Peter Grimm / 07.09.2017 / 06:09 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 18 / Seite ausdrucken

Lammern und merkeln bis der Notarzt kommt

Den Autor dieser Zeilen haben in den letzten Tagen Zweifel geplagt. Sollte man zu den Wahlkampf-Fernsehspielen „TV-Duell“ und „Fünfkampf“ wirklich noch etwas schreiben? Die Medien werden doch ohnehin geflutet von verschiedenen Nachbereitungen dieser Nicht-Ereignisse, von zahllosen Interpretationen der lauen Wahlkampfdarstellungen, von denen eine nur deshalb gute Noten bekam, weil die andere eher der Rückschau alter Eheleute zur Goldenen Hochzeit glich. Wüsste man es nicht besser, so hätte man annehmen müssen, Angela Merkel habe ihre gesamten Amtsjahre in einer Bundesregierung mit Martin Schulz verbracht.

Dass die Kollegen überhaupt so viel darüber schreiben und senden sollten, ließ mich kurzzeitig um meinen gesunden Menschenverstand fürchten, denn ich konnte beileibe weder die inhaltliche Substanz noch die Spannung entdecken, die viele Medienarbeiter in Zeilen und Sätze zu gießen vermochten. Konnte es wirklich sein, dass sie alle dem nackten König beziehungsweise der nackten Königin nur die neuen Kleider andichteten, die sie zu sehen hofften, obwohl sie eigentlich die Armseligkeit der Debatte erkannten?

Institutionen und Medien haben für die Kommunikation mit Menschen, die komplexe Sachverhalte nur schwer oder gar nicht sprachlich erfassen können, in jüngster Zeit den Gebrauch der „leichten Sprache“ entdeckt. Dieser sogenannte Wahlkampf liefert dazu passgenau die leichten Inhalte. Fakten, die das Publikum zur Mühsal eigenen Denkens ermuntern könnten, werden zuverlässig umschifft.

Gemeinsam beten im stillen Kämmerlein

Für die Zuschauer, die das mit dem Denken partout nicht lassen können, gab es im sogenannten TV-Duell immerhin ein paar lichte Momente mit etwas Unterhaltungswert. Alles ist ja schon besprochen und gewürdigt worden. Selbst die schöne Duell-Szene, in der Merkel und Schulz nebenbei gefragt werden, ob sie eigentlich am Sonntag beim Gottesdienst waren. Beide reagierten sofort wie die ertappten Schulkinder, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Sie hatten offenbar beide das unbestimmte Gefühl, dass sie eigentlich jetzt sagen müssten, dass sie bei einem Gottesdienst waren. Nur stimmte das nicht. Also redeten sich Angela und Martin damit heraus, letztens aber in einer Kirche respektive Friedhofskapelle gewesen zu sein. Martin beendete die Szene dann genial mit der Feststellung, sie beide hätten aber im stillen Kämmerlein gebetet.

Wem das Kanzlerin- und Kandidaten-Gebet zur Anregung noch nicht gereicht hat, für den hatte – wiederum Martin Schulz – noch ein weitgehend übersehenes Geständnis im Angebot. Als er auf seinen Vorwurf, die Kanzlerin schade der Demokratie, angesprochen wurde, da relativierte er, was das Zeug hielt. Das Zitat stamme ja aus einer Parteitagsrede und in dieser Schärfe würde er das nicht wiederholen, aber er hätte das Gefühl gehabt, dass der politische Diskurs untergegangen sei. Und mit der etwas scharfen Formulierung war es sein Ziel, eine Kontroverse zu erreichen. Dass eine Kontroverse nicht allein kraftvolle Worte, sondern zunächst inhaltlichen Widerspruch braucht, dürfte auch Martin Schulz wissen. Doch woher soll man den nehmen, wenn es keinen gibt?

Wie kann auch ein Wahlkampf für ein Parlament noch spannend sein, in dem es die Abgeordneten nicht für nötig hielten, darauf zu bestehen, dass eine existenzielle Frage wie die Freigabe des Landes zu unkontrollierter Millionenzuwanderung, nur von ihnen als gewählte Vertreter des Souveräns entschieden werden kann? Willig versteckten sie sich vor der Verantwortung, ließen die Kanzlerin machen und nicht wenige von ihnen jubelten ihr dafür erst zu, um später ihren Wählern zu erzählen, wie kritisch sie den Merkel-Kurs sähen. Letztlich haben hier – unabhängig davon, zu welcher Entscheidung der Bundestag gekommen wäre – die Abgeordneten aller im Hause vertretenen Parteien vollkommen versagt. Sie haben die Erfüllung ihrer Pflicht verweigert, indem sie auf das Recht der Entscheidung verzichteten und die Regierung durch Stillschweigen zum Handeln ermächtigten.

So hat eine Entscheidung, die die deutsche Zukunft nachhaltig und irreversibel prägt, keine hinreichende demokratische Legitimation, aller schönen Worte und Sprechblasen zum Trotz.

Symptome einer schweren Krankheit

Eigentlich haben sich viele Menschen an die sinnentleerten Textbausteine aus dem Politikbetrieb inzwischen so sehr gewöhnt, dass sie sie routiniert überhören. Diktaturerfahrene Mitbürger kennen das noch von früher, als man die omnipräsenten Parolen und Losungen der Staats- und Parteiführung auch nicht mehr bewusst wahrnahm. Aber irgendwann ist es eine zu viel.

Wie beschrieben, zweifelte ich ja eher entweder an meinem Geisteszustand oder dem etlicher Journalisten-Kollegen, weil die so viel Inhalt und Diskurs in diesen schlechten Inszenierungen der Wahlkampf-Fernsehspiele entdecken konnten und ich nicht. Doch dann beruhigte ich mich mit dem Gedanken, dass die anderen einfach einen Arbeitsauftrag erfüllen mussten, während ich sagen konnte, dass dieses schlechte Stück Schein-Demokratie eigentlich kein Wort der Aufmerksamkeit verdient hat und mir deshalb nichts Originelles einfalle.

Etwas Originelles ist mir bis jetzt auch nicht eingefallen, wie Sie sehen. Doch Dr. Norbert Lammert hat mir die Augen geöffnet, dass diese Sprechblasen-Flut und die dazugehörige Textbaustein-Lawine keine Ärgernisse sind, die sich durch großmütiges Ignorieren erledigen, sondern Symptome einer schweren Krankheit.

Lammert hat am Dienstag seine Abschiedsrede als Bundestagspräsident gehalten. Dort fiel der denkwürdige Satz: „Hier im Deutschen Bundestag schlägt das Herz der Demokratie.“ Er sagte das an dem Ort, an dem diejenigen, die dafür bezahlt werden, nicht einmal versucht haben, ihre Mitwirkung an der demokratischen Entscheidung über Grundsätzliches einzufordern. Wenn das das Herz der Demokratie ist, dann haben wir es aber mit einem schweren Demokratie-Infarkt zu tun.

Bei seiner Antrittsrede als Bundestagspräsident im Jahr 2005 – Angela Merkel war gerade Bundeskanzlerin geworden – hatte er schon einmal eine Variation dieses Satzes gebraucht: „Hier schlägt das Herz der Demokratie oder es schlägt nicht.“ Jetzt schlägt es dort aber nicht, wenn es um entscheidende Fragen geht. Was heißt das nun? Sollten wir den Notarzt rufen oder weiter auf Frau Dr. Merkel vertrauen?

Der Beitrag erschien auch auf Peter Grimms Blog sichtplatz

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Leserpost

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Anita Tremboldt / 08.09.2017

Demokratie-Infarkt? Nein, schon längst Herzstillstand! Da helfen nur noch ein paar kräftige Elektroschocks!

Marie Erlwein / 07.09.2017

Wir sollten am 24. September die Notbremse ziehen!

Erich Schmidt / 07.09.2017

Mir klingt noch das Gejohle der Parlamentarier in den Ohren, als Erika Steinbach in ihrer letzten Rede vor dem “Hohen Haus” darauf hinwies, dass dies ihre letzte Rede sei. Die Abgeordneten, denen es doch eigentlich ein Herzensbedürfnis sein müsste, andere von ihren eigenen Idealen zu überzeugen, klopften sich auf die Schenkel und johlten darüber, dass von nun an für den Rest der Legislaturperiode die friedliche Harmonie im Parlament durch keine Störenfriede mehr getrübt sein würde. Das war eine volkskammerreife Szene. Der Gipfel war dann die Reaktion von Lammert auf die Rede von Steinbach. Es wird Zeit, dass dieses Parlament sich auflöst oder endlich in Volkskammer umbenennt.

Frank Weber / 07.09.2017

Der Infarkt ist da, und er wiegt schwer. Immerhin: am 24.09. gibt’s eine “Bluttransfusion” mit “10% plus X” für eine echte Opposition.

Andreas Rühl / 07.09.2017

Mit dem Infotainment tun wir uns in der Tat schwer, da steht wohl eine spezifisch deutsche Ernsthaftigkeit in politischen Fragen, vor allem aber das Bemühen, es allen recht zu machen und keinem weh zu tun, im Wege. Das Resultat ist so unerträglich wie das bartbegränzte Antlitz des angeblichen “Kanzlerkandidaten”. Der spezifische Deutsche mag es eben nicht, wenn sich die Politiker streiten. Worüber auch? Es gibt doch nur eine Wahrheit. Das Richtige. Das Richtige, das man tun muss. Und das Falsche, das man lässt. Die Vorstellung, dass alles fallibel ist (sogar die Aussage, dass alles fallibel sei), ist uns spezifizierten Deutschen eben wesensfremd. Diskurse mögen wir nicht. Weder in der Theorie noch in der Praxis. Wir streben einen totalen und allgemeinen Religionsfrieden an, einen Frieden, der alle Dychotomien überwindet, der alle Dillemata auflöst, der das Unvereinbare vereinbar macht, vor allem: der uns uns selbst ertragen läßt. Wenn man so will: Diese hohle und sinnlose Geschwätz ist die Heimkehr des Deutschen zu seiner spezifisch deutschen Denk- und Sprechkultur. Widerborste sind eben undeutsch. Deutsch ist die Harmonie, das “Einssein” mit sich selbst, der Arbeiter, der seiner Arbeit nicht “entfremdet” wird, die “gute deutsche Marken-Butter”, die eben echte Butter ist und nichts anderes, das Streben nach Eigennutz kann daher niemals gemeinnützig sein, wer aus der Reihe marschiert, die immer noch fest geschlossen sind, wird abserviert, wobei “links” und “rechts” schon damals, aber erst recht heute, keine Gegensätze sind, sondern bloß andere Worte für die gleiche Sache. Die wahren Gegensätze, die zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen notwendiger Ordnung und individuellem Streben nach Glück, zwischen Staatsvergottung oder Autonomie des Individuums müssen in den Debatten also ausgespart werden, die Wirklichkeit mit ihrem unauflöslichen Widersprüchen bleibt außen vor. Von daher sind diese beiden totalidentischen Gestalten die wahren Repräsentanten eines Volkes, dessen größte Dichter und Denken an ihm traditionell und sehr spezifisch deutsch seit jeher verzweifelt sind.

Stefan Leikert / 07.09.2017

Das ist ein schwieriges aber auch verführeisches Bild, Demokratie als etwas Lebendiges zu nehmen. Da kann Trauer aufkommen. Wenn man von Kräften redete, die da wirksam sind, zuweilen in verschiedene Richtungen oder gegeneinander, kann man leichter Akteur bleiben und den Kräften Wege freimachen oder verstellen.

Florian Bode / 07.09.2017

Die Aufgabe des Berliner-Volkskongresses besteht darin, nach vorheriger Parteienabsprache das Kanzler* zu wählen. Danach müsste er für 4 Jahre nicht mehr zusammentreten, da es nichts zu entsheiden gibt.

Peter Sticherling / 07.09.2017

Ich bin dafür, den Notarzt zu rufen, weiß aber nicht, wo einer ist und wenn es einen gäbe, wie er erreichbar wäre, Ich fürchte, dass jeder Hilferuf zu spät kommt.

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