweifel aufkommen, ob der gute Weg wirklich so gut ist, heißt es patzig: „Grenze geht sowieso nicht“. Der parteiübergreifende Merkelismus ist nicht nur monoton, sondern er wird auch zunehmend negativ.
Dabei ist die Kanzlerin mit einem Geht-Nicht schon gescheitert. Die 2000 km-These von der physischen Unmöglichkeit einer Territorialgrenze ist kaum noch zu hören. Sie ist zu offensichtlich dummes Zeug. Doch ein zweites, diesmal rechtliches Geht-Nicht steht noch im Raum: „Die Menschenrechte kennen keine Obergrenze“, heißt es. Folglich sei es keinem Land der Erde gestattet, eine zahlenmäßige Obergrenze bei der Aufnahme von Asylanten festzulegen. Hier soll also ein absolutes Recht bestehen, das alle Staaten bindet. Migration wäre demnach ein Weltrecht, das über jede Souveränität eines Staatsvolkes erhaben ist.
Das ist natürlich eine gewagte, in ihrer Konsequenz ungeheuerliche These. Doch merkwürdiger Weise wird sie rechtlich kaum erörtert. Wir hören wohl das realitätsbezogene Argument, dass ganz offenkundig jedes Land nur begrenzte Kräfte hat und folglich nicht unbegrenzt aufnahmefähig sei. Das ist sicher ein gutes und wichtiges Argument, aber es überlässt das rechtlich-normative Feld den Vertretern eines grenzenlosen Aufnahmegebots. Die werfen sich entsprechend in die moralische Brust.
Die Menschenrechte sind zweifellos eine wichtige Rechtsquelle. Es liegt in ihrer auf „die Menschen“ bezogenen Natur, dass sie gar nicht anders als universell formuliert sein können. Menschenrechte „nur für Deutsche“, „nur für Chinesen“ machen keinen Sinn. Aber wenn es um den dauernden Aufenthaltsort von Menschen und dessen Veränderung durch Migration geht, sind die Menschenrechte keineswegs die einzige Rechtsquelle. Hier ist eine zweite große Rechtsquelle berührt: das Völkerrecht. Das Völkerrecht beruht auf Begriffen Staat, Staatsvolk, Staatsgrenze. Sie billigt den staatlichen verfassten Völkern die souveräne Entscheidung darüber zu, ihre Grenzen zu schützen und Erweiterungen des Staatsvolks zuzulassen oder nicht. Im konkreten Fall großer Krisen, Kriege und Katastrophen ist also immer eine Abwägung zwischen den beiden, voneinander unabhängigen Rechtsquellen „Menschenrecht“ und „Völkerrecht“ vorzunehmen. Deshalb sind Regelungen, die Flüchtlinge auf die nächstliegenden sicheren Staaten verweisen legitim; ebenso ist es die Einschränkung ihrer Freizügigkeit im Aufnahmeland (durch Lager). Deshalb kann es bei einem übermächtigen, dauerhaften Zustrom auch legitim sein, eine jährliche Obergrenze festzulegen – aus dem legitimen Rechtsgrund der Selbsterhaltung. Und eins ist dabei wichtig: Die Entscheidung, ob ein solcher Fall der Selbsterhaltung vorliegt, wird nicht von internationalen Gremien getroffen, sondern sie liegt bei dem jeweiligen Land. Die Festlegung einer zahlenmäßigen Obergrenze ist also nicht nur ein Akt des Realismus, sondern auch ein völkerrechtlich zulässiger Akt.
Es gibt kein Menschenrecht auf Migration. Ja, es gibt eine Universalität der Menschenrechte, aber es gibt kein universelles Recht der Menschen, sich durch Einwanderung in ein anderes Land Zugang zu diesen Rechten zu verschaffen.
Die Geschichte vom eintausendundersten Menschen
Also Obergrenzen. Oder Kontingente. Oder wie man sonst eine zahlenmäßige, im Voraus festgelegte Grenzsetzung nennen will. Sind wir damit am Ziel? Nicht ganz, denn nun wird eine Geschichte erzählt, mit der sich alles wieder in heiße Luft auflöst. Am 22.November durfte Herr Altmaier im „Bericht aus Berlin“ die Kontingente als neue Lösungsidee vorstellen. Dabei kam man auch auf die Frage: Was geschieht an der Grenze, wenn das Kontingent voll ist? Was geschieht mit dem „eintausendundersten“ Menschen? Wird er zurückgewiesen? Tja, mmh, sagte da der große Koordinator und setzte ein besonders freundliches Gesicht auf, so dürfe man das nicht verstehen. Denn bei diesem Menschen Nr.1000 + 1 könnten ja besondere menschliche Gründe vorliegen. Und nur wenig später hieß es von Frau Klöckner: „Wenn da noch einer vor unser Haustür steht, dann gebietet es die Humanität, ihn aufzunehmen.“ Aha. Damit wären die Vorschläge „Obergrenze“ und „Kontingente“ letztlich doch nur eine Farce, denn man hält ja noch zusätzliche Zugangswege bereit. Wenn man die Plus-Eins-Regel akzeptiert, bleibt die Zuwanderung nach Deutschland eine grenzenlose Geschichte.
Zugegeben, die Haustür-Geschichte lässt niemand kalt. Wir stellen uns einen einsamen, erschöpften Wanderer vor, der bei Nacht und klirrender Kälte an unsere Tür klopft. Wer würde in so einer dramatischen Situation „Nein“ sagen? Allerdings ist diese Geschichte auch eine abwegige Geschichte, die mit dem, was politisch zu entscheiden ist, nichts zu tun hat. Politik muss allgemeinverbindliche Normen setzen. Deshalb ist es hier durchaus kein Verstoß gegen die Menschlichkeit, wenn dem Bürger zugemutet wird, dass er keinen Platz bekommt und zurückstehen muss. Zum Beispiel, wenn die Operationstermine im Krankenhaus im laufenden Monat erschöpft sind. Oder die Termine beim Einwohnermeldeamt. Man verlangt vom Bürger Anpassung, wenn in einem Fach nicht genügend Studienplätze oder in der Bahn nicht genügend Sitzplätze zur Verfügung stehen. Es gibt auch keine Plus-Eins-Regel, wenn der letzte Tag zur Abgabe einer Bewerbung oder zum Bezahlen der Steuern verstrichen ist.
Die Bürger sind durchaus bereit, solche Obergrenzen, die ohne Ansehen der Person gelten, zu akzeptieren. Das hat seinen guten Grund. Bei den Fällen, die oben beispielhaft aufgezählt wurden, geht es um Gemeingüter. Gemeingüter müssen vor Übernutzung geschützt werden. Oder vor Schwarzfahrern, die ohne eigenen Beitrag die Gemeingüter nutzen. Die Gemeingüter sind den Politikern von den Bürgern treuhänderisch anvertraut, damit diese sie vor Missbrauch zu schützen. Dafür sind exakte und strikte Grenzen unabdingbar - seien es nun zahlenmäßige Obergrenzen, Kontingente, zeitliche Fristen oder territoriale Grenzlinien. Seit der klassischen Diskussion über die „Commons“ (im Deutschen teilweise durch den Begriff „Allmende“ erfasst) weiß man: Politik ohne strikte Grenzen ist keine Politik. Die Geschichte vom eintausendundersten Menschen ist eine zutiefst politikfremde Geschichte.
Es ist eigentlich unfassbar, dass angebliche Berufspolitiker im Angesicht einer Migrationswelle von historischen Ausmaßen solche naiven Haustür-Geschichten erzählen. Denken sie wirklich, vor einem Volk zu stehen, das sich so leicht ablenken lässt?
Der Eiertanz um die Obergrenze zeigt eine politische Klasse, die bis in ihre tiefsten Reflexe hinein völlig vom „Verteilen“ und „Begleiten“ besetzt ist. So hat sie sich zu einem merkwürdigen Sondermilieu verkapselt, das überall dabei ist und doch nirgendwo Halt bietet. Auf dem SPD-Parteitag war das mit Händen zu greifen. Wer mag noch hoffen, dass es bei der CDU anders ist?
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