Wer von der Natur einen genetisch normalen Körper erhielt, soll nachhelfen dürfen.
Kolumne von Beda M. Stadler erschienen am 14. Januar 2007 in der NZZ am Sonntag
„Mens sana in corpore sano“ stammt vom römischen Dichter Juvenal, der seine römischen Mitbürger geisseln wollte, weil sie sich zur Problemlösung mit Gebeten und Fürbitten an die Götter wandten. Diesem oft verdrehten Zitat liegt die grösste Heuchelei im Sport zu Grunde: die Ächtung des Doping. Dabei stimmt eher die Umkehr des Satzes: Weltmeister wird heute, wer keinen gesunden Körper hat.
Am Offensichtlichsten ist es bei Sportlern, die schwere Essstörungen haben, wie etwa Langstreckenläufer, die längst der Norm von Magersüchtigen entsprechen, oder Gewichtsheber und Sumo-Ringer, deren Body Mass Index jenseits von Fettleibigkeit ist. Dass Sportler nur noch genetische Mutanten ausserhalb der Norm sind, sieht man auch bei Basketballspielern. Auf dem Spielfeld sieht ein normal gewachsener Mensch wie ein Zwerg aus. Manchmal muss man bei den leistungsfördernden, genetischen Mutationen zweimal hinschauen, etwa wenn bei Frauen der Testosteronspiegel so hoch ist, dass man die Brüste unter dem Sportleibchen nur vermuten kann. Andererseits erfreuen sich vielleicht Haarfetischisten am Bartwuchs von Spitzensportlerinnen.
Für solche genetischen Fehl- oder Überleistungen können Sportler nichts, falls sie angeboren sind. Aber es gibt ihnen Vorteile, so wie dem finnischen Langläufer Eero Mäntyranta, zweimaliger Goldmedaillengewinner an der Winterolympiade 1964. Er hatte dank einer genetischen Mutation derart viele rote Blutkörperchen, wie es ohne EPO-Doping nicht möglich wäre.
Wir Menschen unterscheiden uns durch Tausende von geringen genetischen Mutationen, die uns zu Individuen machen, aber dem einen oder anderen körperliche Vorteile verleihen, die weiter gehen als Doping. Neuestens kommt noch ein weiterer Grund für die verschiedene Leistungsfähigkeit der Menschen hervor. In unserem Genom können Gene auch vervielfacht sein. Falls dies das EPO-Gen betrifft, hat man auf dem Fahrradsattel einen ziemlichen Vorteil. Der Sportler kann natürlich nichts für seine genetische Abweichung, genauso wenig wie sein Konkurrent für seine normalen Anzahl Gene. Aber es ist lächerlich jemandem auf dem Treppchen zuzujubeln, bloss weil er die perfekte Sammlung von Mutationen und Genduplikationen aufweist. Auf den Plätzen neben dem Treppchen gibt es wahrscheinlich Sportler, die mehr geleistet haben, denen aber ganz einfach der Körper zum Siegen fehlt. So ist es verständlich, wenn Sportler zur Spritze greifen, weil sie bei der Konkurrentin aufgrund des Drogenmissbrauchs eine Zahnspange im Mund entdecken. Schliesslich müssen die Sportler auch eine Familie ernähren.
Es wäre einfach dieser Heuchelei den Garaus zu machen. Die Lösung wird bei einigen Sportarten längst praktiziert. Beim Boxen käme niemandem in den Sinn einen Schwergewichtler auf einen Fliegengewichtler loszulassen. Es gibt Kategorien. Selbst die Frauenbewegung hat nie verlangt, Männer und Frauen bei Kraftsportarten gleichzustellen. Würden wir bei allen Sportarten Kategorien einführen, könnte man existierende medizinische Normalwerte heranziehen um die Exzesse mit Grenzwerten zu verhindern. Ob ein Sportler von Geburt auf oder mit der Spritze gedopt ist, bleibt sein Geheimnis. Jede Sportart wird dann ihre Lieblingskategorie haben, so wie dies beim Autorennsport oder beim Boxen bereits der Fall ist. Die Sportler müssten nur noch lernen, dass wir sie nicht lieben, weil sie eine gute Leistung erbringen, sondern weil sie uns eine gute Show bieten.
Im Gegensatz zur Liberalisierung von Drogen, so wie es die SP will, ist eine Legalisierung von Doping ein Beitrag zur Gesundheit. Im Sport würde wieder mit gleichen Bandagen gekämpft. Das Ende der Heuchelei wäre für das Image des Sports vielleicht noch wichtiger. Wie soll ein Sportler sonst seiner Familie erklären, warum er so viele Medikamente, von Asthma- bis Schmerzmittel, schluckt, obwohl er gesund ist?
Beda M. Stadler ist Direktor des Instituts für Immunologie und Professor für Immunologie an der Universität Bern.