Deborah Ryszka, Gastautorin / 26.12.2022 / 11:00 / Foto: Achgut.com / 4 / Seite ausdrucken

Kultur-Kompass: „Der Sommer des Großinquisitors“

Es schläft nie und es lauert überall. Mal mehr, mal weniger. Doch es ist immer da. Die Rede ist vom „Bösen“. Selbstverständlich pathetisch gesprochen. Sachlich würde man von „Machthunger“ sprechen. Wer mehr über Macht und Machtverhältnisse und über den unmöglichen Dialog zwischen Macht und Moral erfahren möchte, macht mit Helmut Lethens „Der Sommer des Großinquisitors“ garantiert nichts falsch. Es ist ein literarischer Essay über Macht und Moral, die nicht miteinander vermengt werden können – und was für einer. Versiert kombiniert Lethen Literaturkenntnisse mit historischen Tatsachen und soziologisch-philosophischen Analysen. Inmitten der Fülle von hochspezialisierten Fachspezialisten, die es heutzutage zuhauf gibt, eine erfrischend-erfreuliche Rarität. Ebenso wie Lethens Herangehensweise.

Im Fokus seiner Betrachtungen steht die Figur des Großinquisitors aus Fjodor Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“. Er ist das personifizierte „Böse“. Wie Lethen zeigt, ist es auch nicht schwer seine Brüder und Schwestern zu finden. Weil es unendlich viele Beispiele gibt, konzentriert sich Lethen auf die Zeit vom Fin de Siècle bis ins 20. Jahrhundert. Anhand erlesener Beispiele bringt er dem Leser das Konzept des „Bösen“ näher. Das beginnt mit einer einer ausführlichen Analyse Dostojewskis Großinquisitor mittels Helena Blavatsky, einer russischen Dame, die 1881 die erste englische Übersetzung Dostojewskis Werk herausgebracht hatte. Das geht weiter mit Wladimir Solowjow und Wassili Rosanow.

Danach taucht Lethen mithilfe beider, im zweiten Kapitel, in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ein. Max Weber spielt hierbei eine wichtige Rolle, insbesondere sein Urteil zum Revolutionswinter 1918/19. In den Worten Lethens: „‘Gesinnungsethiker‘, die die Mechanik der Gewaltherrschaft nicht verstanden haben und ihre utopischen Ideale verraten; sie ahnen nicht, dass ihre Herrschaft, wenn es je dazu käme, fatale Ähnlichkeit mit einer Militärdiktatur aufweisen würde.“ Aber auch Carl Schmitt, Hellmuth Plessner, René Fülöp-Miller und die gefährliche anti-liberale Einstellung progressiver Kräfte stellt Lethen näher dar.

Kein Patentrezept gegen den Missbrauch von Macht

Der Blick gen Sowjetunion darf hier selbstverständlich nicht fehlen. Wie Fülöp-Millers Blick auf die Sowjetunion in realiter: Diese sei vom Großinquisitor im Gewand der Bolschewiken vereinnahmt. Ihre Überzeugung, dass jedes Mittel recht sei, um ihre Ideologie zu verwirklichen, spräche Bände. Oder wie, in abstracto, der Blick Lethens auf Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“ oder Michail Bulgakows „Meister und Margarita“. 

Abschließend wird es noch bunter. Nicht nur auf Albert Camus‘ „Der Mensch in der Revolte“ geht Lethen aus unterschiedlichen Perspektiven ein. Auch Max Ernsts Werk „Au rendez-vous des amis“ darf nicht fehlen. Ebenso wie Marcel Prousts „Recherchen“, Iwan Turgenjews „Väter und Söhne“ und Dostojewskis „Idiot“.

Das alles findet der Leser, kompakt und komprimiert, auf fast 240 Seiten. Zwar ist es eher etwas für den, in Bezug auf Wissen und Bildung, breit aufgestellten Leser. Trotzdem lässt sich „Der Sommer des Großinquisitors“ überraschend leicht lesen. Um eine weihnachtliche Metapher zu nutzen: Es ist geradezu besinnlich-nachdenklich. Perfekt für die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. Zum Abschalten und Runterkommen, zum Auftanken und Eintauchen.

Denn: Lethen bietet kein Patentrezept gegen den Missbrauch von Macht. Aber er regt zum nachdenken, überdenken und bedenken an. Genau das Richtige, um gut vorbereitet und gewappnet ins neue Jahr zu starten. Gegen die Vermengung von Macht und Moral. Denn er schläft nie und er lauert überall. Mal mehr, mal weniger. Doch er ist immer da… .

Lethen, Helmuth (2022). „Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen“. Rowohlt: Berlin.

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Thomas Szabó / 26.12.2022

Es stellt sich die philosophische Frage, ob es das Böse überhaupt gibt? Der Großinquisitor meinte es gut, Hitler meinte es gut, Stalin meinte es gut, Mao meinte es gut, Pol Pot meinte es gut, die IS meinte es gut, die Taliban meint es gut, Klaus Schwab meint es gut, die Bundesregierung meint es gut. Die uns bekannten bekennend-bösen Serienmörder brachten vielleicht einige Tausend Menschen um, sie sind Ausnahmeerscheinungen. Ist das Böse nur eine Ausnahmeerscheinung? Alle großen Massenmorde wurden im Namen des Guten begangen. Der Hass eines bösen Menschen guten Menschen gegenüber, der Hass eines guten Menschen bösen Menschen gegenüber, ist es nicht derselbe Hass? Viele gute Menschen argumentierten im Laufe der Geschichte de facto wie folgt: Wenn wir guten Menschen zusammen halten und jeder gute Mensch einen bösen Menschen umbringt, dann bleiben nur noch die guten Menschen übrig. Heute argumentieren viele so: Wir Demokraten bekämpfen die Feinde der Demokratie. Die Feinde der Demokratie sind diejenigen, die unsere Definition von Demokratie nicht teilen. Andersdenkende sind Feinde der Demokratie. Der demokratische Diskurs delegitimiert die Demokratie und ist deshalb undemokratisch. Unsere Demokratie ist die einzig wahre Demokratie. Sie ist absolut & total. Wollt ihr die totale Demokratie? Wollt ihr sie – wenn nötig – totaler und radikaler, als wir sie uns heute überhaupt erst vorstellen können?

Werner Arning / 26.12.2022

Dostojewskis Großinquisitor legt dem „Angeklagten“ Jesus das „Unrecht“ dar, welches dessen Botschaft „anrichten“ würde. Er „erklärt“ die Position der Kirche, die den Weg Jesu unter keinen Umständen mitgehen könne, da die Umsetzung dieser Botschaft unmöglich für alle Menschen gelten könne und deshalb großes Leid schaffe. Er verurteilt Jesus folgerichtig zum Tode. Mit Politik hat das eher weniger zu tun. Es geht um menschliche Anmaßung. Ähnlich misslang schon der Versuch Goethes Faust politisch zu deuten, ihn etwa filmisch auf die Nazizeit zu übertragen. Es geht in Wirklichkeit um Tiefergehendes.

Ludwig Luhmann / 26.12.2022

Ist Lethen, Helmut geimpft? Hasst er Corona- oder Klimaleugner? Was hält er warum von der AfD? - Bevor ich mir jemals wieder irgendwas von irgendjemandem über Macht und Machtmissbrauch erzählen lasse, wüsste ich gerne, ob er mein Feind ist.

Michael Müller / 26.12.2022

Nee, das Böse ist nicht nur pathetisch gesprochen da, sondern es ist da. So wie es hell und(!) dunkel gibt. Es macht keinen Sinn, davon zu sprechen, dass es hell ist, wenn es nicht auch das Gegenteil davon gibt. Und ebenso verhält es sich mit “gut” und “böse”. Das Gute gibt es nur, weil es auch das Böse gibt - und umgekehrt. Von daher ergibt sich, dass es Gott - so es ihn denn gibt - unmöglich war, eine Welt ohne das Böse zu erschaffen. Ich fände eine Welt ohne das Böse auch ziemlich langweilig und gar nicht wünschenswert.  Wir sollten davon ausgehen, dass es Gott genauso geht. Hand aufs Herz: Wir interessieren uns doch zum Beispiel deswegen so für die Massenvergewaltigungen in der Ukraine, weil wir uns von dem Thema irgendwie magisch angezogen fühlen, genauso wie vom massenhaften Sterben, das dort zur Zeit stattfindet. Und die Leute schauen sich doch nicht wegen dem Bondgirl oder den albernen Tricks, die das Bondauto beherrscht, den jeweils neuen Bondfilm an. Aber, wenn es das nicht ist, was dann? Wollen die Leute sehen, dass Bond gewinnt? Dafür braucht man nicht ins Kino, das weiß man schon vorher. Der Grund ist ein anderer: Die Leute gehen wegen dem Bösewicht in einen Bondfilm. Sie wollen sehen, was der sich wieder ausgedacht hat; das ist im Idealfall schön gruselig und bedrohlich und man bekommt mit etwas Glück sogar eine Gänsehaut. Das ist im Übrigen ein Teilgeheimnis, warum die NS-Zeit für viele so attraktiv war: Irgendwie hatte das Ganze etwas durch und durch Böses. Das spürte man und das erzeugte ein wohlig-schauriges Gefühl. Der Schauspieler Vincent Price war berühmt für seine Darstellungen in Horrorfilmen. Deep Purple haben ihm in dem Lied “Vincent Price” ein Denkmal gesetzt: “Heart pumping louder, the music’s out of time. The vampire’s dying, he’s got to have wine. Red blood dripping ... It feels so good to be afraid.” Es fühlt sich so gut an, Angst zu haben. Genau: Deshalb taten diese Filme auch seelisch immer so gut.

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