Detlef Rogge, Gastautor / 03.03.2019 / 12:00 / Foto: D. Rogge / 19 / Seite ausdrucken

Kulturgut Motorrad: Meine bizarre Narretei

 Von Detlef Rogge.

Kürzlich erschien auf Achgut.com der Artikel von Ulli Kulke, „Warum ein Tempolimit überfällig ist!“. Wie nicht anders zu erwarten, suchte die geschätzte Leserschaft in zahlreichen Beiträgen nach mehr oder weniger schlüssigen Argumenten pro und contra eines Tempolimits auf deutschen Autobahnen, allerdings ausschließlich aus der Sicht von Automobilisten. Da liegt der Gedanke nahe, dass die Subkultur des Motorradfahrens, unabhängig vom emotional aufgeheizten Thema Tempolimit, den meisten Lesern eher unbekannt sein dürfte oder Stereotype weckt. Das muss nicht so bleiben. Vielleicht ist der eine oder andere Achgut-Leser geneigt, meinen Deutungsversuchen über ein ihm bisher eher verschlossenes Milieu zu folgen, obwohl ich gängige Klischees des Randgruppenphänomens kaum bedienen dürfte. Es sind die Befunde eines Veteranen der Zunft, dem ein Leben ohne Motorrad schlicht unvorstellbar ist und seines Weges in eine zwanghafte Abhängigkeit. Mit gängigen Plattitüden, meist von der Motorradindustrie und Fachzeitschriften kolportiert, wie "das Gefühl von Freiheit" oder "das letzte Abenteuer", werde ich Sie verschonen.

Um es gleich vorweg zu nehmen, Motorradfahren bietet dem Autofahren gegenüber nur Nachteile, ich rate kategorisch davon ab. Motorräder sind nur saisonal nutzbar, sie sind chronisch instabil, längeres Fahren bei höherer Geschwindigkeit ist kräftezehrend und das Fahren überhaupt gefährlich. Besonders im Stadtverkehr ist selbst der umsichtige Zweiradbetreiber nicht nur gedankenverlorenen Autofahrern ausgesetzt, auch unberechenbare Radler und arglose Fußgänger können leicht sein Schicksal besiegeln. Der Fahrer ist auf kühlenden Fahrtwind angewiesen; wer bei hochsommerlicher Hitze nicht auf Schutzkleidung verzichten will und sich bei unvermeidbaren Staus in Innenstädten obendrein an die Straßenverkehrsordnung hält, riskiert durch die potenzierte Außen- und Motortemperatur leicht einen Hitzschlag, währenddessen eine Fahrspur weiter die luftig gekleidete Dame im heruntergekühlten Innenraum ihres gleichfalls am Fortkommen gehinderten SUVs, sich die Zeit vertreibend, nebenbei mal völlig relaxed die Nägel lackiert.

Praktisch ist ein motorisiertes Zweirad ganz sicher nicht, das weiß ich aus vierundvierzig Jahren Fahrpraxis, etwas anderes, schwer Fassbares übt Anziehungskraft aus, denn immerhin sind 4,4 Millionen Motorräder in Deutschland zugelassen, und das bei durchweg schlechter Publicity. Den Weg in die Schlagzeilen sichert sich das Motorrad zuverlässig durch schlimme Folgen gedankenloser Raserei, Beschwerden entnervter Anwohner über knatternde Auspuffanlagen sowie als standesgemäßes Vehikel organisierter Verbrecherbanden. Und Motorradfahren gilt, anders als Rollerfahren, als politically incorrect. Umso mehr drängt sich die Suche nach Ursachen millionenfacher Verstocktheit auf.

Eine Exzentriker-Marotte?

Es lässt sich nicht leugnen, meinem Auto schenke ich keine Aufmerksamkeit, die technische Grundversorgung überlasse ich gern anderen, der äußere Zustand des Vehikels bleibt für mich ohne Belang. Zur Anzahl von Beulen und sonstigen Lackschäden wüsste ich nichts zu sagen, zunehmender Rostfraß bekümmert mich nicht, und wenn der Dreck auf den Scheiben zum Blindflug einlädt, weiß ich, es wird höchste Zeit für den Besuch einer Waschanlage.

Hingegen können schon minimale Verschmutzungen meines Motorrades wahre Putzorgien nach sich ziehen und kleinste Befindlichkeitsstörungen von Mechanik und Elektrik mir den Tag durch unentwegtes Räsonieren über die Ursache des Fehlers ruinieren. Bei Zweirädern stehe ich auf Perfektion, dagegen sind Autos für mich immer das geblieben, wofür sie gebaut wurden, zweckmäßige, jederzeit austauschbare Hilfsmittel, Emotionen können sie nicht wecken. Die augenfällige Ungleichbehandlung meines Fahrzeugparks, auf die ich von Nachbarn meist orientalischer Provenienz schon des Öfteren angesprochen wurde, und die von ihnen wohl mittlerweile als zugespitzter Ausdruck einer schrägen Exzentriker-Marotte gedeutet wird, sehe ich als Endstation einer mehr oder weniger von Zufällen abhängigen aber gleichwohl zielführenden speziellen Nachkriegssozialisation. Meiner Vita als Kradfahrer habe ich die Betrachtung vorangestellt, worin sich Motorräder von Autos unterscheiden.

Was ist eigentlich ein Motorrad?

Für den begrenzten Markt ist die Typenvielfalt bei Motorrädern erstaunlich, sie reicht von kleinen Maschinen mit schwindsüchtiger Motorisierung bis hin zu straßenzulassungsfähigen Superbikes, die mit Beschleunigungswerten eines Formel-1-Rennwagens aufwarten. So verschieden ihre Technik auch ist, verbindet sie doch ein höchst archaisches, fortwirkendes Vermächtnis, das sie mit dem Automobil nicht teilen.

Motorräder und Automobile, beides Produkte technisch-industrieller Innovation, wurden zeitgleich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ersonnen. Das Automobil übernahm die Rolle der Pferdekutsche. Der klimatisierte Innenraum einer zeitgemäßen Limousine lockt den Automobilisten mit der vertrauten Behaglichkeit eines Wohnzimmers, in dem man nebenbei speisen, plaudern, telefonieren und notfalls sogar übernachten kann. Die Einflüsse der Außenwelt bleiben weitgehend ausgeschlossen; der Fahrer hört und spürt bei eingeschränkter Sicht – anders als sein Ahne auf dem Kutschbock – so gut wie nichts mehr von seiner Umwelt, was einer partiellen Demontage seiner Sinne gleichkommt. Robert M. Pirsig, immer wieder gern zitiert, der in „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ die Eigenschaften von Objekten einer erkenntnistheoretischen und metaphysischen Untersuchung unterzieht, schildert eingangs die unterschiedliche Sicht der Welt von Auto- und Motorradfahrern:

Im Auto sitzt man ja immer in einem Abteil, und weil man so daran gewöhnt ist, merkt man nicht, daß alles, was man durchs Autofenster sieht, auch wieder bloß Fernsehen ist. Man ist passiver Zuschauer, und alles zieht gleichförmig eingerahmt vorüber. Auf dem Motorrad ist der Rahmen weg. Man ist mit allem ganz in Fühlung. Man ist mitten drin in der Szene, anstatt sie nur zu betrachten, und das Gefühl der Gegenwärtigkeit ist überwältigend. Der Beton, der da fünf Zoll unter den Füßen durchwischt, ist echt, derselbe Stoff, auf dem man geht, er ist wirklich da, so unscharf zwar, daß er sich nicht fixieren läßt, aber man kann jederzeit den Fuß darauf stellen und ihn berühren; man erlebt alles direkt, nichts ist auch nur einen Augenblick dem unmittelbaren Bewußtsein entzogen.“

Im Gegensatz zum Automobilisten blieb dem Motorradfahrer das Genuine der ursprünglichen Fortbewegungsart weitgehend erhalten, er unterscheidet sich funktional kaum von einem Reiter. Der aufgesattelte Fahrer bildet mit seiner Maschine unverändert die gleiche symbiotische Verbindung, wie sie zwischen Ross und Reiter immer bestand. Auch der Nachfahre des Reiters sieht sich mit der Umwelt unmittelbar konfrontiert und verbunden. Temperatur, Fahrtwind, Nässe, Gerüche und Geräusche wirken ungehindert auf seine Sinne ein, sein Erleben blieb authentisch.

Ein möglicher Sozius kann wie auf einem Pferderücken mehr oder weniger bequem hinter dem Fahrer aufsitzen, mindert wegen des erhöhten Schwerpunktes allerdings die Balance und des zusätzlichen Gewichts das Leistungsverhalten des Konstrukts nicht unerheblich. Fehleinschätzungen des Zweiradbetreibers und schadhafte Straßenbeläge führen leicht zu katastrophalen Konsequenzen. Während sich die Sicherheit für Autofahrer durch die Entwicklung von Gurten, Airbags und ausgeklügelten Knautschzonen stetig verbessern ließ, sitzt der Kradfahrer schicksalsergeben ebenso ausgeliefert auf seinem Gefährt wie einst vor 5.000 Jahren der Reiter auf seinem eben domestizierten Pferd.

Das motorisierte Zweirad versprach, wie zuvor das Fahrrad, reinste asketische Funktionalität, eine andere Zwecksetzung entzog sich seinem prinzipiellen Entwurf. Die in einem Rahmen verbaute Kraftmaschine gibt ihre Leistung an das Hinterrad ab. Die solcherart riskant beschleunigte Masse unterliegt bauartbedingt bedenklich der Gravitation, verlangt daher ständig nach Wahrung des Gleichgewichts und befördert den hoffnungsfrohen Betreiber, den Launen der Elemente preisgegeben, dennoch an das gewünschte Ziel. Etwas Unsichereres und Unvollkommeneres zur Fortbewegung wurde niemals erdacht, selbst im Stand bedarf das Gefährt schon einer Unterstützung. Sein durch rein gar nichts zu lösendes Handikap grundsätzlicher Instabilität, vom fehlenden Wetterschutz ganz zu schweigen, hätte ein ernsthaftes Weiterverfolgen der Idee als bizarre Narretei eigentlich verhindern müssen. Dass es dazu bis heute nicht kam, offenbart exemplarisch, dass die irrationalen Anteile des Menschen seine Ratio dauerhaft suspendieren können, wovon ich mich selbst nicht ausnehmen kann.

Nie wieder Fahrrad

Meine ersten Erfahrungen mit individueller Mobilität machte ich selbst, für die fünfziger Jahre kaum verwunderlich, zunächst mit Fahrrädern. Als ich drei Jahre alt war, montierte mein Vater für die Beförderung seines Sohnes an seinem Fahrrad einen Kindersessel. Ein solcher saß seinerzeit direkt vor dem Fahrer auf der Rahmenstange, so dass Kinder nach vorn hin alles schön überblicken konnten. Traumhaftes Dahingleiten in sicherer Geborgenheit, und das ohne jeglichen Kraftaufwand. Mein Vater war Radfahrer aus Überzeugung, sein Rad, Marke Express, Baujahr 1936, fuhr er bis ins hohe Alter. Motorgetriebene Fahrzeuge hielt er bis zuletzt für "Teufelswerk"; selbstredend besaßen meine Eltern nie ein Auto. Schon mit sechs war es mit dem Müßiggang als Vaters Fahrgast vorbei, denn ich erhielt ein eigenes Kinderrad, das ich zu meiner Bestürzung selbst antreiben musste, wofür sich nicht der geringste Ehrgeiz einstellen wollte.

Als Jugendlicher, nun schon mit einem Herrenrad ausgestattet, wünschte ich mir, besonders bei Gegenwind, Kraft sparende Unterstützung bei der überaus mühseligen Art der Fortbewegung. In Folge jener traumatischen Erlebnisse begann ich mich schon recht bald für motorisierte Zweiräder zu interessieren. "Motorradfahren ist für Leute unserer Generation nichts anderes als die verspätete Umsetzung jenes kindlichen Verlangens in die Tat", so das profane Urteil eines mir bekannten motorsportbegeisterten Psychologen, der mit seiner Einschätzung, „alles was Spaß macht, schadet der Umwelt, so what?“, obendrein noch letzte ökologische Skrupel dauerhaft ausräumen konnte. Der gegenwärtige Hype ums Radfahren, offenbar Ausdruck eines kollektiv zelebrierten Masochismus, will sich mir nicht erschließen.

Annäherung an die Welt der Motorräder: die Weddinger Variante 

Der Zufall wollte es, dass ich bereits mit sechs Jahren als begeisterter Passagier mit dem Komfort einer Beiwagenmaschine Bekanntschaft machen durfte. Der verwandte Besitzer des Gespanns gehörte einer Spezies an, die in Habitus, Charakter und Selbstverständnis bereits seit Jahrzehnten als ausgestorben angesehen werden darf. Der Schlosserhandwerkermeister original Weddinger Provenienz war wegen seines rüden Kommandojargons und zur Cholerik neigenden machohaften Naturells selbst für abgebrühte einheimische "Polterköppe" schwer erträglich, man ging dem "Eisenfresser" besser aus dem Weg.

Kaum dass Berlin aufhörte, Schlachtfeld zu sein und so gut wie alles noch in Scherben lag, bastelte er sich schon für Hamsterfahrten ins Umland aus einem Fahrrad und einem Hilfsmotor ein behelfsmäßiges Moped. Anfang der fünfziger Jahre stieg er dann auf Vorkriegs-Norton-Gespanne um. Des umtriebigen Großonkels zweites Zuhause war seine Werkstatt, selbst eingerichtet, ein klappriger Schuppen auf trübem Hinterhofterrain, ausgestattet mit allen erdenklichen Werkzeugen und Gerätschaften, die er im Laufe seines Arbeitslebens mühselig aus AEG-Arsenalen wohl kaum ganz legal zusammengetragen haben konnte. Hier verbrachte ich zum Missvergnügen meiner Eltern regelmäßig meine Freizeit, angezogen von der geheimnisvollen Technik der knatternden und stinkenden Zweiräder und den handzahmen Igeln, die sich als Kostgänger im anheimelnden Schrauberdomizil vom mitunter ohrenbetäubenden Lärm wenig beeindruckt zeigten. Seit jener Zeit weiß ich um das entspannende Milieu einer Schrauberbude, in der man sich zwanglos dem Müßiggang hingeben und mit Freunden entspannt legere Gespräche führen kann. Hast und Stress des Alltags bleiben ausgesperrt und en passant wird vielleicht noch etwas Brauchbares geschaffen.

Ich entsinne mich noch gut, wie ich, mit Lederkäppi und riesigen Stulpenhandschuhen ausgestattet, als Beiwagenpassagier der Welt entrückt mit dem mir stets wohlgesinnten Besitzer des Gespanns auf Reisen ging durch die Straßen des noch weitgehend ruinierten Berlins. Ich bin überzeugt, dass diese beglückenden Eindrücke in mir fortleben, wenn ich heute, fünfundfünfzig Jahre später, auf meiner Maschine sitze und bin sicher, meine Leidenschaft für motorisierte Zweiräder hat bereits in jenen frühen Jahren meiner Kindheit ihren diskreten Anfang gefunden. Es scheint mir, als hätte sich diese Prägung aus dem Nachlass meiner heilen Kindheit wundersam hinüberretten können in die nüchterne Welt des Erwachsenenseins, als ein Relikt, das sich fortwirkend mit Glück und Zufriedenheit in Verbindung bringen lässt. Vermutlich findet sich hierin der Grund für die erstaunliche Wirksamkeit und Konstanz meines Interesses.

Erste Gefährte

Anfang der siebziger Jahre fand die velozipede Schinderei endlich ihr ersehntes Ende. In der vom Überfluss geprägten konsumistischen Zeitenwende, die auch einen Boom für schwere Motorräder nach sich zog, begann meine eigene bescheidene Zweiradkarriere mit Mars Mofa, Typ Luxus 25. Ich mochte Mars Mofa als "Öffner der Wege", als ersten Schritt in die automobile Autarkie. Mädchen hielten sich lieber fern von derartigen, dem Gespött preisgegebenen Gefährten nebst ihren peinlichen Betreibern. Keines zeigte ernsthaftes Interesse am illegalen Soziasitz auf dem Gepäckträger. Mofafahrer blieben einsam.

Fast zeitgleich bestand endlich auch für West-Berliner die Möglichkeit, per Visum in die DDR einzureisen. Das Angebot nutzte ich sogleich, um nebenbei mit dem Simson "Star" meines Großvaters nähere Bekanntschaft zu machen. Das 3,5 PS starke Gefährt brachte es immerhin auf legale 60 km/h. Nicht legal dagegen war der Betrieb von DDR-Kraftfahrzeugen für West-Berliner, noch dazu von Fahrern, die nicht mal einen Führerschein hatten. In jugendlicher Arglosigkeit scherte mich das wenig, zusammen mit der Dorfjugend machte ich zunächst Probefahrten auf volkseigenen Wiesen und Feldern, bald darauf Ausflüge auf Uckermärkischen Alleen. Meine jährlichen Besuche zogen sich meist über Wochen hin, erwischt wurde ich nie. Dass die Verfehlungen von Opas Westverwandtschaft nicht unbeobachtet blieben, konnte ich Jahrzehnte später in meiner Stasi-Akte nachlesen, selbst in einem 100-Seelen-Kaff nahmen inoffizielle Zuträger ihre Obliegenheiten ernst. Als Denunziantin kommt nur eine angeheiratete Verwandte in die engere Wahl.

Mit einundzwanzig Jahren hatte ich endlich die Mittel für den Führerschein und den Kauf eines gebrauchten Motorrades beisammen. Kommilitonen favorisierten seinerzeit neben Kleinwagen wie Ente, R4 oder Käfer meist trendige Motorräder aus Fernost, was außerhalb meiner Toleranzgrenze lag. Entgegen jeder Vernunft und in grenzenloser Selbstüberschätzung eigener handwerklichen Fähigkeiten erwarb ich 1975 bei einer Versteigerung eine BMW R27, eine einzylindrige 250-ccm-Maschine, Baujahr 1962 mit 18 PS, aus vormaligen Beständen der französischen Armee in Berlin. Alles an ihr war schön rund und wohl proportioniert, zwei separate Sättel versprachen abenteuerliche Distanz zwischen Fahrer und Fahrgast. Ihre dezente, zierliche Erscheinung, ja die Unscheinbarkeit ihres Seins speiste sich aus der Zeit, in der sie projektiert und erbaut wurde, als preiswerte, alltagstaugliche Alternative für kleine Leute, deren Einkommen für einen Kleinwagen nicht ausreichte, die aber dennoch auf individuelle Mobilität nicht verzichten konnten. Sonderzubehör gab es keines, man fuhr selbstverständlich "Standard". Eine andere Grundfarbe als "Avus-Schwarz" wäre einer Anmaßung gleichgekommen, lediglich die doppelte weiße Linierung an Tank und Kotflügeln vermittelte einen Hauch von individueller Aura.

R27 lehrte mich schnell aufopfernde Hingabe, Duldsamkeit und Demut, Charakterzüge, die mir ohne sie vielleicht für immer verschlossen geblieben wären. Reparaturen offenbarten, welche Mühe Generationen von Tüftlern und Konstrukteuren aufgewandt hatten, um Kolbenhub in für Fortbewegung taugliche Rotation zu übersetzen, und ich begriff es zunehmend als Vorzug, zumindest in Ansätzen ihren Spuren, beispielsweise beim Zerlegen des Schaltgetriebes, folgen zu dürfen. Trotz mancher Unzulänglichkeiten, R27 fuhr immer, zu jeder Gelegenheit, bei jedem Wetter, Unzuverlässigkeit ließ sich ihr nicht nachsagen. Ich spüre noch heute den sanften Anzug ihres in Gummi gelagerten Motors und die grundsolide Gutmütigkeit ihrer Fahrwerksgeometrie, die so manchen Fahrfehler eines Anfängers klaglos verzieh. Seit jenen Tagen haben Motorräder für mich weibliche Charakterzüge angenommen; sie, die Maschine, ist keineswegs nur ihres Artikels wegen eine Dame, mit der man sorgsam und respektvoll umzugehen hat. Ich hätte R27 später nie verkaufen dürfen, nur meine Frau liebte ich mehr.

Old Style, Design, Technik und Sound

Tempus fugit. Während anfangs eher technische Aspekte an motorisierten Zweirädern meine Aufmerksamkeit fanden, weckte im Laufe der Zeit mehr noch deren Design zunehmend meine Beachtung. Ich glaube, dass adrettes Motorraddesign einer bauartbedingten Conditio sine qua non unterliegt, die gestalterische Spielräume von vornherein einschränkt. Anders als beim Automobil dominieren beim Motorrad die im Verhältnis zum Gesamtausmaß des Konstrukts erheblich größeren Räder das Erscheinungsbild. Deshalb, und weil Räder unabänderlich rund sein müssen, irritieren leicht Bauteile, die Ecken und Kanten aufweisen. Sämtliches Beiwerk sollte sich konsequent dem Primat der Rundung unterordnen, um störende stilistische Brüche zu vermeiden. Ferner bedarf das dem Auge schmeichelnde Äußere noch seiner akustischen Adaption, gleichsam des Versuchs, die visuelle Erscheinung angemessen wohlklingend für den Betrachter hörbar zu machen.

Nicht nur betagte bajuwarische Zweiventiler erfüllen derartige Anliegen zur Genüg, aber sie können es besonders gut. Sie ergeben ein gefälliges Derivat, das auf Auge und Ohr gleichermaßen anziehend wirkt, eine gelungene Synthese aus Formensprache, simpler, zuverlässiger Technik und Sound. Mehr braucht es nicht. Hinzu kommt, die Maschinen sind bei guter Pflege überaus langlebig und anhänglich, überdauern leicht Ehen und Freundschaften und trotzen dem Wandel der Zeiten mit stoischer Gelassenheit. Mit anderen Worten, sie sind genau die passenden Gefährte für in Gesinnung und Attitüde konservierte Sonderlinge, denen die Uhr vor Jahrzehnten stehen blieb.

Das Erbe der „Bauhausmaschine“

Der richtunggebende Designansatz der von BMW-Ingenieuren entworfenen Maschinen ließe sich durchaus mit "form follows function" interpretieren, vor hundert Jahren beileibe kein Alleinstellungsmerkmal, aber eben besonders ansehnlich. Die R32 aus dem Jahre 1923, als erste ihrer Art, ließ in ihrer Formgebung klare Anleihen der Schöpfer im funktionalistischen Industriedesign der Neuen Sachlichkeit der Bauhausschule erkennen, die sich, verkümmert zwar, aber immer noch dezent kenntlich, bis zu den Baureihen des Jahres 1996 bewahrt hatten. Die unaufdringliche, nüchterne Klarheit der klassischen Moderne ist als Retrodesign längst inflationär wieder en vogue, gleich ob manifestiert in Architektur, Haushaltsinventar oder Technik.

Einst veranschaulichte derart Unverwechselbares im Motorradbau dem Auge verwandtschaftliche Abkunft über Jahrzehnte. Dass der Produzent jener Zweiräder seit geraumer Zeit in Technik und Design drastisch anderer Wege geht, verdeutlicht die Dominanz der Ökonomie und ist unvermeidbarer Tribut an den Zeitgeist. Ihm muss man nicht folgen, wer heute den Zeitgeist heiratet, ist meist morgen schon geschieden. Eine der letzten Maschinen klassischer Bauart, "Made in Berlin-Spandau", kaufte ich 1993. Ihre Formgebung erscheint mir, abgesehen von kleinen ästhetischen Entgleisungen, nahezu vollkommen. Ich fahre sie nun im sechsundzwanzigsten Jahr, und nichts deutet darauf hin, ihr je überdrüssig zu werden. Ich schätze es schon, wenn das Anlasserritzel mit herbem Schlag auf die Schwungscheibe knallt; es gibt akustisch nichts Schöneres, einen Motor elektrisch in Gang zu setzen.

Die gute alte Dame goutiert meine pfleglichen Umgangformen mit treuer Anhänglichkeit, und auf Brandenburgs Alleen schnurrt sie wohltuend wie ein zufriedenes Kätzchen. Das vertraute Rasseln und Klappern von Stößelstangen, Kipphebeln und Ventilen hat mittlerweile segensreichen Einfluss auf meinen Blutdruck gewonnen; Nerven verzehrende Autobahnfahrten bei hoher Geschwindigkeit wären der Therapie abträglich. Autobahnen überlasse ich gern denen, die es eilig haben, gute Fahrt.

Falls der interessierte Leser seine Kenntnisse zu kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Besonderheiten in der deutschen Motorradgeschichte vertiefen möchte, dem empfehle ich das lesenswerte Buch von Frank Steinbeck Das Motorrad". Ein deutscher Sonderweg in die automobile Gesellschaft (Vierteljahreshefte für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beiheft 216) Franz Steiner Verlag.

Foto: D. Rogge

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klaus blankenhagel / 03.03.2019

Herr Rogge, haben Sie aus meiner Biographie abgeschrieben! Ich begann allerdings mit einer Horex Regina (ein Motorrad meine Damen) bis dieser Donnerbolzen (400ccm) einen Liebhaber fand, unrechtmaessig. nice day…

Dr. Karl Wolf / 03.03.2019

Na ja, das mit dem Kulturgut Motorrad galt sicher früher mal. Heute dient das Motorrad doch eher dem Imponiergehabe Spätpubertierender. 70jährige in Lederkluft - einfach nur albern.

Peter Wachter / 03.03.2019

Zu den Zweirädern kann ich auch was Elementares erzählen. In meiner Ausbildung zu einem handwerklichen Beruf, damals noch unter 18 Jahren, war ich auf ein Moped angewiesen (Zündapp 50ccm/6,25PS) und das bei jedem Wetter. Das gebrauchte Moped und den Führerschein musste ich selbst von meiner Ausbildungsvergütung bezahlen, da gab es noch keine Helikoptereltern, die ihre Kinder mit dem SÜV zur Schule fuhren oder ihnen alles bezahlten. Aber was nicht tötet härtet ab und ich lernte auch zu basteln. Auch mit den Kollegen und Kumpels wurde noch jedes WE was unternommen, der Verkehr war noch nicht so viel und gefährlich, übrigens Helm war nicht Pflicht! Schon damals hatte die Politik ihre sonderbaren Ideen, den ab 1980 wurde die Hubraumklassen und Versicherungsklassen geändert, ab da gab es dann die 80ccm Kleinkrafträder, was zur Folge hatte, das die deutschen Mopeds (Hercules, Kreidler, Zündapp, aber auch Puch und KTM) vom Markt verschwanden, die Japaner Suzuki, Jamaha und Honda) waren in der Entwicklung einfach schneller und besser! Deshalb mein Bericht, Geschichte wiederholt sich, früher oder später, schafft sich auch die deutsche Vierrad-Industrie ab!

Stefan Riedel / 03.03.2019

Gut wir sind hier in D. Land der Vergnügungssteuer. Zwei Dinge. Nummer eins ist klar, a man and a women. Nummer zwei Motorrad fahren, einfach nur geil.

Vinzenz Vincent / 03.03.2019

“Ein Leben ohne Motorrad ist möglich, aber sinnlos”. Möpse werden überbewertet, weil leider oft krankhaft verzüchtet, wie oft deren Verwandte bei den Zweibeinern. Herr Rogge,den musste ich mal rauslassen. Vielem kann ich mich anschliessen. Aber, dass das Motorrad unpraktisch und ein sinnfrei ist… Vielleicht auf deutschen Schnellstrassen bei Regen oder Schnee. Sind sie schon mal offroad gefahren? Ein 500000€ SUV hätte mich nicht dahin gefahren, wohin mich meine “Susi” (3300€) gebracht hat. In Ländern mit angenehmem Klima ist jede 125er besser als ein klimatisierter Bus. Und das höchste der Gefühle, wenn man absichtlich mit beiden Rädern die Erde verlässt, kennen nur wenige, wie Skispringen,ein Unterschied wie Brieffreundin und Beischlaf, wie einmal einmal ein Motocross-Profi sagte. Nix für German-Angst,der Domäne der Grünen und ihrer heiligen Gretl(Vollmondvisage).

Jörg Schuster / 03.03.2019

Rationalität hat nichts damit zu tun. Es ist kein bisschen irrational, etwas zu tun, das einem Spaß macht.

Andreas Stüve / 03.03.2019

Lieber Herr Rogge, überfällig, dieser Beitrag. Wenn wir Unkorrekte uns hier schon auf der Achse tummeln, dann bitte auch auf zwei möglichst dicken Rädern. Ich selber fahre ein Modell aus Neu-Feindesland Salvinischer Diktion, 1200 ccm aufgeteilt auf zwei sehr ansehnliche Töpfe, fatto a mano in Mandello di Lario( allein die Sprache der Herkunft ist schon Musik). Und habe festgestellt, dass uns Motorradfahrer sehr oft die Bodenständigkeit, Widerborstigkeit und Zwanglosigkeit verbindet. Oft mit echtem maskulinen, ehrlichen und bescheidenen Nationalgefühl. Wahrscheinlich mit dem, das uns in der bunten, toleranten und weichgespülten Welt zunehmend abhanden gekommen ist. Was für ein Gefühl, durchgeschwitzt, manchmal durchfroren, nach Leder, Staub und Abgasen riechend mit tiefem Grollen ( nicht aus dem Herzen, aus dem Auspuff) wieder zu Hause anzulangen. Und irgendwie zu wissen, dass einem niemand so recht was konnte. Kein Netz-DG, keine Veganer, keine LSBTQ, keine Feministen. Und die Polizei auch nicht, denn wir halten uns (meist) an die Regeln. Vielleicht sollte man den Erwerb des Motorradführerscheins ( kleiner Scherz) steuerlich fördern. Er dient m.E.  als kleiner Baustein zur Entwicklung gewisser männlicher Tugenden wie Leidensfähigkeit, Körpereinsatz, Schnelligkeit und Widerstandsfähigkeit. Als Voraussetzung, später mal ein alter, weißer und mglw. weiser Mann zu werden. Gut dass wir “auf Achse” und nicht auf taz oder SPON sind, da hätte uns der mediale Shitstorm schneller weggefegt, als eine Hayabusa fahren kann. Allzeit gute Fahrt, Herr Rogge.

Fredy Falbe / 03.03.2019

Gratulation! Einer der schönsten Aufsätze zum Thema Motorrad die ich bis jetzt gelesen. Wenn auch die Wahl drs Motorrades so garnicht meinen Vorstellungen entspricht. ;-)

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