„Zufälle“ und „Schicksalsereignisse“ machen das Leben spannend und lebenswert. Das weiß auch der Fußballer Christoph Kramer und schrieb ein Buch über seine Jugend.
Viele finden es einfach lächerlich von „Zufall“ oder gar „Schicksal“ zu sprechen. Vielleicht finden sie es zu abstrakt, deswegen kaum möglich zu greifen, und daher auch schwer zu begreifen. Oder der Gedanke daran gruselt sie einfach. Doch es ist, wie es ist. Manche Dinge passieren einfach. Das Leben schreibt seine eigenen Geschichten: Der plötzliche Autounfall, der die erfolgreiche Laufkarriere abrupt beendet, dafür aber die Tür zum Trainerleben öffnet. Das Durchbrechen der gewohnten Routine auf dem Weg zur Arbeit, nur um später zu erfahren, dass es dort einen Unfall gegeben hat. Oder die schicksalhafte Begegnung, zur rechten Zeit am richtigen Ort, mit einem Unbekannten, der sich mit der Zeit als bester Freund entpuppen wird.
Diese ganzen „Zufälle“ und „Schicksalsereignisse“, das Unvorhersehbare, das Unberechenbare, das Unkontrollierbare, erst sie machen das Leben spannend. Im negativen wie im positiven Sinne. Das weiß auch der Fußballer, Christoph Kramer. Deswegen begibt er sich in seinem Debütroman „Das Leben fing im Sommer an“ in eine Zeit, wo die meisten noch an die Liebe, ihre Träume und an eine gelingende Zukunft glauben: die Jugend.
Es ist Sommer 2006, der Leser trifft den fünfzehnjährigen Protagonisten, Christoph Kramers „alter ego“: Christoph ist 15 Jahre alt, Einzelkind, zurückhaltend, aber nicht auf den Kopf gefallen. Sein Traum ist es Fußballer zu werden, Bravo-Sport-Poster seiner Idole Ballack, Ronaldo, Gerrard und Effenberg schmücken sein Jugendzimmer, und das Trikot von Poldi mit der „20“ darf auch nicht fehlen: „Poldi war geil. Der hatte einen Schuss wie ein Pferd und war mal wieder vorne auf der Bravo Sport drauf“.
Nicht besonders groß und eher schmächtig
Kurzer Einschub: Fußballbegeisterte erinnern sich noch an das Jahr 2006. Der „Kaiser“, Franz Beckenbauer, hatte die Fußball-Weltmeisterschaft nach Deutschland geholt. Die Laune war super, Klima- und Genderideologie hatten die Gesellschaft noch nicht im Würgegriff, und Deutschland schwelgte in einem gesunden Nationalstolz. Die deutsche Nationalmannschaft erreichte zwar nur den dritten Platz, hinter Frankreich, Weltmeister wurde Italien. Trotzdem war Deutschland wie im Rausch. Ob es an „Goleo VI“ lag, dem deutschen Fußballmaskottchen? „Goleo IV“ war der exhibitionistische Löwe mit Trikot und Fußballschuhen, aber ohne Hose. Oder lag es doch an der Vorfreude, was mit Deutschland nach 2015 passieren sollte? „Die Welt zu Gast bei Freunden“. Wie dem auch sei: Rückblickend war der Sommer 2006 das „Sommermärchen“.
Doch nun zurück zum Roman: Obwohl Christoph ein Individualist ist, sich selbst treu bleibt und zum Beispiel nicht die Zigarette seiner Angebeteten annimmt, weil er nicht rauchen möchte, hat er einen kleinen, aber feinen Kreis guter Freunde: Johnny, Salvo (und Gotti). Alle vier sind grundverschieden, respektieren und schätzen sich gegenseitig. Was Christoph jedoch so wirklich zu schaffen macht, wie fast jedem Heranwachsenden in dieser Lebensphase: sein Aussehen und seine Hormone.
Christoph ist nicht besonders groß und eher schmächtig. Am schlimmsten aber findet er seine „krasse Akne“. Diese hat er nicht nur auf dem Gesicht, sondern auch auf dem Rücken. Ein alles anderer als passender Zeitpunkt für seine ersten Gefühle männlicher Regungen – und die Liebe im Allgemeinen. So darf der Leser Christoph auf seinem abwechslungsreichen Weg ins Erwachsenenalter begleiten: das erste Verliebtsein, der erste Herzschmerz und das ganze Gefühlschaos und die ganzen Selbstzweifel, die damit einhergehen. Er lernt dadurch, dass Freud und Leid zum Leben gehören. Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wie Christoph über diese Erfahrungen selber sagt: „Die Zeit des wärmsten Sommers der Geschichte, die Zeit, als mein Leben begann.“
Ein Leben ohne wirklich zu leben
Diese Mischung macht aus „Das Leben fing im Sommer an“ einen gelungenen, unterhaltsamen „Coming-of-Age-Roman“. Das zu großen Teilen autobiografisch angelehnte Werk muss sich dabei vor den anderen Romanen professioneller Spitzfedern keineswegs verstecken oder kleinmachen. Kramers Werk brilliert zwar weniger durch seine ausgeklügelten formalen Griffe als mehr durch seine Handlung. (Aber welcher moderne Roman tut das schon?) Bereits die erste Seite zieht den Leser in seinen Bann. Weil es authentisch ist. Wahrhaftig, gefühlvoll und nachdenklich. So schafft es Kramer auf den fast 250 Seiten eindrucksvoll den Leser in die eigene Jugend zurück zu katapultieren, und ihn hoffentlich an die schönen Seiten des Unkontrollierbaren und Unvorhersehbaren im Leben zu erinnern.
Wie Kramer auch in seiner Danksagung über die schicksalhafte Begegnung mit seiner Frau schreibt: „Eine Liebe. Eine echte. Eine, die für immer da ist. Eine Verbündete meines Ichs. Und egal, wo mich dieses Leben einmal hintreiben wird, ich habe ein Urvertrauen in einen Menschen, der immer da sein wird. Und damit fand ich in jener aussichtslosen Nacht das Wertvollste, was mir das Leben hätte schenken können.“ Das kennzeichnet ein wichtiges Leitmotiv in Kramers Buch (Zufall und Schicksal), was auch gleichzeitig das Werk zur Leseempfehlung macht.
Zur Pflichtlektüre wird es hingegen für all jene, die die wahre Liebe als Hirngespinst betrachten. Vielleicht weil sie selbst nicht imstande sind zu lieben. Oder weil sie sich womöglich mit den falschen Leuten umgeben. Oder weil es für sie nur einfacher ist als Zyniker durch das Leben zu gehen als ein Risiko für etwas einzugehen, was ihnen wichtig ist. Es ist ein Leben ohne Glauben an den Zufall, das Schicksal und die Liebe. Ein trostloses Leben. Ohne Märchen, ohne Träume, ohne Liebe. Ein Leben ohne wirklich zu leben. Die Vorstufe zum Tod. Ihr Schicksal?
Kramer, Christoph (2025). „Das Leben fing im Sommer an“. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Dr. phil. Deborah Ryszka, geb. 1989, Kind politischer Dissidenten aus Polen, interessierte sich zunächst für Philosophie und Soziologie, dann für Kunst und Literatur und studierte Psychologie. Später lehrte sie an verschiedenen Hochschulen und ist seit 2023 Vertretungsprofessorin für Psychologie an einer privaten Hochschule. Zudem schreibt sie regelmäßig Beiträge zu gesellschaftspolitischen Themen und bespricht Bücher.
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