Deborah Ryszka, Gastautorin / 11.12.2022 / 15:00 / Foto: Pixabay / 1 / Seite ausdrucken

Kultur-Kompass: „Im Drüben fischen“

Typisch „Besserwessi“, typisch „Jammerossi“. Die einen wussten, die anderen jammerten. Wie heute. Nur etwas anders. Originell und unterhaltsam ist der Griff zu Cora Stephans „Im Drüben fischen. Nachrichten von West nach Ost“.

Typisch „Besserwessi“, typisch „Jammerossi“. Die einen wussten, die anderen jammerten. Wie heute. Nur etwas anders. Die einen sind zu staatsgläubig, die anderen zu staatsskeptisch. Trotzdem wundert man sich hierzulande noch immer über die „Mauer in den Köpfen“. Dabei war schon damals klar: das Westmodell dem Osten unangepasst überzustülpen, führt zum gesellschaftlichen Schiffbruch. Sehenden Auges.

Wer sich hiervon selbst überzeugen möchte, kann in seinem Gedächtnis, in seinen Aufzeichnungen oder im Internet herumstöbern. Wesentlich einfacher und unterhaltsamer aber ist der Griff zu Cora Stephans „Im Drüben fischen. Nachrichten von West nach Ost“. In insgesamt sieben Texten, verteilt auf etwa 120 Seiten, sticht Stephan, unterhaltsam und wie ein Fisch im Wasser, in hohe See. Gen Ostdeutschland. Sechsmal läuft sie in den Hafen der Jahre zwischen 1990 und 1994 ein, einmal in den Hafen des Jahres 2021.

Was alle Beiträge eint? Sie vermitteln, eindringlich und zutreffend, das politische Unvermögen Probleme anzupacken, wodurch Hoffnungen der Bürger zerstört werden. Schon damals wurde „gemerkelt“ und „gescholzt“, was das Zeug hält. Die Folge? Die Ex-DDR befand sich jahrelang in materieller, politischer und kultureller Einöde. Weder die dortigen Politiker noch die dort ansässigen Bürger waren handlungsfähig.

Starrsinnig, blödsinnig, irrsinnig

Innerhalb kürzester Zeit drehte sich der Wind. Aufbruchstimmung schlug in Untergangsstimmung um. Doch im Westen wollte man hiervon nichts hören. Nichts wissen. Oder auch nichts begreifen. Stattdessen agierte man, wie gewohnt: den ideologischen Kurs halten. Starrsinnig, blödsinnig, irrsinnig. Den gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zum Trotz. Weiter Kurs auf starkem Wellengang. Schiffbruch in Sicht. Das Wasser bis zum Halse.

Wie heute. Selbstsüchtig kreisen die „woken“ Heulbojen um sich selbst. Ohne Verständnis und Mitgefühl für andere Positionen. Stattdessen nah am Wasser gebaut. Blut und Wasser schwitzen sie. Die Genderistas, Klimatisten und Putinisten. Das ist ihr Hauptargument. Angst vor Männern und vor Frauen, Angst vor dem Klimakollaps, Angst vor der Atombombe, Angst vor …

So wie damals. Als es um die deutsche Wiedervereinigung ging: „Um Angst vor den protestantischen Barbaren aus dem Osten […]. Um Furcht vor einem ‚neuen Nationalismus‘ […].“ Deutschland war und ist egozentrisch gefühls-adipös: „An Gefühlen mangelte es also nicht in Deutschland (West): nur an Politik, an politischem Einschätzungsvermögen, an Maßstäben für politisches Handeln bei etwas schwerem Wetter. Und: an „politischer Empathie“ (Christian Fenner).

Genau die richtigen Fragen und Thesen

Hier kommen die „Ossis“ als Orientierungs-Anker ins Spiel. Laut Stephan besitzen diese feine Antennen. Für doppeldeutige Formulierungen und doppelbödige politische Maßnahmen. Vielen „Wessis“ fehlten diese. Sich das einzugestehen, ist nicht angenehm. Aber notwendiger denn je, wie die gesellschaftlichen Entwicklungen zeigen.

Das alles, und noch viel mehr, findet sich in Stephans „Im Drüben fischen“. Nur wenige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens besitzen einen so unverstellten und scharfsinnigen Blick auf gesellschaftliche Ereignisse wie Stephan. Sie besitzt Gespür und Analyse. Sie wählt genau die richtigen Fragen und Thesen aus. Das weitaus Wichtigere? Ihre Prognosen treffen auch überdurchschnittlich oft zu. Kurzum: Stephans Werk ist nicht nur eine unterhaltsame, sondern auch eine lehrreiche Lektüre.

 

„Im Drüben fischen. Nachrichten von West nach Ost“ von Cora Stephan, 2022, edition buchhaus loschwitz: Dresden. Hier bestellbar.

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b.stein / 11.12.2022

Ja genau! Ich hab meinen “Orientierungs-Anker” geworfen und ziehe nach 30 Jahren Ost, 30 Jahren West, wieder in den Osten. Ob’s nochmal 30Jahre werden weiß ich natürlich nicht. Ma kucken. Aber dort hab ich definitiv mehr Menschen um mich mit denen ich mich austauschen kann. DDR muss man gelebt haben. Es gibt Wessis die “verstehen”. Ich brauche heutzutage aber mehr davon, und frei nach Schnauze geht (fast) nur in der Heimat.

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