Bei der konstituierenden Sitzung des Landtags gab es in Sachsen, anders als in Thüringen, keinerlei Eklat um die AfD, stattdessen zunächst eine Mehrheit gegen die Vizepräsidenten von BSW und SPD.
Seit der Landtagswahl vom 1. September 2024 werden Sachsen und Thüringen immer in einem Atemzug genannt, wenn über die politischen Folgen der Wahlergebnisse gesprochen wird, die in beiden Ländern starke AfD- und BSW-Fraktionen in die Landtage brachten. Regierungsbildungen unter Einhaltung aller Abgrenzungen und Brandmauern sind kaum möglich, insofern sind ja Ähnlichkeiten vorhanden.
Betrachtet man aber die konstituierenden Sitzungen beider Landtage, so scheinen die Parlamente in Erfurt und Dresden in unterschiedlichen Welten zu liegen.
In Erfurt gab es bekanntlich bereits am Beginn der Sitzung einen solchen Eklat, dass die weitere Tagesordnung vom Verfassungsgericht vorgegeben wurde. Alle Parteien – von CDU bis zu den mittlerweile gespaltenen SED-Erben – hatten dort alles daran gesetzt, die Wahl einer AfD-Landtagspräsidentin zu verhindern und verweigerten der Kandidatin anschließend auch das Vizepräsidentenamt.
Dagegen wirkte die sächsische Parlamentskultur regelrecht wohltuend. Einen ähnlichen Eklat hatte hier auch niemand erwartet. Zum einen ist die Abstimmung über eine neue Geschäftsordnung vor der Wahl des Landtagspräsidenten hier nichts Neues, vor allem aber lag das Recht der stärksten Fraktion, den Landtagspräsidenten zu nominieren, bei der CDU. Wenn überhaupt, dann hätten hartgesottene AfD-Gegner nur versuchen können, der vielerorts von solchen Ämtern ausgegrenzten Partei das Vizepräsidentenamt zu verweigern.
Aber das stand offenbar für die meisten Abgeordneten nicht auf der Tagesordnung. Warum auch? Der neue AfD-Vizepräsident sollte mit André Wendt der alte Vizepräsident werden, und der war in den vergangenen fünf Jahren weder mit „Putsch“ oder „Machtübernahme“ aufgefallen, insofern waren diese aus dem aktuellen Thüringer Parlamentsbetrieb bekannten Zuschreibungen in den Debatten der ersten sächsischen Landtagssitzung dieser Legislaturperiode kaum zu vernehmen.
Eine Diskussion, die den Namen verdient
Bei allem gesitteten und zivilisierten Umgang miteinander – eigentlich ist es schlimm, dass allein das heutzutage schon berichtenswert ist – sorgten die sächsischen Volksvertreter dennoch für ein paar Überraschungen. Konkret gesagt: Vermutlich wollten CDU-Abgeordnete ein klares Zeichen gegen ihre Führung und gegen den Koalitionskurs ihres Ministerpräsidenten setzen. Doch der Reihe nach.
Nach der Eröffnung und einer angemessenen Rede des Alterspräsidenten von der CDU wurde der Geschäftsordnungsantrag von CDU, SPD und BSW beraten und abgestimmt. Auch wenn nur die – nach der Vorstellung einiger führender Parteifunktionäre – künftigen Regierungsparteien den Antrag gemeinsam einbrachten, lobten die Vertreter aller Fraktionen die Allparteien-Gespräche, die es im Vorfeld über die neue Geschäftsordnung gegeben habe. Jan-Oliver Zwerg von der AfD würdigte ausdrücklich, dass das tatsächlich eine Diskussion war, die diese Bezeichnung verdiente und bedankte sich dafür. Ähnliches war fraktionsübergreifend zu hören.
Nein, es herrschte dennoch keine vollendete Harmonie, aber es wurde sachlich über die wichtigsten Neuerungen der Geschäftsordnung diskutiert. Beispielsweise sind künftig nicht nur Zwischenfragen, sondern auch Zwischenbemerkungen zulässig, die Abläufe bei der Befragung der Staatsregierung wurden verändert, den Regierenden mehr Zeit für die Beantwortung von Anfragen eigeräumt. Letzteres war umstritten, wie auch die Schaffung eines vierten Vizepräsidenten-Postens. Bislang waren es drei, aber dann hätten nur die drei stärksten Fraktionen einen bekommen, und die SPD wäre leer ausgegangen. Also gibt es nun vier, damit die Genossen an der Parlamentsspitze vertreten sind. Grüne und Linke sind es nicht.
Die AfD beklagte, dass für manche Entscheidungen, wie beispielsweise die Absetzung von Ausschussvorsitzenden, künftig die einfache Mehrheit genüge. Bisher war eine Zweidrittelmehrheit vonnöten und die ist ohne die AfD oder den Freien-Wähler-Abgeordneten Matthias Berger nicht zu haben.
Antidemokratisch gesinnt?
In dieser Parlamentssitzung waren aber die verbalen Angriffe auf die AfD seltener und in der Regel auch kultivierter, als man das aus anderen Parlamenten kennt. Laura Stellbrink (SPD) erklärte allerdings, dass die AfD zwar demokratisch gewählt aber antidemokratisch gesinnt wäre.
Valentin Lippmann (Grüne) warf der AfD vor, in Thüringen einen parlamentarischen Putsch versucht zu haben, weshalb seine Fraktion nun hier einen Ergänzungsantrag für mehr Klarheit über den Ablauf und die Abgeordnetenrechte gegenüber einem Alterspräsidenten in einer Eröffnungssitzung stelle.
Als später über ebendiesen Ergänzungsantrag debattiert wurde, traute vielleicht manch einer seinen Ohren nicht, als er hörte, wie der AfD-Abgeordnete Jan-Oliver Zwerg zu genau diesem Antrag Stellung nahm:
„Wir als AfD-Fraktion finden es richtig, dass die Fraktion Bündnis 90/ Grüne diesen Änderungsantrag eingebracht hat. Es geht hier um eine Klarheit, also Klarstellung, wie eine erste Sitzung abzulaufen hat: Was gilt noch, was gilt ab welchem Zeitpunkt. Das können wir nur befürworten. Damit ergeben sich keine anderen Konstruktionen, Konstellation und wir wollen diesmal auch gerne zustimmen."
Dieser von Grünen und AfD unterstützte Ergänzungsantrag war denn auch der einzige, der im Plenum eine Mehrheit und damit Eingang in die neue Geschäftsordnung fand. Und niemand hat das Bröckeln der Brandmauer beklagt.
Für den AfD-Mann Zwerg war dieses Votum folgerichtig, schließlich hatte er zuvor betont, dass die Spielregeln nicht während des Spiels oder kurz vor dem Anpfiff geändert werden sollten. Die kleinen Seitenhiebe nach Thüringen machten – ob es so gewollt war oder nicht – deutlich, dass Eskalationen wie in Erfurt offenkundig vermeidbar sind.
Die AfD-Ergänzungsanträge fanden keine Mehrheit, obwohl doch vielleicht auch etliche Abgeordnete anderer Fraktionen gern beispielsweise für eine grundsätzliche Zulassung der Öffentlichkeit in Ausschusssitzungen oder gegen einen teuren vierten Vizepräsidentenposten gestimmt hätten. Aber da wirkte die Brandmauer trotz aller Harmonie.
Ein CDU-Zeichen gegen den Kretschmer-Kurs?
Dennoch nutzten wohl CDU-Mandatsträger die erste Landtagssitzung nach der Wahl, um überraschend ein Zeichen zu setzen, das ihrer Führung nicht gefallen kann. Allerdings wählten sie zuvor mit einer Mehrheit des Hauses erst einmal den Christdemokraten Alexander Dierks zum Landtagspräsidenten. Der mühte sich in seiner Eröffnungsrede wiederum um sächsische Entspannungs-Töne im überall spürbaren Kalten Krieg an der Brandmauer: „Wir sind Mitbewerber, wir sind bisweilen in harten Debatten auch mal Gegner, aber wir sind niemals Feinde liebe Kolleginnen und Kollegen“.
Mancher Beobachter wartete nun aber, was wohl die Wahl der Vizepräsidenten bringen würde. Nach der gerade beschlossenen Geschäftsordnung durften die vier stärksten Fraktionen jeweils einen Kandidaten für einen der vier Vizepräsidenten benennen. Nach Thüringen hat sich sicher manch ein Zuschauer gefragt, ob auch in Sachsen der AfD-Kandidat von den anderen Parteien nicht gewählt wird, um Mitglieder dieser Partei von einem solchen Amt auszuschließen. Doch in Sachsen wurden bei der Vizepräsidenten-Wahl überraschend ganz andere Akzente gesetzt. Die Kandidaten von CDU und AfD bekamen im ersten Wahlgang die nötigen Mehrheiten. Aber nicht die Kandidaten von BSW und SPD.
Eilig beantragte die CDU-Fraktion eine Besprechungspause. Offenbar ging die Fraktionsführung davon aus, dass vor allem christdemokratische Abgeordnete den Vertretern der Parteien, mit denen sie nach dem Willen des Ministerpräsidenten und CDU-Landesvorsitzenden Michael Kretschmer koalieren sollen, versagten.
Gut fürs Parlament
War das die Demonstration jener Abgeordneten, die keine neue Linkskoalition der CDU mehr wollen und nun zeigten, dass sie selbiger auch ihre Stimme verweigern könnten? Für Kretschmer ist dieses Stimmverhalten in jedem Falle ein Alarmsignal. Eine Regierungsbildung mit BSW und SPD könnte auch an mangelnder Unterstützung in der eigenen Partei scheitern.
Als die Abgeordneten aus der kurzen Beratungspause zurückkehrten, erwartete wohl jeder, dass nun im zweiten Wahlgang die restlichen beiden Vizepräsidenten gewählt würden. Doch nur der Mann vom BSW bekam eine Mehrheit, der SPD-Kandidat scheiterte erneut. Einige Beobachter glaubten, das könne nun auch ein Protest gegen den vierten Vizepräsidenten-Posten gewesen sein, der ja quasi für die SPD geschaffen wurde. Das bleibt, wie nach jeder geheimen Wahl, natürlich immer etwas spekulativ.
Auch wenn dann nach dem dritten Wahlgang das Präsidium, wie geplant, komplett war, so haben etliche Abgeordnete des Sächsischen Landtags am ersten Tag offenbar zeigen wollen, dass sie auch anders abstimmen können, als es von ihnen erwartet wird. Das bekommt einem Parlament und der parlamentarischen Demokratie in der Regel gut.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.