Stefan Meetschens „Gespenster wie wir“ lädt statt zum Gruseln zum Lachen, Weinen, Hoffen, Bangen, Genießen und Denken ein.
Lang, lang ist’s her, als „Made in Germany“ einmal als Qualitätsmerkmal galt. Noch ist Deutschland nicht verloren. Im Flussstrom der Mediokrität finden sich, hier und dort, nicht wenige Goldnuggets. Eines dieser Goldstücke, zumindest im literarischen Bereich, ist allemal Stefan Meetschens „Gespenster wie wir“. Statt zum Grusel-Zittern regt es zum Lachen und Weinen, Hoffen und Bangen, Genießen und Denken an – und bringt so dem Leser einen angenehmen Schauder. Das gelingt Meetschen sowohl inhaltlich als auch formal.
Vermutlich liegt es daran, dass der Roman stark autobiografische Züge trägt. So scheint es jedenfalls, obwohl Meetschen aus der dritten Perspektive erzählt. Hier der Protagonist, Albert Simon, der als deutscher Filmregisseur seit Jahren in Polen lebt. Dort Meetschen, der als deutscher Autor und Journalist schon lange Zeit auf der anderen Seite der Oder lebt. Dass sich zudem Meetschen in den beiden Hauptorten des Romans, Duisburg und Warschau, sehr gut auskennen muss, merkt man. Durch seine Beschreibung erweckt er nicht nur die Straßen, sondern auch die Häuser zum Leben – und somit auch die eigenen Gespenster im Kopf.
Ähnliches gilt für gesellschaftliche Phänomene und ihre Fehlentwicklungen. Auf eine subtil-bissige Weise entlarvt er diese zwar zaghaft, jedoch effektiv. Wie etwa die sich ausbreitende Inkompetenz in Schlüsselpositionen des Kulturbetriebs. Die deutet er in einem irrwitzigen Dialog zwischen dem Protagonisten und einer Frau aus der Filmförderung an. Diese soll über die Finanzierung seines Filmprojekts entscheiden und kennzeichnet sich durch ihren „moralischen Zensurblick“. Meetschen hierzu: „Dann überlegte er [Albert Simon], wie er ihr das Projekt ideologisch verständlich servieren könnte.“ Besser und bissiger hätte man den heutigen Zustand nicht darstellen können.
Genau diese spielerische Art durchzieht die gesamte Handlung von „Gespenster wie wir“. Trotz der zunächst einmal düsteren Stimmung und etlichen kleinen Katastrophen im Laufe des Romans schafft es Meetschen, heitere Momente einzubauen. Indem er etwa den morgendlichen Kaffee Simons als „Sakrament des Aufstehens“ oder den Charme Simons Tante als „Marke Bitterfeld“ bezeichnet. Das mildert nicht nur die kleinen und größeren Wehwehchen des fiktionalen Lebens ab, sondern bringt den Leser überdies zum Schmunzeln.
Eine kurze Zusammenfassung
Seine charakteristische Note erhält der Roman jedoch durch einen formalen Kniff, dessen sich Meetschen bedient. Simons Filmprojekt „Transmutation“ spiegelt sich in den „transmutierenden“ Geschehnissen seines eigenen Lebens wider. Gestartet als Pechvogel in seinem 44. Lebensjahr, „transmutiert“ er sicher zu einem Glücksvogel im neuen Lebensjahr. Eine kurze Zusammenfassung des Romans, der im Jahr 2014 spielt:
Während Simon im ersten Teil nichts so wirklich gelingen möchte – er lebt getrennt von seiner Frau und allein in der noch gemeinsamen Wohnung in Warschau, sein Filmprojekt wird von der Dame mit dem „moralischen Zensurblick“ abgewiesen und er hat noch immer nicht seine Familiengeschichte verarbeitet, allen voran die Flucht der Mutter nach dem Zweiten Weltkrieg ins Ruhrgebiet –, so zeigen sich im zweiten Teil erste Lichtblicke in Simons Leben: Er kommt mit der Liebe seines Lebens, Daria, zusammen, er erlebt einen kleinen beruflichen Erfolg, und endlich kann er anfangen, seine Familiengeschichte mittels seines Filmprojekts „Transmutation“ zu verarbeiten.
Wie es sich für einen guten Roman gehört, begegnen Simon hierbei etliche Widerstände und Hemmnisse. So etwa beruflich der kurzzeitige Abbruch der Dreharbeiten zu seinem Familienfilm, weil eine ehemalige, gute und enge Arbeitskollegin Simon aus purer Rachsucht öffentlich der sexuellen Belästigung beschuldigt oder privat der Vorschlag der Ehefrau, es noch einmal zu probieren, was die Liebe zu Daria herausfordert.
Hat der gegenwärtige Spuk endlich ein Ende?
Eine Überraschung gibt es auch noch. Für diese ist niemand anderes als eine Person zuständig, die eng mit dem Jenseits in Verbindung steht. Nur so viel sei gesagt, es handelt sich um einen polnischen Geistlichen. Trotz dieser ganzen Irrungen und Wirrungen zeichnet sich im dritten Teil des Buches ein „Happy end“ aus: Die Liebe gewinnt, der Erfolg bleibt auch nicht aus und „die Gespenster wurden lebendig“.
Darüber hinaus ergänzt Meetschen seine Handlung mit politisch-gesellschaftlichen Fakten aus dem Jahr 2014 und den Jahren zuvor, insbesondere zum Verhältnis Deutschland-Russland, was die Aktionen Russlands alles andere als unvorhersehbar oder als erratisch zu beurteilen erlauben lässt. Im Gegenteil. Worauf die politischen Entscheidungen hinauslaufen könnten, war ersichtlich. Zumindest für den realitätsbezogenen und faktenkundigen Rationalisten. Alle anderen waren überrumpelt, überrascht, schockiert.
Summa summarum: Wer sich nach deutschsprachiger Literatur sehnt, die es verdient hat, tatsächlich als solche bezeichnet zu werden, muss unbedingt Meetschens „Gespenster wie wir“ lesen. Sowohl die Geschichte als auch ihre formale Ausgestaltung lassen die etwas über 230 Seiten zu einem wahren Lesegenuss werden: Die Lebensgeister und „Made in Germany“ (in alter Lesart) scheinen neu zu erwachen. Hat der gegenwärtige Spuk somit endlich ein Ende?
Meetschen, Stefan (2024). „Gespenster wie wir“. Ruhland: Frankfurt am Main.
Dr. phil. Deborah Ryszka, geb. 1989, Kind politischer Dissidenten aus Polen, interessierte sich zunächst für Philosophie und Soziologie, dann für Kunst und Literatur und studierte Psychologie. Später lehrte sie an verschiedenen Hochschulen und ist seit 2023 Vertretungsprofessorin für Psychologie an einer privaten Hochschule. Zudem schreibt sie regelmäßig Beiträge zu gesellschaftspolitischen Themen und bespricht Bücher.
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