Kultur-Kompass: „Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratie zerreißt“

„Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt – Vom Ende des Gemeinwohls“. Das ist ein starker Titel. Er dockt sofort an die primitiven Urinstinkte. Und triggert die Fantasie aller Untergangsapokalyptiker, die da heißt: Bye, bye Menschheit. Offensichtlich reicht der Hype um den Klimawandel nicht aus. Das Angstniveau kann noch höher. Etwas anderes muss her.

Doch keine Sorge. Der Titel von Michael Sandels neuestem Buch soll nur provozieren. Vermutlich wissen er, sein deutscher Übersetzer und der Verlag um die deutsche Schwäche für alle angstauslösenden und hysterietreibenden Ereignisse. Diesen Nervenkitzel, die Lust an der Angst, nutzten sie. Sie bieten, was der Leser haben möchte.

Während Sandel bewusst diese deutsche Achillesferse der Angstlust im Titel berührt, umschifft er diese umso gekonnter und behutsamer in seinen Ausführungen. Klar im inhaltlichen Kurs, aber bescheiden und zurückhaltend kritisiert er das Verständnis von Leistung in einer Meritokratie. Blinde Hasstiraden auf „Neoliberalismus“ oder „Kapitalismus“ tauchen nicht auf. Nicht einmal diese Worte nimmt der US-amerikanische Philosoph in den Mund. Weniger um einen ideologischen Kampf geht es Sandel, mehr um eine sachliche und durchaus berechtigte Kritik.

Leistung nur aus eigener Kraft?

Das bedeutet nicht, dass seine These nicht steil wäre. Denn genau das ist sie: „Was, wenn das Problem der Leistungsgesellschaft nicht darin besteht, dass wir sie nicht erreicht haben, sondern darin, dass das Ideal selbst falsch war?“ Auf ungefähr 430 starken Seiten setzt Sandel sich genau mit dieser Fragestellung auseinander. Theoretiker, wie Friedrich von Hayek oder John Rawls, fehlen selbstverständlich nicht in seinen Ausführungen. Dazwischen mischen sich statistische Zahlen und anschauliche Beispiele.

So verdeutlicht der Harvard-Professor, wie Wunsch und Wirklichkeit in den USA auseinanderklaffen, was Leistung betreffe. Viele meinen ihren wirtschaftlichen Erfolg nur sich selbst zuschreiben zu können. Jedoch übersehen jene, wie viel ihnen das finanzielle und soziale Polster ihres Elternhauses brachte. Von einer Leistung nur aus eigener Kraft zu sprechen, sei daher irreführend.

Diese fehlende Einsicht führe zu jenen, die zu den „Gewinnern“ gehören, zu einer Überheblichkeit. Bei den „Verlieren“ bewirke diese Denkweise genau das Gegenteil. Diese  fühlten sich gedemütigt. Weil sie es nicht aus eigener Kraft schafften. Doch dieser Einstellung gesellen sich noch zwei weitere Faktoren. Einerseits das gesellschaftliche Narrativ von der Wunderwaffe „Bildung“, andererseits die sinkenden Löhne in den unteren, ungebildeteren Schichten.

Ersteres bewirke, so Sandel, eine Degradierung all jener, die über keinen Hochschulabschluss verfügen. Die so für Minderheiten toleranten Universitätsabsolventen schauen geradezu mit Verachtung auf jene ohne Bachelor oder Master in der Tasche. Zweiteres führt zu einer größer werdenden Kluft zwischen arm und reich. Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2017, der Brexit und die Gelbwesten in Frankreich seien die Konsequenz dieser fehlgeleiteten Politik. Daher plädiert Sandel zum einen für eine Anerkennung jeglicher Arbeit, auch oder gerade von Nichtakademikern. Zum anderen spricht er sich für höhere Löhne aus.

Vorliebe sich mit Doktortiteln zu schmücken

Obwohl sich der Philosophie-Professor mehrheitlich auf die US-amerikanische Gesellschaft bezieht, gibt es einige Überschneidungspunkte zu Deutschland. Da wäre die Vorliebe der politischen Kaste sich mit Doktortiteln zu schmücken. Nicht immer auf ganz sauberen Wege, wie die ehemalige Bundesfamilienministerin Franziska Giffey zeigte. Aber auf eine „geradlinige, glaubwürdige und aufrichtige Art und Weise“, wie ihr Parteigenosse Olaf Scholz betonte. Oder der Hang seinem Lebenslauf einige Schönheits-OPs zu verpassen, wie es eine gewisse Annalena B. tat. Oder die ganzen spezialisierten und politisch korrekten und „woke“ gebildeten Bacheloranden und Masteranden, aber kultur- und vernunftungebildeten Hochschulabsolventen.

Kurzum: Man muss nicht in allen Punkten mit Sandels Analysen übereinstimmen. Auch nicht mit seiner Ausgangsfrage. Trotzdem lohnt es sich mit seinem Standpunkt auseinanderzusetzen. Schließlich weist Sandel auf ein wichtiges Problem in unserer Gesellschaft hin. Zum Glück in angenehm amerikanischer Manier. Nämlich ohne Untergangsfantasien.

 

Michael J. Sandel (2020). „Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt – Vom Ende des Gemeinwohls.“ Frankfurt am Main: S. Fischer.

Foto: Bundekanzlerin.de

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Elias Schwarz / 20.06.2021

Man kann jeden Deppen einen Dr-Präfix (oder besser Dr*in, was Doktor der Idiotie übersetzt bedeutet) verpassen. Aber eine Franziska G. wird auch nicht zu Maria Curie. Und jeder normaler Mensch muß so was verstehen.

Dieter Kief / 20.06.2021

Das ist eine Zumutung. Da heißt es, Michael J. Sandel bleibe angenehm zurückhaltend im Ton und dann steht in der Überschrift eine Variante einer Untergangsphantsie in gleich doppelter Ausführung. Doch der Widerspruch, den die Autorin behauptet, um vermutlich ihren Text interessant zu machen, wird in der Folge wegerklärt: Der alarmistische Titel des Buches verdanke sich einer Rücksichtnahme des Autors auf die deutsche Seele. Das wird alles ohne Beleg einfach so hingeschrieben. - Das ist eine Zumutung. Und es ist leider unseriös.

RMPetersen / 20.06.2021

Nicht die Leistungsgesellschaft, sondern die Rund-um-Versorgungsanspruchs-Gesellschaft mit dem gar zu gerne übergriffigen Nanny-Staates haben die Demokratie zerstört. Die Reste sind in Deutschland zu beobachten, zur Übernahme haben sich versammelt die Plutokratie der globalen (- meist US-) Multimilliardäre und das totalitäre KP-China. Als Ausführende steht ein Spektrum analog redender Parteien zur Wahl, deren Führungspersonal jeweils von den Instiitutionen der Multimilliardäre finanziert wurden, ebenfalls überwiegend in den USA. Wir Westeuropäer sind seit 1945 Teil einer transatlantischen Erfolgsgeschichte. Aber wie bei so vielen guten Geschichten, sollte man sie rechtzeitig beenden.  Da ich auch keine nähere Bekanntschaft mit den Methoden der KPCh machen möchte, bleibt nur der eigene europäische Weg. und zu Europa gehört nun einmal auch Russland.

Peter Holschke / 20.06.2021

Das sind alles Binsen. Wenn man von Leistung spricht, muss man aber auch von Bremskraft reden. Von eigennütziger Sabotage der Leistung oder Leistungsfähigkeit anderer, was man getrost als Un-Leistung bezeichnen kann. Wenn man aus der Zirkeldebatte um Leistung herauskommen will, welche man vor über 150 Jahren in die Welt gesetzt wurde, muss man anders denken.

Karsten Dörre / 20.06.2021

Wie die Leistungsgesellschaft den Menschen kaputt macht, ist eindrucksvoll in Japan, Südkorea, Taiwan und China zu bewundern. Die sind den USA oder Deutschland schon drei Schippen bei der Ausbeutung des Menschen voraus. Viele Branchen hier haben nicht nur einen theoretischen Sieben- oder Achtstunden-Tag sondern auch in der praktischen Umsetzung. Diejenigen Arbeitnehmer, die von ihrer täglichen Arbeitszeit auch ohne vertragliche Pausenzeiten Auszeiten nehmen können, sind noch auf der Sonnenseite. Aber das sind aussterbende Jobs.

sybille eden / 20.06.2021

“..... die finanziellen und sozialen Polster der Elternhäuser….” Aha, und wie sind diese entstanden ? Wahrscheinlich hat man die Dollars von den Bäumen gepflückt ? Eine Leistungslose Gesellschaft kann es nicht geben, daß ist doch hirnloser Schwachsinn und würde uns ” zurück in die Steinzeit” (Ayn Rand) führen. Aber selbst diese ist nicht leistungslos. Außerdem hat nicht der Mensch die “Leistungsgesellschaft” einfach mal so erfunden, sondern sie hat sich in einem jahrtausende langem Prozess entwickelt ! Der Mensch hatte überhaupt keine Wal. So etwas nennt man EVOLUTION ! Vieleicht sollte sich der Professor einmal mit Wirtschaftsgeschichte beschäftigen.

Jürgen Fischer / 20.06.2021

Wo, bitte, haben wir noch eine Leistungsgesellschaft? In diesem Land wird Leistung regelrecht geächtet, außer bei den Höchstleistungen in Geschwätz & Geschwurbel. Und selbstverständlich bei unseren Hochleistungsschmarotzern. Die bereits von Hans Sachs (1494-1576) beschrieben worden sind (in seinem Gedicht vom Schlaraffenland). Nein, nicht die Leistungsgesellschaft zerreißt unsere Demokratie, sondern ihre Feinde. Und sie sind damit schon sehr weit gekommen.

Rudolf Dietze / 20.06.2021

Was heist hier denn Leistungsgesellschaft? Wir leben in einer Vorstufe des Kommunismus. Lohn ist lange von der Leistung abgekoppelt. Einstieg, Tarifvertrag, Jahre der Betriebszugehörigkeit und und und. Leistung, wird schon. Es gab sie, die Zielprämien. Selbst im Handwerk der DDR gab es Vereinbarungen, ein Drittel des erzielten Umsatzes ist der Verdienst. Da verdiente mancher als junger im Saft stehender Geselle mehr als der Beamte oder Betriebsdirektor. Es konnte sich in West wie Ost ein Facharbeiter ein Haus leisten. Das wird immer schwieriger. Die “Degradierung all jener, die über keinen Hochschulabschluss verfügen” wird sich als großer Trugschluß erweisen. KI wird die Kreativität des Handwerks nicht ersetzen. Ki wird manches erleichtern speziell in der Massenproduktion. Handwerker wissen über ihr Potential, sind es zu wenig, gilt: Was kannst du mir geben. Ach, Tschenderwissen Mhhm.

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