Karl Lauterbach hat mal wieder eine Tamm-Tamm-Idee: Gesundheitskioske für die Mühseligen und Beladenen. Tatsächlich wird wohl kein einziges der eigentlichen und aktuellen Versorgungsprobleme gelöst. Kostet ja auch nur eine schlappe Milliarde.
Dass die deutsche Politik schon seit geraumer Zeit zunehmend die Fähigkeit verliert, relevante Probleme wirklich oder auch nur überwiegend zu lösen, wird vielerorts beklagt. Was aber offensichtlich immer geht: sich neue Probleme ans Bein zu binden und dafür Geld lockerzumachen. Und das, obwohl gerade im Gesundheitssektor – Corona soll im Folgenden unberücksichtigt bleiben – teils seit vielen Jahren etliche Brandherde vor sich hin schwelen, um es zurückhaltend zu formulieren. Zu nennen sind hier insbesondere die strukturelle Geldknappheit der gesetzlichen Krankenkassen und die zu knappe finanzielle Ausstattung der ambulanten kassenärztlichen Versorgung in Verbindung mit einer zunehmenden Zahl von nicht besetzten Arztsitzen. Nicht zu vergessen die zahlreichen Probleme im stationären Bereich, die wiederum wesentlich durch die im internationalen Vergleich zu vielen Krankenhäuser bzw. Krankenhausbetten bedingt sind und jetzt verschärft werden durch Inflation und gestiegene Energiekosten. Die von Lauterbach aktuell geplante Klinikreform bewertete der Vorstandsvorsitzende der Asklepios-Kliniken in der Welt kürzlich knapp und prägnant: „Alles an dieser Reform ist Nonsens“.
Zu all diesen Punkten hat Gesundheitsminister Lauterbach nichts Substanzielles anzubieten. Dafür aber Ideen für eine Innovation, die nur wenig zusätzlichen Nutzen verspricht, wenn überhaupt. Gemeint sind die sogenannten Gesundheitskioske, von denen der Minister, über die sozialen Brennpunkte im gesamten Land verteilt, etwa 1.000 installieren will. Veranschlagte Kosten pro Jahr: eine schlappe Milliarde Euro, also eine Million pro Büdchen. Das Geld ist in erster Linie vorgesehen für einzustellendes medizinisches Fachpersonal, das bekanntlich auch von vielen Arztpraxen, Pflegediensten oder Krankenhäusern händeringend gesucht wird.
Worum geht’s?
In erster Linie darum, für Menschen „mit besonderem Unterstützungsbedarf“ den Zugang zur medizinischen Versorgung zu verbessern und zu koordinieren. In guter alter sozialdemokratischer Manier also die – tatsächlich oder auch nur vermeintlich – Mühseligen und Beladenen oder auch bloß des Deutschen nicht Mächtigen an die Hand zu nehmen, um ihnen den rechten Weg durch unser für sie angeblich zu komplexes Gesundheitssystem zu weisen. Zu dem gegebenenfalls durch Dolmetscher unterstützten Angebot der Kioske sollen auch einfache medizinische Routineaufgaben gehören, wie Messen von Blutdruck und Blutzucker, Verbandswechsel und subkutane Injektionen. In den „Eckpunkten“ des Ministeriums (BMG) ist außerdem die Rede von Beratungsangeboten im Hinblick auf einen gesundheitsförderlichen Lebensstil.
Mehrere kassenärztliche Vereinigungen halten solche Kioske für überflüssig, weil hier Parallelstrukturen aufgebaut würden, gebe es doch bereits eine Vielzahl von Beratungs- und Unterstützungsangeboten, einschließlich etlicher Selbsthilfeorganisationen. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin urteilte kurz und knapp: „Gesundheitskioske bringen nichts“. Nach Meinung des Präsidenten der Sächsischen Landesärztekammer werde durch Gesundheitskioske „kein einziges der eigentlichen und aktuellen Versorgungsprobleme gelöst“.
Wie stellt Lauterbach sich die Finanzierung vor? Die Gesetzliche Krankenversicherung soll 74,5 Prozent der Gesamtkosten tragen, die Private 5,5 Prozent und die Kommunen 20 Prozent. Vor allem die Krankenkassen sind mit diesem Schlüssel nicht einverstanden. Die Ersatzkassen haben sich bereits aus der Finanzierung eines Modellprojekts in Hamburg zurückgezogen. Es bleibt also abzuwarten wie der Gesetzentwurf genau aussieht, den der Gesundheitsminister demnächst in den Bundestag einbringen will. Lauterbach verband die kürzlich erfolgte Vorstellung der Eckpunkte seiner Kioskpläne mit dem Besuch des im Januar 2017 eröffneten Hamburger Modellprojekts, zuständig für zwei östliche, sogenannte Problemstadtteile und wesentlich initiiert von einem Ärztenetzwerk. Also mit eher guten Startbedingungen in Bezug auf die Kooperation mit bereits vorhandenen Strukturen. Auch das gilt es zu berücksichtigen, wenn man sich etwas näher mit der kürzlich vorgelegten wissenschaftlichen Evaluierung dieses Projektes für den 3-Jahres-Zeitraum von 2017 bis 2019 beschäftigt.
Die Evaluierung des Hamburger Modellprojekts
Dem evaluierenden Hamburg Center for Health Economics (HCHE) der Uni Hamburg wird klar gewesen sein, dass eine durchweg oder ganz überwiegend negative Evaluierung die bundesweite Ausdehnung des Kioskprogramms erschweren, vielleicht gar verhindern würde und damit auch weitere Aufträge des BMG in weite Ferne rücken könnten.
Eine elegante Möglichkeit, solche Probleme halbwegs elegant zu umschiffen, ist es, eine prägnante, leicht geschönte Kurzversion und eine mühsam zu lesende Langversion des Evaluierungsberichtes zu veröffentlichen, in der wahrscheinlich berechtigten Erwartung, dass die 304 Seiten sich kaum jemand antut, die 11 Seiten der Kurzversion oder vielleicht auch nur deren Zusammenfassung und Empfehlungen dagegen schon eher. Die fünf evaluierenden Wissenschaftler des HCHE resümieren – oder besser: framen – das Ergebnis in ihrer Pressemitteilung folgendermaßen: „Eine bessere Vernetzung von medizinischer und sozialer Versorgung sowie niedrigschwellige Angebote verbessern nachweislich die Gesundheitsversorgung der Menschen in den Hamburger Stadtteilen Billstedt und Horn“. Es wird nicht nur empfohlen, das Projekt „in die Regelversorgung zu überführen“, sondern auch behauptet, dass „es ein Vorbild für andere sozial benachteiligte großstädtische Regionen in Deutschland sein könne“.
Aber erlaubt die Evaluation wirklich solche weitreichenden Forderungen? Um die Antwort vorwegzunehmen: Nein, denn die beobachteten positiven Veränderungen betreffen ganz überwiegend eher weiche Kriterien, wie etwa die „Patientenzufriedenheit“. Aber auch hier wird statistische Signifikanz oft nur erreicht durch die Inflationierung der Irrtumswahrscheinlichkeit auf 10 Prozent, statt der üblichen 5 Prozent oder 1 Prozent. Hier ein Beispiel: „Die allgemeine Zufriedenheit mit der Gesundheitsversorgung in Billstedt/Horn ist dabei signifikant (p ≤0,1) um 1,04 Prozentpunkte gestiegen“. Donnerwetter! Trotz dieses großzügigen Umgangs mit der Irrtumswahrscheinlichkeit kommen die Autoren nicht umhin zu konstatieren, dass bei den Kiosknutzern „keine signifikante Veränderung der Gesundheitskompetenz“ und „keine signifikante Verbesserung des objektiven und subjektiven Gesundheitszustands“ im Vergleich zu einer Kontrollgruppe registriert werden konnte. Zudem lagen die Erwartungen der Mitarbeiter an das Projekt „sehr deutlich über den tatsächlichen Erfahrungen“. Am Ende des Projekts berichteten sie außerdem – „entgegen der Zielsetzung“ – über einen „leichten Anstieg“ ihrer Arbeitsbelastung.
Eine andere Möglichkeit, Ergebnisse zu schönen, ist es, durchaus ambivalente Resultate einseitig zu interpretieren: So wird es als Erfolg verbucht, dass die Anzahl der ambulanten Arztbesuche um 1,9 Besuche pro Jahr pro Versicherten angestiegen ist. Damit habe der Kiosk eine Verbesserung des Zugangs zur ambulanten Versorgung bewirken können. Aber bestand nicht auch der Anspruch, die Praxen zu entlasten? Und kann aus diesen Zahlen nicht auch geschlossen werden, dass vielleicht ein Teil der Patienten von vornherein – ohne Umweg über den Kiosk – besser in der Arztpraxis aufgehoben gewesen wäre?
Wer hat die Angebote des Gesundheitskiosks genutzt?
Vor allem Frauen, die fast 80 Prozent der Besucher ausmachen, im Durchschnitt um die 60 Jahre alt und überwiegend berentet sind und dreimal beraten wurden. Zu welchem Thema erfolgten die meisten Beratungen? Zum Übergewicht, bei beachtlichen 40 Prozent der Kiosknutzer. Es gibt ja auch sonst keine Angebote für dieses, zudem leider meist therapieresistente Problem. Hätten die Evaluatoren angesichts der überragenden zahlenmäßigen Bedeutung dieses Themas nicht wenigstens mitteilen können, wie sich das Körpergewicht – etwa zwischen erster und dritter Beratung – entwickelt hat? Aber der Verzicht darauf ist natürlich auch eine Aussage.
Ebenso interessant wie bezeichnend ist der Umgang mit widersprüchlichen Ergebnissen zum Problem der sogenannten ambulant-sensitiven Krankenhausfälle (ASK). Im hier interessierenden Fall ging es dabei um die Frage, ob durch die Nutzung des Gesundheitskiosks die Anzahl der Krankenhausfälle, die nicht zwingend stationär hätten behandelt werden müssen, reduziert werden konnte. Ein wichtiger und auch zahlenmäßig bedeutsamer Aspekt, hat doch eine Schätzung für das Jahr 2010 gezeigt, dass knapp 11 Prozent der Krankenhauspatienten in Deutschland auch ambulant, also kostengünstiger hätten behandelt werden können.
In der Kurzversion der Evaluierung wird zunächst die frohe Botschaft mitgeteilt, dass die ASK-Rate signifikant um 18,8 Prozentpunkte im Vergleich zu einer Kontrollgruppe gesunken sei. Es wäre natürlich ein tolles Ergebnis, den Anteil der unnötigerweise stationär Behandelten um fast ein Fünftel reduziert zu haben. Die oben bereits erwähnte Zunahme der Arztbesuche um das 1,9 fache wird – vor diesem Hintergrund durchaus nachvollziehbar – so interpretiert: Wird ein Teil derjenigen Patienten, die ohne das segensreiche Wirken des Kiosks in der Klinik gelandet wären, ambulant behandelt, resultieren natürlich häufigere Arztbesuche in den Praxen.
Störend an diesem hoch erwünschten Ergebnis ist nur, dass eine mir wesentlich angemessener erscheinende statistische Analyse zu einem entgegengesetzten Ergebnis kommt: eine um 0,9 Prozentpunkte signifikant gestiegene ASK-Rate, was die Autoren weiter unten etwas verschämt anmerken. Sie versuchen zu retten, was eigentlich nicht zu retten ist und meinen nun – allerdings nicht ganz im Einklang mit grundlegenden Prinzipien empirischer Forschung –, die Erwartung einer signifikanten Reduktion der ASK-Rate könne „weder bestätigt noch abgelehnt werden“.
Es werden erhebliche Zusatzkosten ausgelöst
Eine richtig schlechte Nachricht hat es dagegen nur andeutungsweise in die Kurzversion geschafft: von „höheren Leistungsausgaben“ für die Kiosknutzer ist dort die Rede, konkreter wird man nicht, in der Langversion dagegen schon. Für ambulante und stationäre Leistungen sowie für Arzneimittel entstanden im Vergleich zu einer Kontrollgruppe von Nicht-Kiosknutzern zusätzliche Kosten in Höhe von insgesamt 204,98 Euro pro Quartal und Nutzer, was sich zunächst noch einigermaßen friedlich anhört. Für die Gesamtzahl der 2.182 Nutzer des Kiosks waren das aber bereits 447.266 Euro pro Quartal oder knapp 1,8 Millionen Euro in einem Jahr, meist zu Lasten der Krankenkassen – zusätzlich zum veranschlagten Budget von 1 Million Euro. Da verwundert es nicht, dass die Evaluatoren auf ein Hochrechnen der Kosten für die geplanten tausend Kioske – vielleicht gar unter Berücksichtigung der inzwischen deutlich stärkeren Inflation – lieber verzichtet haben. Als Resümee bleibt: hohe Kosten, kaum Ertrag. Aber ist das nicht genau die Kombination, die Lauterbach & Co geradezu magisch anzieht?
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