Kultur-Kompass: „Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?“

Am Beispiel des Nationalsozialismus geht Hannah Arendt der Frage auf den Grund, was „Verantwortung“ in unseren modernen Gesellschaften bedeutet.

In ihrem Essay fragt Hannah Arendt: „Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?“  Arendt versucht zu verstehen, was genau „Verantwortung“ in unseren modernen Gesellschaften bedeutet und bedient sie sich zur Veranschaulichung einer extremem Situation, nämlich der Herrschaft des Nationalsozialismus.

Vorher stellt Arendt jedoch klar: 1. jeder Mensch und jedes seiner Verhaltensweisen müsse beurteilt werden können. Einerseits erlaubten uns das die Moral, andererseits das Gesetz. Sie sagten, was gut und böse, was erlaubt und was nicht erlaubt sei. 2. Der Mensch handle aus freien Stück, er fälle seine eigenen Entscheidungen. Deswegen trage er auch Verantwortung.

Nach dieser Klarstellung weist Arendt auf den fundamentalen Unterschied zwischen „politischer“ und „persönlicher“ Verantwortung hin. Während die erstere nur innerhalb einer politischen Machtfunktion möglich sei, beziehe sich zweite auf den Menschen als Menschen. Während des Nationalsozialismus zum Beispiel nahmen all jene „persönlich Verantwortung“, die sich in den Bereich des Privaten zurückgezogen hatten.

Zum einen wussten jene, dass sie innerhalb des Systems keine „Verantwortung“ übernehmen durften. Das würde das Regime nur stärken. Zum anderen waren sich jene über ihre politische Ohnmacht im Klaren. Daher hatten sie nur die Wahl zwischen zwei Alternativen: erstens mitmachen, an der Schreckensherrschaft teilhaben und somit verantwortungslos handeln. Oder zweitens nicht mitmachen, das System nicht unterstützen und letztlich verantwortlich handeln.

Womöglich fällt nach dieser Lektüre der Groschen

Die inneren Dissidenten sollten recht bekommen. Die nationalsozialistische Herrschaft, wie jede Herrschaft brauche zwar einen Führer oder eine Führungsgruppe. Dieser oder diese entwickelten bestimmte Ideen und Ideologien. Jedoch müssten diese zusätzlich verbreitet und verfestigt werden. Und hier kommen die Mitläufer, die breite Masse ins Spiel. Hierdurch falle ihr eine entscheidende Verantwortung zu. Weil die Masse fälschlicherweise diese Entwicklungen oder diese Neuordnungen als unabwendbar akzeptiere und sich diesen fügte. Anders als die Verantwortungsvollen, die sich dem widersetzen oder versuchen weitest möglich zu entziehen.

Wie das alles konkret aussieht, was das mit fehlender Verantwortung und einem fehlenden Gewissen zu tun hat, kann jeder selbst in „Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?“ nachlesen. Neben dem etwa 50-seitigen Gedanken Ahrendts, die aus einem abgedruckten Vortrag aus dem Jahr 1964/1965 stammen, rundet ein Essay von Marie Luise Knott das Bändchen ab. Auf nicht einmal 100 Seiten legen beide Damen, auf eine leicht verständliche und nachvollziehbare Art, ihre Ansichten dar.

Womöglich fällt nach dieser Lektüre nicht wenigen heutigen Journalisten, Politikern und Akademikern der Groschen wenn es um ihre Verantwortung geht.

Arendt, Hannah (2018/2022). „Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?“. Piper: München.

Dr. phil. Deborah Ryszka, geb. 1989, Kind politischer Dissidenten aus Polen, interessierte sich zunächst für Philosophie und Soziologie, dann für Kunst und Literatur und studierte Psychologie. Später lehrte sie an verschiedenen Hochschulen und ist seit 2023 Vertretungsprofessorin für Psychologie an einer privaten Hochschule. Zudem schreibt sie regelmäßig Beiträge zu gesellschaftspolitischen Themen und bespricht Bücher.

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Foto: Barbara Niggl Radloff CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Rainer Niersberger / 12.01.2025

Machen wir es konkret. Welche Verantwortung fuer was genau hat der waehlende Buerger? Wenn er eine Kartell partei waehlt, waehlt er die Transformation in den posthumanistische Totalitarismus. Welche Verantwortung haben die manipulierenden Medien und welche die Taeter der Kartellparteien und ihre Handlanger, ihr willigen Helfer? Bis zum, ” denn sie wissen nicht, was sie tun”, ist der Weg bei den Michels sehr kurz. Was ist, wenn sie ihrer Verantwortung nicht nachkommen ( koennen)? Aendert das Irgendetwas und wenn ja, was und warum.? Wie kann man Verantwortung uebernehmen, wenn es an den epistemologischen Basics, an grundlegenden kognitiven Voraussetzungen fehlt? Und noch einmal, was sind die Konsequenzen?  Was ist, wenn der Mensch limbisch gesteuert wird? Was passiert, wenn die Taeter ein wasserdichtes, mafioses System geschaffen haben, in dem alle zusammenarbeiten? Nichts, gar nichts gegen eine philosophische Behandlung, sie fuehrt aber, wie wir inzwischen wissen sollten, letztlich zu nichts. Vor allem dann nicht, wenn der psychobiologische Faktor, der Mensch, so wie er nun mal ist, und Systemfragen nicht ausreichend einbezogen wird und man hinreichend abstrakt bleibt. Der Idealfall ist klar. Die Realitaet auch. Aktuell gut zu besichtigen, wobei es genug Menschen gibt, die glauben, gerade mit der Wahl der Totalitaeren Verantwortung zu uebernehmen. Und die Ideologen sind nicht zu erreichen, sowenig wie Junkies. Und nun?  Die” Banalität des Boesen “behandelt die Realitaet treffender als die abstrakte Behandlung der” Verantwortung “, gerne” verlagert”.

Sam Lowry / 12.01.2025

@R. Reiger: Eben das ist der springende Punkt. Die “Omas gegen rechts” würden sogar fast zu 100 % nicht bestehen… die (Anti-) Fa zu exakt 100!

Ralf Pöhling / 12.01.2025

Ganz neutral und völlig unpolitisch betrachtet, aus der Sicht der Systemanalyse: Der große systemische Fehler am Dritten Reich war ausgerechnet der Führer selbst. Ein System, was sich auf Gedeih und Verderb an eine einzige Person hängt und dieser uneingeschränkte und nicht kritisierbare Allmacht verleiht, steht und fällt mit dieser einen Person. Genau aus dem Grund hat das “Tausendjährige Reich” auch nur 12 Jahre gehalten. Spätestens mit Hitlers körperlichem Verfall, seinem mentalen Richtungswechsel und letztlich mit seinem Abtritt bzw. Tod, musste das “Tausendjährige Reich” also unweigerlich enden. Und da Menschen niemals 1000 Jahre alt werden und in ihrer üblicherweise viel kürzeren Lebenszeit körperlich und geistig auch nie voll und ganz auf der Höhe sind, geschweige denn die Übersicht über ihr Reich behalten, war klar, dass das schief geht. Es musste schief gehen. Als Hitler weg war, übernahm Admiral Dönitz ja die Befehlsgewalt. Und was tat der als erstes? Er kapitulierte. Weil er nicht Hitler war und die gesamte Wehrmacht eben auf Hitler eingeschworen war. Da war Feierabend. Ein wirklich funktionierendes System kann problemlos fehlendes oder dysfunktionales Personal ersetzen und läuft dann weiter. Das Dritte Reich konnte das nicht. Insofern sollte man sich selbst als reaktionäre “Interventionskraft” niemals am Dritten Reich orientieren, sondern einzig an der Wehrmacht. Die hat bis ‘41 sehr gut funktioniert. Und als genau dieser Führer sich immer mehr in die Strategie der Militärs einmischte, wurden nicht mehr nur die Gegner verheizt, sondern sogar die eigenen Soldaten. Man denke an Stalingrad. Nochmal: Ein System, was sich auf Gedeih und Verderb an eine einzige Person hängt, ist nicht stark und unbesiegbar, sondern überaus vulnerabel. Im Endeffekt dürfte das ganze Chaos, die Zerstörung, das Leid und die mangelnde Präzision im Dritten Reich genau an diesem bis ins Extreme getriebene Führerprinzip gelegen haben.

Didi Hieronymus Hellbeck / 12.01.2025

“Weil sie damals so waren, wie ihr heute seid!” Henryk Broders Antwort auf die am Tag der Wiederkehr der Reichsprogromnacht vom 9. November 1938 auftauchende Frage, wie es soweit kommen konnte. Wir sind wieder soweit, siehe “Anti”-fa = hingekarrter Faschomob in Riesa. 12.1.2025.

Rolf Lindner / 12.01.2025

LEIDER REALITÄT - Wer leugnet die Realität, lügt nicht nur von früh bis spät, sondern Jahre tagein tagaus für den kommt irgendwann das Aus. - Denn Dauerlügen tragen nicht, auch wenn anfangs Erfolg verspricht der Masse träges reagieren, Widersprüche sich doch summieren. - Merkt es sogar so mancher Dumme, jetzt ist sie groß genug die Summe, dann stellt er mit entsetzen fest, mir bleibt nur noch ein kleiner Rest, was dereinst sichere Posten waren, die sind vorbei, dahingefahren. Dann wird der Dumme richtig sauer auf die Lügengebäudebauer, die lügen dann mit viel Getöse, der vormals Dumme sei der Böse. Doch ist der einmal aufgewacht, wird er Totengräber der Macht, die sich in Scheinerfolgen sonnte, mit Lügen nur bestehen konnte. Dummheit und Lüge sich bedingen bis im letzten großen Ringen ihr System den Bach ‘runtergeht, ist leider auch Realität. Wär’ für die Menschheit viel gewonnen, hätten beide gar nicht begonnen.

A. Ostrovsky / 12.01.2025

Sicher ist es der Debatte über persönliche Verantwortung nicht zuträglich, wenn das immer nur und ausschließlich am Beispiel des Nationalsozialismus exerziert wird. Wenn es irgendwie eine Wirkung haben soll, muss man Verantwortung anhand aktueller oder zukünftig erahnbarer Systeme debattieren. Sonst ist es rückwirkend ohne jeden Bezug nur theoretisch. Verantwortung kann es aber nur praktisch geben, oder eben gar nicht!

Peter Faethe / 12.01.2025

Es ist das Optimum zu finden zwischen Widerstand und dem Jeremia-Befehl (29, 1 - 7): Suchet der Stadt Bestes.

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