Nach dem kollektiven Rausch, in dem wir uns während der Fußball-Weltmeisterschaft befanden, kommen nun die trüben, nasskalten Tage. Deswegen hat man rechtzeitig zur Herbstdepression ein neues Projekt gestartet: Stuttgart 21. Zehn-, ach was sage ich, Hunderttausende Fans pilgern per Bahn (!) in die Schwabenmetropole, um sich mit Gleichgesinnten in eine Lichterkette zu stellen. Public Viewing ohne Videoleinwand. Eine Aufregung, als würde der Papst zusammen mit Bono auftreten.
Viele sind der Meinung, die Demonstrationen seien ein eindeutiges Indiz dafür, dass hier eine Entscheidung gegen die Mehrheit der Bevölkerung gefällt wurde. Das mag sogar stimmen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht haben sich mit Stuttgart 21 ja nur diejenigen zu einem gemeinsamen Protestmarsch zusammengefunden, denen das Demonstrieren die letzten Jahre abgegangen ist. Quasi ein „Ostermarsch Reloaded“. Kann ja sein.
Nun wird allerorts diskutiert, ob man in Zukunft Volksabstimmungen über Großprojekte einführen sollte. Eine schwere Frage. Selbst für einen Verfechter der direkten Demokratie, wie mir. Über welche Dinge sollte das Volk abstimmen dürfen? Über den Bundespräsidenten? Unbedingt! Über eine Änderung von Verhältniswahlrecht zu Mehrheitswahlrecht? Auch gekauft! Über den Nichtraucherschutz? Na gut… (auch wenn ich’s doof finde).
Wie aber steht’s mit Entscheidungen wie z.B. dem Atomausstieg? Da allerdings finde ich: Nein! Und zwar aus demselben Grund, weshalb man keine Volksentscheide über Statik-Berechnungen im Hochhausbau durchführen sollte. Um beurteilen zu können, ob eine Technologie gefährlich ist, und ob die damit verbundenen Risiken akzeptabel sind oder nicht, bedarf es ein bisschen mehr, als ein paar Spiegel-Artikel über die Endlagerfrage zu lesen. Kein medizinischer Laie käme auf die Idee, einem Gehirnchirurgen zu erklären, dass Operationsmethode A besser ist, als B. Woher also rührt die Selbstsicherheit vieler Bürger bei hochkomplexen Themen wie der Kerntechnik (oder auch der Gentechnologie) auf Augenhöhe mitreden zu können?
Menschen, die sich auf Partys rühmen, Chemie und Physik in der 7. Klasse abgewählt zu haben, sitzen in Podiumsdiskussionen und klären Sicherheitsingenieure und Kerntechniker über Risiken und Gefahren auf: „Dieses Strahlen… dings… Das weiß man doch, dass das gefährlich ist… Und überhaupt…. Tschernobyl und so…“
Nur einmal – ein einziges Mal – möchte ich von einer öffentlichen Person den Satz hören: „Tut mir leid, über die Laufzeitverlängerung kann ich nichts sagen, ich habe nämlich keine naturwissenschaftliche Ausbildung…“ Stattdessen erklärt ein Meer von Nichtschwimmern Surfprofis das Wasser.
Zugegeben, es ist einfach wesentlich kuscheliger, sich mit Gleichgesinnten in eine Großdemo zu stellen, als auf der Uni eine Kernphysik-Vorlesung zu besuchen. Da ist es kein Wunder, dass kaum jemand weiß, dass durch eine Wiederaufbereitung und die nachfolgende Wiederverwendung der abgebrannten Kernbrennstäbe der größte Teil des Atommülls bereits nach wenigen hundert Jahren zerfallen wäre. Steht ja auch nicht im Greenpeace-Magazin. Wer interessiert sich schon dafür, dass beim Trafo-Brand im AKW Krümmel zu keiner Zeit der nukleare Teil der Anlage betroffen war? Oder dass im Endlager Asse kein einziger Brennstab, sondern vorwiegend radioaktiver Müll aus der Strahlenmedizin lagert? Die dortige Informationsstelle wurde von gerade mal 800 Menschen besucht. In der Hochphase jedoch demonstrierten 15.000 Menschen dagegen. Wozu sich informieren, wenn man eine feste Meinung hat? Ich jedenfalls halte es da mit dem Kollegen Dieter Nuhr: „Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Fresse halten!“
Ach übrigens: Ob Stuttgart 21 Sinn macht oder nicht, kann ich Ihnen deswegen hier auch nicht sagen. Da hab‘ ich nämlich keine Ahnung von…