Nichts bereitet unseren Gutmenschen so viel Spaß wie ein kleines Rollenspiel, das speziell für sie erfunden wurde. Es heisst: Das Opfer-Spiel. Vor zwei Jahren war es noch total angesagt, mit einer Kippa auf dem Kopf durch Kreuzberg oder Neukölln zu laufen, um ein Zeichen für religiöse Toleranz im Alltag zu setzen. Sogar Promis unterzogen sich dieser Prüfung. 120 Politprofis der Linken, der Grünen und der SPD - unter ihnen Dietmar Bartsch, Sahra Wagenknecht, Simone Peter und Petra Pau - mochten es noch einen Zacken abenteuerlicher. Sie stiegen in ein Schlauchboot, um am eigenen Leib zu erfahren, wie sich Flüchtlinge fühlen, wenn sie auf dem Mittelmeer treiben. Obwohl die Spree an der Stelle kaum einen Meter tief ist, trugen sie Rettungswesten, für den Fall, dass ein Sturm aufkommt. Einige waren von der Aktion so angetan, dass sie seekrank wurden.
Seit kurzem schlägt eine andere Mode hohe Wellen. Wie fühlen sich muslimische Frauen, die Kopftuch tragen? Nicht, dass sie unter Umständen keine Luft bekommen, schwitzen und dampfen, nein, wie fühlen sie sich, wenn sie angeglotzt werden? Doch nicht etwa ausgegrenzt?
Die Schüler einer Schule in Magdeburg starten einen "Selbstversuch", um herauszubekommen, "wie sehr sich die Leute über das Kopftuch aufregen und es immer noch nicht akzeptieren". Eine junge Frau namens Pauline stellt sich als Versuchsobjekt zur Verfügung und zieht los. "Pauline geht mit Kopftuch duch die Straßen... Blicke, Kopfschütteln und sogar Kommentare kommen von Passanten, die sich in Paulines Umgebung unwohl fühlen", sagt eine Stimme aus dem Off. "Man ist unter ständiger Beobachtung, als wäre man ein Schwerverbrecher, Pauline will sofort wieder zurück und das Kopftuch absetzen, da sie nicht mehr von anderen belästigt werden will."
Leider hat man es versäumt, den jungen Leuten, die Pauline mit einer Kamera begleiten, zu sagen, dass es der Glaubwürdigkeit eines Films zugute kommt, wenn das, worüber in dem Film geredet wird, auch gezeigt wird. Pauline wandelt durch leere Straßen, weit und breit kein Passant, der sie anschaut, mit dem Kopf schüttelt oder gar böse Kommentare ablässt. Hat sie sich das alles nur eingebildet? Passiert so etwas, wenn man/frau ein Kopftuch aufsetzt? "Es tut echt weh", sagt Pauline hinterher, "aus manchen Situationen würde man gerne flüchten". Nur wenn sie an Muslimen vorbeigelaufen ist, fühlte sie sich besser, "weil das für sie halt normal ist". Ein toller Selbstversuch, der demnächst in den regulären Lehrplan aufgenommen wird.
Einen anderen, aber doch sehr ähnlichen Selbstversuch unternimmt eine junge Reporterin der Allgemeinen Zeitung in Mainz. Sie verwandelt sich in eine "Muslimin für einen Tag". Das ist noch einfacher als Speed-Dating. Kopftuch angelegt und fertig. Um nichts falsch zu machen, lässt sich die Reporterin von einer modern-orthodoxen Muslimin helfen: Saleha. Sie trägt ein sehr aufwendig gebundenes Kopftuch, das sie auch daheim anbehält. Es helfe ihr, "eine reizfreie Atmosphäre" zu schaffen, deswegen sieht man überall Bilder von Salehas Mann, einem Cousin, und den zwei Kindern des Paares, aber kein einziges Foto von Saleha selbst. Wen aber, außer ihren Mann, könnte ein Foto von Saleha reizen? Und wenn es darum geht, eine reizfreie Atmosphäre zu schaffen, warum trägt Saleha ein Make-up, als wollte sie sich bei Crazy Horse als Nummerngirl bewerben? Fragen über Fragen und keine Antwort in Sicht.
Zusammen machen sich die Reporterin und Saleha auf den Weg in Stadt, Tücher auf dem Kopf, bodenlange Mäntel, die alles verhüllen, was eine reizfreie Atmosphäre gefährden könnte. Und es funktioniert. Niemand schaut ihnen nach, keiner macht sie an. In der Straßenbahn, die sie in das Gemeindehaus bringt, diskutieren sie über Grundsätze. "Glaube und Wissenschaft, wie passt das zusammen?" Saleha findet, dass "Islam und Wissenschaft keinen Widerspruch" bilden, weil "vieles, das in der Wissenschaft erarbeitet und erforscht wurde, das wurde im Koran bereits vor 1.400 Jahren schon gesagt". Jetzt will es die Reporterin ganz genau wissen. "Zum Beispiel?"
"Zum Beispiel", antwortet Saleha, "allgemein der Urknall oder wie die Erde erschaffen wurde", im Koran stehe, "dass Gott die Erde erschaffen hat", mehr könne sie nicht sagen, "da müsste ich mich nochmal genauer damit befassen".
Womit sich Saleha bereits genau befasst hat, das sind die Motive der "terroristischen Gruppen". Diese, sagt Saleha, "wollen sich nur rächen, die haben mit der Religion oder dem Islam eigentich gar nichts mehr zu tun, sie wollen sich einfach nur dafür rächen, dass sie unterdrückt wurden in der Kolonialgesellschaft zum Beispiel, sie ausgebeutet wurden und so weiter, und die benutzen dann den Islam dafür". Hier wäre die Frage fällig, ob das auch im Koran steht oder ob es sich um eine wissenschaftich erarbeitete Erkenntnis handelt. Aber auch diese Frage bleibt ungestellt, vermutlich der reizfreien Atmosphäre zuliebe.
Was nimmt die Reporterin von ihrer Begegnung mit Saleha nach Hause, was hat sie gelernt? Wie die Welt entstanden ist? Was die Terroristen an- und umtreibt? Nicht ganz. "Mir ist an diesem Tag klar geworden, dass es nicht den einen Islam gibt, sondern viele unterschiedliche Strömungen. Mit vielen Werten und Ansichten stimme ich hier überein und sehe Parallelen zum Christentum."
So ist es. Die einen glauben an den Urknall, die anderen haben einen.