Nach dem Eklat im Thüringer Landtag verstärkt sich die Schlussfolgerung vieler Wähler, dass sie von „diesem System“ nichts mehr zu erwarten haben, weil es stets wortreiche Begründungen findet, während des Spiels nach Belieben die Regeln zu ändern.
Wahlen gelten für gewöhnlich als das Hochamt der Bürgerbeteiligung in demokratisch verfassten Staaten, und die Eliten derselben bilden sich oft eine Menge darauf ein, dass sie ihre Macht durch Wahlen legitimieren lassen. Was nicht bedeutet, dass man dem großen Lümmel Volk keine Grenzen setzen würde, indem man die Kontrolle darüber behält, wer sich zur Wahl stellen darf oder wie das Ergebnis einer Wahl zu interpretieren ist.
Denn es kommt in westlichen Staaten gar nicht gut an, wenn man sich eines Kandidaten durch Gewalt entledigt, wenn er das Machtgefüge ernsthaft infrage stellt. Also geht man, wenn der Wähler nicht gehorcht, den Weg durch die Rechtsinstanzen. Schließlich ist man nicht nur eine Demokratie, sondern auch ein Rechtsstaat. In Brasilien verhängte das Oberste Gericht 2022 gegen den unterlegenen Jair Bolsonaro ein Politikverbot. In den USA versuchten einzelne Bundesstaaten, Donald Trump als „verurteiltem Verbrecher“ den Eintrag auf Wahlzettel zu verweigern.
Die Verurteilungen selbst ließen sich nur durch geschickte Interpretation von Vergehen und die rückwirkende Veränderung von Verjährungsfristen bewerkstelligen. Ebenfalls in den USA verweigerte man Robert F. Kennedy junior in manchen Bundesstaaten, in denen es für die Demokratische Partei sehr knapp werden kann, zunächst den Eintrag auf die Wahlzettel. Nachdem er aus dem Rennen ausgeschieden war, verweigerte man ihm die Streichung seines Namens.
Und dann ist da natürlich noch Thüringen, wo nach der rückgängig gemachten Wahl des Thomas Kemmerich (FDP) im Jahr 2020 nun zum zweiten Mal die Kreidelinien auf dem Spielfeld der Demokratie neu gezogen wurden. Diesem kleinen Bundesland steht in der globalen Maggi-Küche der Demokratie-Geschmacksverstärker offenbar eine Vorreiterrolle zu.
„24-00036 Beschluss nicht barrierefrei“
Die PDF-Datei, in welcher das Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofes ausgereicht wurde, trägt den wundervoll doppeldeutigen Namen „24-00036_Beschluss_nicht_barrierefrei“ und ist beeindruckende 36 Seiten lang, wenn man bedenkt – oder unterstellt – dass das Gericht keine 24 Stunden Zeit hatte, sie zu diskutieren, zu verfassen, zu prüfen und mit Quellen und Zitaten anzureichern. Und Barrieren enthält es in der Tat! Die juristische Einordnung muss ich als Laie natürlich den Verfassungsrechtlern überlassen. Doch da sich auch juristisch dilettierende Politiker, zu deren Gunsten das Urteil ausgefallen war, mit Wertungen nicht zurückhalten, erlaube ich mir doch einige Anmerkungen und Interpretationen. Man darf auch davon ausgehen, dass die Thüringer Wähler bei ihrem eigenen Dafürhalten nicht auf Anweisungen aus der Staatskanzlei warten werden. Also, was haben wir?
1) Die Tradition, konstituierende Sitzungen in deutschen Parlamenten von Alterspräsidenten leiten zu lassen, neigt sich endgültig dem Ende zu. Die „Gefahr“, dass ein Schwefelbube auch nur für eine Stunde eine parlamentarische Sitzung leiten könnte, um bei der Gelegenheit die „Macht zu ergreifen“, begegnet man ja bereits im Bundestag dadurch, dass der Abgeordnete mit den meisten parlamentarischen Berufsjahren die Ehre hat. Parteineugründungen oder Parteien, deren Abgeordnete ihr Mandat eher als Berufung, denn als dauerhaften Beruf verstehen, sind folglich auf absehbare Zeit aus dem Spiel.
2) Der Vorwurf, die AfD habe Alterspräsident Treutler mit Bedacht aufgestellt und platziert, um so die Gunst der Stunde zur Machtergreifung zu nutzen, ist nicht sehr glaubhaft: Treutler gehört dem Thüringer Landtag als gewählter Direktkandidat seines Wahlkreises an, nicht über eine nach parteiinternem Verwendungszweck manipulierbarer Kandidatenliste. Man beschwere sich also bei seinen Wählern, wenn man die Reaktionen ertragen kann. Vorwürfe gegen Treutler, er sei zu inkompetent und zu parteiisch, um die Sitzung zu leiten, sind auch haltlos, weil die Geschäftsordnung außer den zählbaren Jahren und einem erreichten Mandat eben keine Anforderungen an einen Alterspräsidenten stellt. Viel muss er ja auch nicht tun.
3) Tatsächlich wäre der Landtag in seiner ersten Sitzung auf ein mögliches Patt zugesteuert, weil die Geschäftsordnung in Thüringen nicht vorsah, dass, sollte sich der Kandidat der stärksten Fraktion einmal nicht nach einigen Wahlgängen durchsetzen können, andere Fraktionen dann ihrerseits Vorschläge hätten machen können. An dieser Stelle hätte das Verfassungsgericht sinnvoll eingreifen und eine entsprechende Regelung in der Geschäftsordnung erlassen können. Immer unter der Maßgabe, genau solche Patt-Situationen zu vermeiden, nicht etwa bestimmte Parteien. Übrigens hatten ausgerechnet die Grünen dies offenbar vorhergesehen und in der letzten Legislaturperiode eine Änderung der Geschäftsordnung beantragt. Die CDU – in der irrigen Annahme, am Ende doch noch irgendwie stärkste Kraft zu werden – lehnte den Antrag ab. Andreas „Das ist Machtergreifung!“ Bühl von der CDU erklärte, man habe damals keinen dringenden Handlungsbedarf gesehen. Da lacht das Analystenherz, denn wenn die Schwefelpartei immer nur dann zur Geißel des Faschismus erklärt wird, wenn die Plätze an den Fleischtöpfen neu verteilt werden, sagt das mehr über die Gierigen an den Fleischtöpfen als über die Geißel des Faschismus aus.
4) Die AfD hatte also einige Veranlassung, zu glauben, dass die alten Spielregeln noch Geltung hätten. Und es brauchte die inszenierte Empörung über einen Antrag zur Tagesordnung, um endlich das Verfassungsgericht hinzuziehen zu können. Dort entschied man wie gehofft, dass nicht nur Anträge zur Tagesordnung, sondern auch Anträge zur Änderung der Geschäftsordnung jederzeit möglich sind. Das Urteil könnte eines Tages als Bumerang zu den Initiatoren zurückeilen, sollte sich in Zukunft ein mit noch größerer Mehrheit ausgestatteter Wahlsieger über die Rechte von anderen Fraktionen hinwegsetzen wollen.
5) Das Gericht hätte das Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion erhalten und eine Regel ergänzen können, dass nach drei erfolglosen Wahlgängen die anderen Fraktionen ein Vorschlagsrecht haben. Doch war man sich dieses Patts im Parlament nicht so ganz sicher. Offenbar trauten die Abgeordneten der sogenannten demokratischen Parteien sich gegenseitig nicht über den Weg und vermuteten, in geheimer Abstimmung könne der eine oder andere sein Kreuzchen bei der AfD machen, so dass jemand gewählt würde, der nicht gewählt werden darf.
6) Aus Sicht des Gerichtes haben die Landtagsfraktionen, so wie wir sie kennen, ihre Bedeutung verloren. Relativ stärkste Kraft in einem Landtag zu sein, berechtigt zukünftig zu überhaupt nichts mehr. Der Zugriff auf Ämter und Positionen ist ab sofort an eine absolute Mehrheit gekoppelt, und die wird in Thüringen gebildet von einer Meta-Fraktion aus Konservativen und Kommunisten. In der Folge haben wir es in Deutschland nicht nur faktisch, sondern jetzt auch juristisch mit der Ausprägung eines dysfunktionalen Zwei-Parteien-Systems zu tun, in dem die eine Seite dank ihrer Stärke von etwa zwei Dritteln sich für die nächsten Wahlperioden Zeit gekauft hat. Zeit, diese eine letzte und nicht mehr über die Geschäftsordnung anzuhebende Hürde zur Macht zu „schützen“: 50 Prozent + X. Der Countdown für ein auf Fakten biegen und Gesetze brechen herbeigezerrtes Verbotsverfahren gegen die AfD ist jedenfalls lautstark gestartet.
Von „diesem System“ ist nichts mehr zu erwarten
Wie das Ganze wirkt, wenn man es von außen betrachtet, ist den treibenden Kräften offensichtlich längst egal. Die „Würde des hohen Hauses“, die sonst in jeder Rede beschworen wird, ist in Erfurt unter die Räder gekommen, jedes Dekorum demokratisch legitimierter Rede verschwunden. Man bittet auch nicht mehr – wie es seit der Versammlung in der Paulskirche Tradition ist – den Sitzungsleiter um das Wort. Das Wort wird ergriffen, nicht erteilt. Die Prätorianergarde der Macht, also die Verwaltung des Landtages, ergriff aus Angst um ihre Jobs sogar selbst Partei, indem sie Mikrofone nach Gusto offen ließ oder abregelte. Um Ulbricht zu paraphrasieren: Wir haben es kaum noch in der Hand und demokratisch sieht es schon lange nicht mehr aus!
Nach dem raschen Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofes, in dem der Alterspräsident Dienstanweisungen von der Justiz erhielt, konnte am 28.9. die Sitzung doch noch weitergehen. Und zwar mit der Ernennung zweier vorläufiger Schriftführer, wozu der Sitzungsleiter zwei Tage zuvor dank der gekonnt inszenierten Empörung des Plenums nicht gekommen war. Der Thüringer Landtag schritt nun nach neuen Regeln zur Wahl und bestimmte seinen Präsidenten „aus seiner Mitte“, wie das im Neusprech heißt. Als Kandidat der neu gebildeten Blockpartei aus CDU, BSW, Linke und SPD erhielt Thadäus König (CDU) die notwendigen Stimmen, und vielleicht macht er seine Sache ja sogar ganz gut.
Dennoch haftet an ihm der Makel oder das Misstrauen – je nachdem wie man das sehen möchte –, dass er der gemeinsamer Kandidat von Parteien ist, die nichts verbindet als ihr faktisch schlecht begründeter Kampf gegen die AfD. Die verbliebenen Wähler der CDU dürften in ihren Überzeugungen weit weniger promisk sein als ihre Politiker und schauen leicht misstrauisch auf den Kurs ihrer Partei, gerade mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl.
Über den Wert dieses Sieges der neuen Blockpartei über die AfD wird sicher noch viel geredet werden. Eine willkommene Abwechslung, denn so bleibt viel weniger Zeit, über die tatsächlichen Probleme des Landes zu sprechen. Und ich rede nicht nur von der politikgemachten wirtschaftlichen Rezession, in die wir geradezu hineinrennen. Viel gefährlicher als ein dräuender Parlamentspräsident der AfD in Thüringen ist nach meiner Meinung die sich ausbreitende Schlussfolgerung vieler Wähler, dass sie von „diesem System“ nichts mehr zu erwarten haben. Dass sie ihm nicht trauen können, weil es stets wortreiche Begründungen findet, während des Spiels nach Belieben die Regeln zu ändern, um seine Macht zu sichern, die Wähler vor ihren schlechten Entscheidungen zu schützen.
In Thüringen ist das jeder Dritte.
Roger Letsch, aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, als dieses noch in der DDR lag und nicht so hieß. Lebt in der Nähe von und arbeitet in Hannover als Webdesigner, Fotograf und Texter. Sortiert seine Gedanken in der Öffentlichkeit auf seinem Blog unbesorgt.de, wo dieser Beitrag zuerst erschien.