Soll Deutschland die Ukraine mit Waffen unterstützen, sogar Kampfjets liefern? Die Lektüre von „Der Fluch des Imperiums" ist für die Urteilsfindung überaus hilfreich.
In "Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte“ ist die Antwort des Historikers Martin Schulze Wessel eindeutig: Jawohl, wir müssen der Ukraine helfen.Mit allen erdenklichen Mitteln. Um die territorialen Gebiete vor der russischen Krim-Annexion im Jahr 2014 zurückzugewinnen. Ansonsten regen Deutschland und der Westen weiterhin den imperialen Appetit Wladimir Putins an – wie der russische Überfall der Ukraine am 24. Februar letzten Jahres zeigt. Wer somit weiterhin die Augen vor dieser brutalen, aber notwendigen und unabdingbaren Tatsache verschließt, muss es aushalten, energischen Widerspruch zu ernten. Denn die Geschichte zeigt: Russland steckt so tief wie schon lange nicht mehr in einem imperial-nationalistischen Ideenwahn.
Schulze Wessels Titel formuliert es pointiert: „Der Fluch des Imperiums“. Zugleich stellt er sich auch die Frage: „Was sind die tieferen Bedingungsfaktoren, die zum russischen Krieg gegen die Ukraine geführt haben?“ Besonders spannend ist hierbei die Herangehensweise des Professors für Geschichte Osteuropas und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er nähert sich der russischen Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Nicht nur russische, sondern auch ukrainische, polnische und teils deutsche Sichtweisen und Interessen bettet Schulze Wessel gekonnt neben- und ineinander. Hierdurch wird ein roter Faden in der Geschichte Russlands, seit dem 18. Jahrhundert unter Führung Peters I., ersichtlich: die russische Schaukelidentität zwischen erträumter verherrlichender, größenwahnsinniger Einzigartigkeit und realer Nebenrolle auf der Weltkarte machtpolitischen Geschehens. Psychoanalytisch gesprochen: Ich und Über-Ich widersprechen sich diametral. Bis heute.
Um das zu verstehen, taucht Schulze Wessel zu Anfang in das petrianische Zarenreich ein, wo bereits die Grundlagen für den, sich über die gesamte russische Geschichte ziehenden, Ost-West-Konflikt gesetzt werden: der große Nordische Krieg zwischen 1700 und 1721 um die Vorherrschaft an der Ostsee, bei dem Peter I. Dänemark und Polen angriff. Mit preußischer Unterstützung konnte das russische Zarenreich den Krieg für sich entscheiden. In der Konsequenz löste es Schweden als Hegemonialmacht im Nordosten Europas ab. Diese russische Expansion provozierte nicht nur die europäische Grundordnung, sondern ebnete auch den Weg für den russisch-englischen-Konflikt.
„Verteidiger gegen einen vermeintlichen Faschismus“
Katharina II. vollendete Peters I. Werk. Indem sie Russlands Einflusssphäre im Süden ausweitete: 1771 erzielte sie einen Sieg gegen das Osmanische Reich. Polen musste für diese russische Expansion büßen. 1772 begann seine erste Teilung: „Die Einigung der Mächte zulasten Polens konnte das Gleichgewicht und den Frieden in Europa allerdings nicht wiederherstellen. Im Gegenteil, die erste Teilung Polens weckte den Appetit vor allem Preußens auf weitere Annexionen.“ Das Zarenreich besetzte die Krim während des russisch-türkischen Krieges (1786–1774). Eine Russifizierung der Ukraine, die Zerstörung von ihr, gehörte zu seinen erklärten Zielen. Ihre Taten rechtfertigte Katharina II. unter dem Vorwand, einer ethnisch-russischen Minderheit zur Hilfe zu eilen. Genau das Narrativ, das Putin beim Einmarsch in die Ukraine letztes Jahr übernommen hatte: „Putin sieht sich als Verteidiger gegen einen vermeintlichen Faschismus.“
Um diese russische Hegemonie einzudämmen, wurde Polen abermals geteilt. Das zweite Mal im Jahr 1793, danach wieder 1795. De facto verschwand es somit von der europäischen Landkarte. Zudem verschob sich, im Zuge der französischen Revolution, auch das Feindbild des Zarenreiches. Die Feindschaft galt nicht mehr England, sondern dem revolutionärem Frankreich. Doch mit Alexander I. an der russischen Machtspitze entspannten sich die russisch-imperialen Herrschaftsansprüche etwas.
Der Zar förderte sich aufzeigende Liberalisierungstendenzen in Polen. Seine Freundschaft zum polnischen Adligen Adam Jerzy Czartoryski spielte hier sicherlich eine wichtige Rolle. Die Befreiungskräfte in der Ukraine hingegen wurden nicht ernst genommen – auch nicht von den Polen. In der Zwischenzeit entwickelten sich, sowohl in Polen als auch in der Ukraine, fruchtbare Nationalidentitäten. In Polen sei Adam Mickiewicz zu nennen, in der Ukraine Taras Ševčenko. Dieser keimende und sich festigende Nationalismus brachte zugleich Polen und die Ukraine einander näher.
„Kult russischer Stärke“
Trotzdem dominierte weiterhin das russische Feindbild vom Westen. In kultureller Hinsicht kulminierte dieser Hass in Alexander Puschkins obsessiver Überzeugung, Europa sei russophob und in seinem antieuropäischen Ressentiment. Auf diesen Ideenwahn griffen auch die Bolschewiki zum 100. Geburtstag Puschkins, am 10. Februar 1937, zurück. Geradezu ein Puschkin-Kult entflammte, mit einer Vielzahl von Puschkin-Statuen, Puschkin-Straßen und Puschkin-Plätzen. Diese russische Überzeugung führte auch zum Krim-Krieg 1853, der eine bisher nie dagewesene ideologische Aufladung erfuhr. Die Krim wurde zu einer „symbolischen Kernregion Russlands“. Die Niederlage des Zarenreiches verstärkte antieuropäisches Ressentiment und eigene Überlegenheitsgefühle. So implementierte das Reich eine repressive Kulturpolitik in der Ukraine, die ukrainische Sprache wurde verboten.
Theoretisch fasste Nikolaj Danilevskij diese russische Denkweise zusammen: „[Seine Theorie] formuliert eine Dichotomie von Russland als rechtsgläubige Zivilisation und dem Westen als einer auf Lüge basierenden Gegenzivilisation.“ Dieses „Konzept der Unvergleichlichkeit Russlands, gepaart mit der Überzeugung, dass Europa ‚russophob‘ sei, sowie die Idee einer transzendentalen Aufgabe Russlands“ haben sich bis in die Gegenwart gehalten. Alexander Dugin, mit seinem Antagonismus zwischen Ost und West sowie der messianischen Rolle der Russen als Imperium, knüpft hieran an. Genau der Dugin, auf den sich Putin größtenteils bezieht. Neben Dugin spielt für Putin auch Alexander III. eine wichtige Rolle. Alexander III. implementierte nämlich die russische Ideologie innen- und außenpolitisch, indem zum Beispiel die Gendarmerie plötzlich russische Kaftane tragen musste. Wie es Schulze Wessel formuliert: „Alexander III. Ist Putins vielleicht wichtigste historische Vorbildfigur. Eingeschrieben in diese Rollenauffassung sind der Verzicht auf multilaterale Politik und ein Kult russischer Stärke.“
Erst die Revolution in St. Petersburg im Jahr 1905 schwächte das russische Reich so weit, dass es der Ukraine bürgerliche Freiheit und politische Partizipation versprechen musste. Infolgedessen entstand am 23. Juni 1917 die erste ukrainische Verfassung, sodass die Autonomie der Ukraine faktisch anerkannt werden musste. Und auch Russland erfuhr einen kulturellen Bruch mit der Machtübernahme durch die Bolschewiki. Doch mit Stalin flammte zugleich das ukrainische und polnische Feindbild wieder neu auf, und somit ein imperial geprägter Nationalismus – der Klassenkampf war 1936 für offiziell beendet erklärt.
Mit dem Rapallo-Vertrag am 16. April 1922 unterstütze Deutschland diese sowjetischen Bestrebungen. Nun war die UdSSR nicht mehr international isoliert und ein wichtiger Machtspieler in Europa. Die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands und die territoriale Neuordnung Europas unterstützen diese russische Rolle. Denn die Siegermächte USA und Großbritannien waren auf die Kooperation der Sowjetunion angewiesen. Überraschenderweise ging der ukrainische Nationalstaat hierbei als Gewinner hervor. Er gewann mehr als fünfzehn Prozent an Territorium zusätzlich hinzu.
Ein imperial-nationalistisches Selbstverständnis
In den 1970er und 1980er Jahren etablierte sich, nach anfänglich skeptischer Einstellung Deutschlands gegenüber der Sowjetunion, parteiübergreifend der Konsens, man solle sich der UdSSR annähern. Die Solidarność-Bewegung der 1980er Jahre wurde hierbei überwiegend als Störfaktor betrachtet. Gleichzeitig war sie jedoch ein Symptom für den Zerfall der Sowjetunion. Überall keimten starke nationale Widerstände gegen die sowjetische Fremdherrschaft auf. In der Folge zerfiel die UdSSR, und fünfzehn neue Staaten entstanden. Obwohl nun demokratische Grundlagen sowohl in Russland als auch in der Ukraine geschaffen wurden, schaffte es Russland nicht, sich mit einer demokratischen Grundordnung anzufreunden – im Gegensatz zur Ukraine, die antidemokratischen Tendenzen trotzte, wie etwa die Orange Revolution im Jahr 2000 zeigte.
Die Gründe? Anders als der Ukraine, fehlte es Russland an einem neuen, progressiven nationalen Selbstverständnis. Zudem war es anti-pluralistisch eingestellt. Nicht gerade optimal für einen Staat, der multiethnisch aufgestellt ist. Putins politische Entscheidungen zeugen hiervon. Schon seit Beginn seiner Präsidentschaft im Jahr 2000 konzentrierte er die Macht zunehmend auf sich und verwandelte die offiziell genannte liberale Demokratie in eine „souveräne Demokratie“. Hiermit wollte er die russische Einzigartigkeit demonstrieren. Zugleich unterstützte er ein imperial-nationalistisches Selbstverständnis.
Deutschland übersah oder unterschätzte diese Zeichen. Stattdessen intensivierte es seine Beziehungen zu Russland mit „Nord Stream 1“ – trotz massiver Bedenken seitens der baltischen Staaten und Polen, die auf das hierdurch entstehende erhebliche geopolitische Potenzial für Russland hinwiesen. Sogar nach der russischen Krim-Annexion 2014, die das neo-imperialistische Programm Russlands klar und deutlich machte, stimmte Deutschland dem Bau von „Nord Stream 2“ zu. Das erleichterte Russland den Einmarsch in die Ukraine. Für Schulze Wessel ist das klar eine „Zeitenwende“, die nur zu einem gelungenen und nachhaltigen Abschluss gelangen kann, sofern Russland sich aus dem gesamten ukrainischen Gebiet zurückzieht – und sich fundamental neudefiniert. Ob Deutschland sich von seinem träumerisch-verklärten Bild Russlands trennen kann, ist noch unklar. In vielen deutschen Debatten wird vielmehr die russische als die ukrainische Perspektive eingenommen.
Summa summarum: Schulze Wessel zeigt klar und deutlich, auf etwa 350 Seiten, wie es zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine kommen konnte. Gekonnt verbindet er historische mit kulturellen Fakten und bereitet es abwechslungsreich und spannend auf. Trotz der Fülle an Informationen verliert man sich nicht: Alles ist gut aufeinander abgestimmt und strukturiert. Obwohl man beim Lesen bemerkt, dass Schulze Wessel ein Mann des universitären Milieus ist – sein Duktus ist streng, kühl, neutral – liest sich die Lektüre angenehm leicht und flüssig. Zudem: Endlich räumt jemand mit dem Mythos der „russischen Seele“ auf und entblättert die russische Maskerade. Anhand von historischen Fakten. Das ist Lesefreude pur. Wer nach der Lektüre immer noch der Ansicht sein sollte, die Ukraine müsse territoriale Zugeständnisse an Russland machen, weiß ganz einfach nicht, in welche Gefahr er Europa und die Welt bringt. Für Putin wäre somit nur eine Schlacht beendet. Der russische Krieg würde weiterhin andauern.
„Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte“ von Martin Schulze Wessel, 2023, München: C. H. Beck. Hier bestellbar.