Von Jesko Matthes.
Im Herbst 2015 übernahm „meine“ Organisation, die DLRG, die Leitung des hiesigen Notaufnahmelagers für Flüchtlinge, und es füllte sich rasch. Zu Hochzeiten, das heißt, bis weit ins Frühjahr 2016, hatten „wir“ bis zu 800 Bewohner.
Bei der medizinischen Versorgung ergaben sich Probleme, aber sie waren alle lösbar. Zuerst musste vor der Sanitätsstation eine teilbare Tür angebracht werden, dazu ein Schild in vier Sprachen, das die Sprechstundenzeiten, die Medikamentenausgabe und die Notfallregelung verstehen half. Sprachliche Probleme waren die größte Hürde, und manchmal half eine absurd lustige und störungsanfällige Dolmetscherkette, Paschtunisch, Farsi, Arabisch, Türkisch, Englisch, mit vielfachen Rückfragen, aber, wir kamen zurecht. Und lachten sogar. Den Männern bot ich zuweilen einen Zigarillo an, wenn sie begehrliche Blicke auf meine Schachtel warfen, in der Pause.
Bei der Medikation hatte ich mir Tricks einfallen lassen. Zum Erstaunen der Bewohner trank ich zwischendurch ständig Wasser aus dem Wasserhahn, um zu signalisieren, das sei hier Trinkwasser, kein Brauchwasser, und man könne es auch zum Einnehmen von Tabletten und sogar zum Löschen des Dursts benutzen.
Medikamentenpläne bestanden aus einem Gitter, auf das ich eine aufgehende, eine im Zenit stehende und eine untergehende Sonne malte, darunter die Tabletten. Man lächelte. Frauen wurden grundsätzlich im Beisein männlicher Angehöriger und einer weiblichen Mitarbeiterin untersucht und mussten sich, wann immer vermeidbar, nicht entkleiden. Ein gutes Stethoskop hört auch durch eine Lage Stoff, und was man mir nicht erzählen wollte, löste sich manchmal, wenn eine Ärztin oder weibliche Pflegekraft anwesend war. Ich musste nur kurz den Raum verlassen.
Fasten und kalte Füsse
Zu Zeiten des Ramadan ist es nützlich, über die Uhrzeit von Medikamenteneinnahmen Kompromisse einzugehen. Hilfreich ist es, jene religiöse Vorschrift zu kennen, in der der Prophet Kranken das Fasten erlässt, wenn es ihrer Genesung hinderlich sein könnte. Da auch mein Ziel die Genesung ist, muss diese durchaus auf den Einzelfall zugeschnitten werden, dem die religiöse Pflicht nicht im Wege stehen sollte – und umgekehrt. Und manche sonst unerklärlichen Beschwerden haben sogar mit der Herkunft und der Migration selbst zu tun.
Eine deutsche Muslima, türkischstämmig, berichtet mir weinend, sie habe Magenschmerzen. Auch sie arbeite in einem sozialen Beruf, sie trage dabei das Kopftuch. Nach den Anschlägen in Paris 2015 werde sie neuerdings gefragt, ob auch sie Koran und Kalaschnikow unter dem Bett bereit liegen habe. Ich bin perplex, versuche zu trösten: Sie wisse doch, dass sie das persönlich nicht betreffe. Gerade das sei es aber, was sie verletzt, was ihr Bauchschmerzen bereite. Mir auch, gebe ich ratlos zu. Ich sage, sie wisse, wer ihre wahren Freunde seien, auf die solle sie sich jetzt konzentrieren. Wir seien hier, um friedlich zusammen zu leben. Ich höre mich reden wie einen Politiker.
So übrigens kenne ich es auch aus der täglichen Praxis, und nicht erst seit gestern. Mehrmals saß ich ratlos vor älteren Deutschen, deren seltsame Beschwerden ich nicht so schnell einordnen konnte. Ein Beispiel: Eine ältere Dame erzählt mir, sie habe oft so kalte Füße. Bei objektiver Untersuchung findet sich nichts, die Fußpulse sind gut, und auch die einfachen kleinen Untersuchungen auf Vibrations-, Temperatur- und Berührungsempfinden fallen unauffällig aus; das Labor gibt sowieso nichts her. Auf meine Nachfrage, wann die Füße denn kalt seien, höre ich, fast immer käme das nachts. Ob sie dann nicht schlafen könne, frage ich, und das wird bejaht. Woran sie dann denke, frage ich, und höre: ach, nichts Besonderes.
Da mir ein allenfalls minimaler Akzent, eher die Sprachmelodie auffällt, hake ich nach: Wo sind Sie geboren? An dieser Stelle des Dialogs beginnt die Hochbetagte zu weinen. Sie stammt aus Ostpreußen. Als junge Frau, fast noch ein Kind, ist sie irgendwo zwischen Haff und Nehrung auf der Flucht ins Eis eingebrochen, und ihr Vater hat sie mit einem beherzten Griff sofort wieder aus dem einbrechenden Eis zurückgeholt. Sie durfte dann auf dem Wagen sitzen, Schuhe und Strümpfe ausziehen und unter eine Pferdedecke stecken, wo sie aber noch lange kalt blieben.
So viel Angst wie damals, sagt die Frau, habe sie danach nie wieder gehabt. Und ihren Vater, seine blitzschnelle Reaktion und seine starken Hände, die werde sie nie vergessen. Nun beruhigt sie sich, und mit meiner sehr banalen Antwort, dann seien ein paar warme Socken für das Bett und die Erinnerung an den Vater beim Einschlafen wohl die beste Therapie, ist sie auf gerührte Weise völlig zufrieden. Ich hake dennoch nach, sie könne gern einen weiteren Termin machen und mir erzählen, was sie belaste. Bescheiden winkt sie ab, aber sie deutet es an: Dafür, Herr Doktor, reicht ihre Zeit nicht.
Empfehlungen aus dem Fachblatt
Wenn ich dagegen die Empfehlungen in meinem Fachblatt lese, dann bekomme ich kalte Füße. Deutschland ist ein Einwanderungsland, heißt es hier, in jeder Hinsicht ziemlich schlicht, aber realistisch. In einem Kasten wird mir die Statistik dazu gezeigt, nach der 22,5 Prozent der hiesigen Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben. Echt, jetzt? Ist mir noch nie aufgefallen, siehe oben.
Mir wird daher geraten, mich einem Qualitätszirkel kultursensibler Ärzte anzuschließen. Toll ist auch der Tipp aus einem anderen Beitrag des selben Fachblatts: Ich solle kultursensible Gespräche nie mit einem Dolmetscher aus der eigenen Familie führen, schlechte Nachrichten würden zum Beispiel in der Türkei traditionell eher abgemildert oder gar verschwiegen. Kein Problem, offizielle Dolmetscher für Türkisch, Kurdisch, Paschtunisch, Farsi oder Arabisch wachsen hier gerade wie die Pilze aus dem Boden.
Gut, es gibt sie, aber auch deren spontane Hilfsbereitschaft hat deutlich nachgelassen; sie fragen zu Recht nach der Finanzierung ihrer kultursensiblen Dienstleistung. Denn das ist jetzt nicht mehr die Krise, es ist der Alltag, auch ihrer. Allen Ernstes bekam ich von einer engagierten Sozialarbeiterin einer Behörde zu hören, dann solle ich doch den Dolmetscher bezahlen. Zur Orientierung: Meine maximale Fallpauschale pro Patient und Quartal liegt bei etwa 45 Euro brutto. Dolmetschermäßig bin ich also pleite. Als ich das so formuliere: Schweigen am anderen Ende der Telefonleitung, dann ein zaghaftes: Ja, aber wir können auch nicht.
Ich könne Kollegen mit Migrationshintergrund zu Rate ziehen, rät mir in meinem Fachblatt ein Kardiologe mit Migrationshintergrund. Als wenn ich den Kollegen im Ernstfall ans Telefon bekäme, wenn er gerade echokardiographiert oder herzkathetert, als wenn er die Zeit hätte, im Ernstfall zu vermitteln, zu dolmetschen.
Auf dem Weg zueinander?
Schon kommen mir unliebsame politische Gedanken. Ich frage gern nach Motiven. Meine Patientinnen und Patienten muss ich sogar nach Motiven fragen. Der Wille zur Gesundung ist bereits ein solches Motiv, und sofern es verschiedene Wege dahin gibt, muss ich gemeinsam denjenigen auswählen helfen, mit dem der oder die Betroffene selbst auch wirklich leben kann.
Nur ein paar Dinge fragen soll ich lieber nicht, habe ich den Eindruck: Nach der Erwartung an das deutsche Gesundheitswesen, das gewiss nur einen kleinen Teilaspekt der „Integration“ in meinem „Einwanderungsland“ darstellt. Auch nach der „Kultursensibität“, mit der Migranten hierher kommen, und die auch mich auf diesem Weg zueinander betrifft, der auf Dauer ja keine Einbahnstraße sein kann, und nach den Ressourcen, die man mir in meinem kleinen sozialen Job dafür zur Verfügung stellt, zum Beispiel.
Damit wir uns nicht missverstehen: Ich mache diese Arbeit gern. Es ist eine kleine Arbeit, ich bin nicht in Marxloh oder am Wedding tätig. Diese Arbeit ist dennoch immer eingebunden und bestenfalls eingebettet in soziale und politische Rahmenbedingungen und Entscheidungen, die ich am wenigsten beeinflussen kann und als Arzt noch nicht einmal immer beeinflussen will. Mein Alltag misst sich nicht an der Wahrheit, die mir erzählt wird, er misst sich an der Wirklichkeit, die ich erlebe.
Helft mir nicht...
Allerdings: Es gibt diese Rahmenbedingungen, es gibt Entscheidungen. Es gibt Motive. Es gibt das Motiv, gesund zu werden, genauso wie das Motiv, ein Einwanderungsland zu sein oder zu werden; es gibt sogar das Motiv, der Gesellschaft, in die man aufgenommen worden ist, Schaden zuzufügen. Und es gibt die neutrale Hilfspflicht des Arztes, und es gibt das Geld, das er daran verdient.
Es gibt die große Zahl der Hilfesuchenden und die kleine der eingeschleusten Kriminellen und Terroristen, so wie es unter den bettelarmen Kriegsgefangenen und Flüchtlingen 1945, die alles verloren hatten, eine beträchtliche Anzahl von Kriegsverbrechern und strammen Nazis gab, die sich den entsprechenden Nachfolgeorganisationen anschlossen. Noch mein Großvater musste auch solche Leute „kultursensibel“ behandeln. Und auch ich habe sie noch kennen gelernt. Auf einem Hausbesuch hörte ich so eine Fluchtgeschichte, 800 Kilometer zu Fuß, quer durch Deutschland. Anschließend zeigte mir der alte Herr, ebenso stolz wie verstohlen, das Ärmelband seiner Uniform. Darauf stand: „Leibstandarte Adolf Hitler“.
So ist das mit den Flüchtlingen in meiner Praxis, ihre Geschichten und Erwartungen, die ich in meine Therapien einbinden muss, sind fast nie schwarzweiß, alle Grauschattierungen sind dabei, auch die dunkelgrauen.
Ich will ganz einfach sagen: Staat und Standesorganisationen müssen mir nicht unbedingt beibringen, was „Kultursensibiltät“ bedeutet. Sie sind dafür zuständig, die richtigen Entscheidungen zu treffen, die politischen, sozialen und materiellen Rahmenbedingungen für den von ihnen propagierten gesellschaftlichen Frieden zu schaffen. Ansonsten sollen sie mich in Ruhe meine Arbeit machen lassen, oder, wie es einer meiner Oberärzte am OP-Tisch zu formulieren pflegte, wenn ich mich als Assistent ein wenig dumm anstellte: "Helft mir nicht, es ist alleine schon schwer genug".