Seit 1993 lebe ich, mit einer Unterbrechung von gut vier Jahren, in Lüneburg. Bevor ich endlich meine heutige Frau kennenlernte, hatte ich – nur kurze Zeit – eine sehr deutlich jüngere Freundin, sie hatte das Abitur auf dem renommiertesten Lüneburger Gymnasium absolviert, dem Johanneum, gegründet 1406. Ob sie dort im Unterricht Weihnachtslieder gesungen hat, weiß ich nicht; diese Affäre spielte sich zu meinem Bedauern größtenteils in einem Raum ab, der wenig Platz bot für inhaltliche Diskussionen. So wie vielleicht heute die Entscheidung ihrer Schulleitung, von der die Rede sein wird. Denn das Johanneum hatte eine andere Tradition, die nun für immer erloschen ist – angeblich als Ergebnis langer Diskussionen.
Es geht dabei um Banales, die Weihnachtsfeier einer Schule, die wohl einige eher unbedeutende Jahrhunderte lang während der Unterrichtszeit stattfand. Seit eine muslimische Schülerin, die offenbar den Propheten Isa und die Sure Maryam nicht kennt, sich zuerst durch das Singen von Weihnachtsliedern und dann durch die Weihnachtsfeier während der Unterrichtszeit in ihrer Religionsausübung verletzt sieht, hat das Johanneum in diesem Jahr erstmals die Feier in die unterrichtsfreie Zeit verlegt und mit einem Weihnachtsbasar ergänzt. Der Schuldirektor ist – so heißt es – für diesbezügliche Anfragen nicht zu erreichen. Vielleicht grübelt er ja immer noch über dem Niedersächsischen Schulgesetz, in dem es heißt:
Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden,
- die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen, die sich
- daraus ergebende staatsbürgerliche Verantwortung zu verstehen und zur
- demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beizutragen,nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten,
- ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten,
- den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere die Idee einer gemeinsamen Zukunft der europäischen Völker, zu erfassen und zu unterstützen
- und mit Menschen anderer Nationen und Kulturkreise zusammenzuleben.
Die Atheisten in der Klasse beschwerten sich
Das Plakat des Johanneums zu seiner Weihnachtsfeier titelt entsprechend: „Alles Gäste zum Feste!“ Ich erkenne unter ihnen einen Alien, einen einäugigen Minion, einen Kater namens Johann, den Weihnachtsmann, einen Schneemann, ein narbiges Zombie-Mädchen, einen gewissen Jack (hoffentlich ist es nicht der Ripper), einen finsteren Salvador Dalí mit Pudelmütze und einen schwarzbraunen (?!) Dummy mit Fragezeichen. Eine Muslima im Kopftuch ist nicht dabei, wollte sie auch nicht – aber, ist das Plakat dann nicht diskrimierend, rassistisch gar, wenn darauf a priori Muslime ausgeschlossen sind, wenn sie nicht als solidarisch, tolerant, religiöse und kulturelle Werte erkennend und achtend, fähig zum Zusammenleben der europäischen Völker dargestellt werden.
Das allein ist für mich gewiss noch kein Grund zur Aufregung. In etwa so wie jetzt das Johanneum hielt es das Wilmersdorfer Goethe-Gymnasium, das ich bis Mitte der 1980er Jahre in Berlin besuchte, bereits damals. Im evangelischen Religionsunterricht waren wir zu dieser Zeit – jahrgangsübergreifend – gerade einmal sechs Figuren, den rührigen und entspannten Lehrer, Herrn H., eingeschlossen. Er verließ mit uns semi-legal das Schulgelände und hielt den Unterricht bei Kaffee, Tee und Keksen in einem nahe gelegenen Studentencafé ab. Das hielt das wackere Häuflein bei Laune.
Dann gab es da noch den ernsten, lässigen Geschichtslehrer Dr. Sch., der Herr Sch. genannt werden wollte. Die Atheisten in der Klasse beschwerten sich über die Vielzahl religiöser Inhalte, mit denen wir uns in Sachen Investiturstreit, Luthers Reformation und später Bismarcks Kirchenkampf beschäftigen mussten. „Ist mir egal“, konterte Sch., „ich bin auch Atheist. Aber wer die Bibel nicht gelesen hat, kann weder die Geschichte überhaupt noch diesen Kontinent begreifen, auch die USA, die Sowjetunion, Südamerika und den Nahen Osten nicht. Es kommt vor, dass sogar Lehrpläne einen Sinn haben. Lassen Sie uns einfach weiter machen. Luther bezog sich also in Worms auf jene Bibelstelle, in der es heißt...“
Im Altgriechischunterricht befassten wir uns mit der jungfräulichen Athene und dem Gehege ihrer Zähne, dem maßvoll-eitlen Apoll, dem gemobbten Hephaistos, dem notgeilen Zeus, seiner gestrengen Matrone Hera, dem dauerbesoffenen Dionysos und seinen barbusigen Mänaden. Seither weiß ich auch, warum man ein Auto nicht „Phaeton“ nennen sollte. Im Musikunterricht traktierte man uns dafür allen Ernstes am selben Tag mit dem „Horst-Wessel-Lied“ und der „Internationale“; parallel dazu waren wir im Deutschunterricht der Frau M. mit dem Recht auf Religionsausübung in der Bundesrepublik und der DDR beschäftigt, denn der Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns hatte sich in Teilen im kirchlichen Umfeld der DDR seinen begrenzten Freiraum gesucht.
Ich erlernte die Produktion von Keftedes und Tsatsiki
Das wussten auch die DDR-Schriftsteller, viele von ihnen Atheisten, und wir lasen sie. Im Kunstunterricht bei Herrn O. beschäftigten wir uns mit islamischen Einflüssen auf die Gotik. Spitzbögen, so lernten wir, haben zuerst muslimische Architekten gebaut und so größere Höhen erreicht als ihre romanischen Kollegen; von den Muslimen stammt auch die überreichliche Dekoration an Säulen und Pfeilern. Ziemlich zeitgleich gab es sogar eine multikulturelle Projektwoche, von uns fleißig besucht und ironisch „Multikultiprowo“ genannt. Ich erlernte die Produktion von Keftedes und Tsatsiki. Meine Frau sagt, ich profitiere noch heute davon.
Es war also ein ziemlich modernes, säkulares, ja, geradezu ein laizistisches Gymnasium, auf das ich da ging.
Und auch wir hatten eine jährliche Weihnachtsfeier (und es gibt sie immer noch), streng außerhalb des Unterrichts, an einem Abend, damit auch die stolzen Eltern die Leistungen ihrer Sprösslinge genießen konnten. Damals sorgte die exzentrisch-strenge Musiklehrerin, Frau B., dafür, dass Chor und Orchester das „Magnificat“ oder einen Teil aus Bachs „Weihnachtsoratorium“ recht gekonnt vortrugen, und ein grundsätzlich weiblicher Engel des humanistischen Schulbetriebs hatte die Weihnachtsgeschichte nach Lukas in altgriechischer Sprache aufzusagen. In meinem Jahrgang war der Engel die freche, bekennend links-grüne D., die ihre Sache großartig machte, aber den Religionsunterricht nicht besuchte. Mich machte sie wenig später auf einer Party mit Herbert Grönemeyer bekannt, natürlich nur akustisch.
Wir waren es, auch dank Herrn Schweitzer, inzwischen gewohnt, mit uns persönlich befremdender Kultur konfrontiert zu werden, und bereit, aus ihr etwas zu lernen, weil sie nun einmal eins war: unsere Kultur. Unter uns saßen bei der Weihnachtsfeier einige wenige Schwarze, Muslime und Juden. Damals, auf dem „Goethe“, in Berlin. Irgendwie muss sich seither etwas geändert haben, wenn auch über Jahrhunderte christlich geprägte Schulen das nicht mehr hinbekommen. Wahrscheinlich nennt man das „Toleranz“, „Gleichstellung“, nennt es „Integration“.
Als ich noch glaubte, man würde einander respektieren
Das Gebäude des Lüneburger Johanneums, eine von den Schulen, die schon lange hier leben, und die wir nicht gegen andere ausspielen, ist natürlich auch schon länger nicht mehr das gleiche wie 1406. Es ist heute ein grauer Beton-Flachbau nahe dem plattenbau-ählichen Wohnsilo-Stadtteil Kaltenmoor, wo der Wohnraum billig und der Migrationshintergrund allgegenwärtig ist.
Ins Johanneum gehe ich gern, zu den Linux-Tagen. 2016 fanden sie dort statt. Beim örtlichen „Araber“, etwa 300 m entfernt oberhalb des „Lidl“, kaufte ich am vergangenen Sonnabend frischen Koriander, es ist so ziemlich der frischeste, der hier zu bekommen ist, und man wünschte mir einen „schönen dritten Advent“. Von dort, demselben „Araber“, stammten auch die muslimischen Gebetsteppiche und das Andachtsbild mit der Jungfrau Maria und dem Jesusknaben, die ich im Herbst 2015 dem örtlichen Notaufnahmelager für Flüchtlinge spendierte, noch bevor ich dessen Sanitätsstation organisierte.
Das war damals, als ich noch naiv war, geistig zurückgeblieben im Berlin der 1980er Jahre, als ich noch glaubte, man würde einander auch in religiöser und kultureller Hinsicht respektieren und tolerieren, wie das im Berliner Goethe-Gymnasium der 1980er Jahre, im heutigen Niedersächsischen Schulgesetz und im vielfältigen Angebot des nahen „Arabers“ in Lüneburg-Kaltenmoor der Fall ist.
Und nicht den Kotau vor einer Schülerin vollziehen, die offensichtlich noch nicht einmal die heilige Schrift ihrer eigenen Minderheit kennt, und sich als Mehrheit, den Schwanz einkneifend, davonzuschleichen wie ein räudiger, geprügelter Hund.