Kultur-Kompass: „Knife“

In den letzten Jahren häufen sich Messerattacken. Der Schriftsteller Salman Rushdie hat einen islamistischen Messerangriff auf offener Bühne überlebt und jetzt in einem Buch in Worte gefasst, was nicht begrifflich greifbar ist.

27 Sekunden klingen nicht besonders viel. Doch innerhalb von 27 Sekunden kann sich einiges entwickeln: ein tiefsinniger Gedanke, eine plötzliche Einsicht, eine wahre Liebe. Doch ebenso schnell kann auch einiges vernichtet werden – wie das Leben eines Menschen. Das Leben Salman Rushdies zum Beispiel. 27 Sekunden reichten aus, um Rushdies Leben von der einen auf die andere Minute zu verändern. 27 Sekunden reichten aus, um ihm eine Narbe fürs Leben zu hinterlassen. Und mit den Spuren dieser 27 Sekunden muss Rushdie ein Leben lang kämpfen.

Metaphorisch wie bildlich. Eine posttraumatische Belastungsstörung, ein verlorenes rechtes Auge und eine verkrüppelte linke Hand. Sie erinnern ihn stets an das unglaublich verstörende Ereignis, das ihn im August 2022 übereilen sollte und das ihn fast aus dem Leben gerissen hätte: den bestialischen Mordversuch auf ihn. In New York. Am 12. August 2022. An einem sonnigen Freitagmorgen. Um Viertel vor elf. Durch die Hand eines einzigen Mannes. Mit einem einfachen Messer.

Was in jenen 27 Sekunden, was davor und was danach geschah, verarbeitet Rushdie anschaulich in „Knife. Gedanken nach einem Mordversuch“. Es ist sein bisher persönlichstes und intimstes Werk. Die Erzählform während des gesamtes Buches veranschaulicht das. Denn anders als zum Beispiel in seinem autobiografischen Werk „Joseph Anton“, berichtet er in „Knife“ aus der ersten Perspektive.

Das zeigt auch: Das Messer kann jeden treffen. Es ist kein Werkzeug mehr, das zum Anschneiden einer Torte oder zum Aufschneiden eines Wildtieres genutzt wird. Nein, für Personen aus einem bestimmten Kulturkreis ist es viel mehr. Eine Waffe zum Töten Andersdenkender, also Ungläubiger. Vor der Islam-Lanze ist keiner mehr sicher. Rushdie bleibt da kein Einzelfall. 

Ein ungerechtes Duell

Deswegen ist Rushdies „Knife“ in diesen Zeiten auch so unglaublich wertvoll. Weil es ungeschminkt und ungeschönt die Folgen eines barbarischen Angriffs auf einen andersdenkenden Mann veranschaulicht. Und mit wie viel Leid und Elend das Ganze verbunden ist – nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für seine Liebsten. Trotz allem versucht Rushdie in Worte zu fassen, was nicht begrifflich greifbar ist. Den Schmerz, den Verlust, den Tod. Die ihm begegneten. Während, vor und nach dem Attentat.

Indem er dem Leser möglichst detailgetreu, direkt und anschaulich seine Verletzungen darlegt: „ […] denn das enorm angeschwollene Auge war aus seiner Höhle gequollen und hing wie ein weich gekochtes Ei an meinem Gesicht herab“. Seine demütigenden Arztbesuche beim Urologen: „Oh, naja, okay, wenn das so ist, warum nicht. Ich bin hier, weil mit dem Messer auf mich eingestochen wurde, aber klar, untersuchen wir doch auch meine Prostata“. Und seine intimsten Gedanken („Ich sterbe“), die in seinem Kopf, während des Attentats schwirrten. Einem ungleich ungerechtem Duell: Da der 24-Jährige. Mit Plan und einem Messer. Aus dem dunklen Hinterhalt. Dort der 75-Jährige. Überrascht und ohne Waffe. Auf der offenen Bühne.

Doch inmitten dieser ganzen Tragödie gibt es auch Lichtblicke: Die Unterstützung Rushdies durch Familie und Freunde, die Liebe zu seiner Ehefrau, die schrittweise geistige und körperliche Erholung von dem schrecklichen Vorfall. Anders ausgedrückt: Das große Glück, am Leben zu sein. Das alles half Rushdie, das Geschehene zu verarbeiten, einzuordnen und zu akzeptieren. Dass er hierbei stets über sich selbst lachen kann, verdeutlicht das noch einmal. So wie Rushdies kreisende Gedanken kurz nach dem Attentat, blutüberströmt und am Boden liegend, um seinen Anzug: […] doch nicht meinen schönen Ralph-Lauren-Anzug“ oder seine spätere ironische Selbstbetitelung als „Einäugiger“.

Nicht alle Narben verheilen

Das alles hätte aber Rushdie nie ohne einen ganz besonderen Menschen in seinem Leben stemmen können – seine Ehefrau Eliza. Durch das Attentat durchlitten sie gemeinsam Höllenqualen und gemeinsam schafften sie es: „Ja, wir hatten unser Glück aufs Neue erschaffen, wenn auch unvollkommen. […] Es war ein verletztes Glück, und in einer seiner Ecken lauerte ein Schatten, vielleicht für immer. Trotzdem war es ein starkes Glück, und während wir uns umarmten, wusste ich, es würde genügen.“

Inmitten von intoleranten und fanatischen Mitmenschen fällt das Glück nicht einfach vom Himmel. Es ist stets fragil und muss immer wieder erkämpft werden. Die 255 Seiten von Rushdies „Knife“ zeugen von dieser Tatsache. Sie sind der ehrliche Bericht eines Mannes, der einem religiösen Fanatiker zum Opfer fiel und sich mühsam wieder ins Leben zurück kämpften musste. In ein glückliches Leben, das mehr oder weniger durch leidvolle Erfahrungen und Ereignisse geprägt ist und das stets am seidenen Faden hängt. Für jeden von uns. Vor allem in diesen „messeraffinen“ Zeiten mit einigen hasserfüllten, gewaltbereiten Personen.

Denn: Nicht alle Narben verheilen, wie Rushdie zeigt. So bleibt er zeitlebens ein Gebrandmarkter. Gekennzeichnet durch die Messerführung eines einzigen wahnsinnigen, fanatischen Mannes. 27 Sekunden reichten hierfür aus. Nur SIEBENUNDZWANZIG.

Rushdie, Salman (2024). „Knife. Gedanken nach einem Mordversuch“. München: Penguin Random House.

 

Dr. phil. Deborah Ryszka, geb. 1989, Kind politischer Dissidenten aus Polen, interessierte sich zunächst für Philosophie und Soziologie, dann für Kunst und Literatur und studierte Psychologie. Später lehrte sie an verschiedenen Hochschulen und ist seit 2023 Vertretungsprofessorin für Psychologie an einer privaten Hochschule. Zudem schreibt sie regelmäßig Beiträge zu gesellschaftspolitischen Themen und bespricht Bücher.

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Leserpost

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Christian Hiller / 23.06.2024

Das Problem ist doch, dass es gegen den gesamten Westen geht. Die Europäer, die Amerikaner, die Israelis - wir sind alle Salman Rushdie, wir sind alle Israel. Und die Parteien/Medien, die das verharmlosen, sind Hamas & IS. Erst wenn man das genau so sagt, werden sich Grüne & SPD ändern.

Thomin Weller / 23.06.2024

Die Zeit oder Narben verheilen niemals. Selbst als Whistelblower hatte ich über 5 Jahre Angst um Leib und Leben. Die eingeschaltete Staasanwaltschaft… ich wurde für xxx vorgeschlagen, inmitten der Angstphase. Bis heute, nach 20 Jahren, sind manche Situationen unerträglich. Bildung, Wissen war der Grund der Vernichtung. Anderer, teils unter Vollnarkose war nur 2 Sekunden lang um mein gesamtes Leben zu ändern. // Israel ist nicht Diego Garcia, der Spielball des englischen Königshaus. Die quasi englisch politische Inhaftierung von Leo Baeck und deren Auswirkungen ein Zeichen. Klar, alle Deutschen sind Nazis und Nazis lieben Messermänner aus dem Orient. Die haben schliesslich Rohöl und andere Energie. Was war da noch mit Energie, den Banderisten, Ukraine? Groß-Israel wie der irre Oligarch Selensky sagte??

Lao Wei / 23.06.2024

Germanistan wird bunter werden, ja wie wunderbar. Germanistan wird religiöser werden, das haben wir uns doch immer gewünscht. Germanistan wird das neue Deutschland, ja wie großartig. Haben die Machthabenden wirklich noch alle Tassen da wie sie hingehören? Im übrigen bin ich der Meinung: der degenerierte „Fortschritt“ ist nicht aufzuhalten. Ich freu mich drauf!!!

sybille eden / 23.06.2024

Thomas SZABO, - dann lesen sie erst einmal die ” Hadithen “, diese Bücher TÖTEN sie .

Zdenek Wagner / 23.06.2024

Ich glaube es war Schopenhauer: “In diesem Buch findet sich nicht ein einziger schöner Satz”! Stimmt!

Karl Vogel / 23.06.2024

Habe im Koran gelesen und kenne - und fürchte - nun die Intention der Gläubigen. “Der Koran ist ein Mischmasch, ohne Verbindung, und ohne Kunst” (Voltaire in der Übersetzung von Lessing). Ähnliches wird von “Mein Kampf” (habe ich nicht gelesen) behauptet. Natürlich möchte ich beide nicht vergleichen, geschweige denn gleichsetzen, denn das eine ist ja das heilige Glaubensbekenntnis einer überaus friedlichen Religion. Und wenn man eins der beiden - man weiss welches - kritisieren würde, wäre man - rushdiegleich - dem Tod geweiht… Am 17.8.1745 schrieb Voltaire an Papst Benedikt XIV: “Eure Heiligkeit möge den Übermut vergeben, mit dem einer der niedrigsten Gläubigen, zugleich aber einer der glühensten Verehrer der Tugend, dem Oberhaupt der wahren Religion ein Werk gegen den Begründer einer falschen und barbarischen Sekte vorlegt…” (Antwort des Papstes vom 19.9.1745:  “Einige Wochen ist es nun her, dass uns von Ihnen die wunderschöne Tragödie Mohammed vorgelegt worden ist, die wir mit dem grössten Vergnügen gelesen haben… Gestern morgen schliesslich überreichte uns Kardinal Valenti Ihren Brief vom 17. August. Jede einzelne Ihrer Gesten lässt uns erkennen, dass wir Ihnen zu Dank verpflichtet sind…” Nun ja, die hiesigen Religionen haben seither dazu gelernt und sind hinter die Aufklärung zurückgefallen.) Rushdie ist für mich - in der Nachfolge Voltaires - einer DER modernen Helden, seine Heldengeschichte fing ja weit vor dem Messerangriff an, was nicht unbedingt alle Spätgeborenen dem Artikel entnehmen können.

Klara Altmann / 23.06.2024

In den USA kann üblicherweise jeder Bürger eine Schusswaffe haben - zur Selbstverteidigung. Früher fand ich das eskalativ und gefährlich, da jemand auch schnell einmal versehentlich den eigenen Nachbarn erschießt oder ein Kind beim Spielen den eigenen Bruder. Wenn uns jetzt aber die Altparteien mit Messern bewaffnete Männer in großer Zahl ins Land holen, dann sollten sie uns auch die Waffen erlauben, uns gegen diese Messer zu verteidigen. Gegen das Messer ist die Schusswaffe die einzig richtige Wahl, das hat u.a. Mannheim gezeigt. Gegen das Messer ist jegliche Nahkampftechnik zu gefährlich, weil praktisch aussichtslos. Ich sah selbst schon einen jungen Mann tot auf der Straße in seinem Blut liegen, der wohl kurz zuvor noch gelebt hat, gelaufen ist, gesprochen hat, über den Scherz eines Freundes gelacht hat. Bis er dann dem mit dem Messer begegnete. Wenn ihr uns die mit den Messern ins Land holt und so unglaublich begeistert von ihnen und der mit ihnen hervorgerufenen Veränderung seid, so erlaubt uns Schusswaffen. Denn sie haben zudem längst auch welche, das merkt man bei jeder einschlägigen Hochzeit.

Andy Malinski / 23.06.2024

@ Thomas Szabó: Das ist leider kein Alleinstellungsmerkmal, sondern gilt im Prinzip für 3/4 der Weltbevölkerung. Dieser weiß aber eher selten etwas davon - selbst dort, wo man sich eines gewissen Bildungsniveaus sicher zu sein glaubt. Und jeden Freitag wird das restliche Viertel neu indoktriniert ...

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