Felix Heidenreichs Roman „Der Diener des Philosophen“ ist eine amüsante Hommage an Immanuel Kant und passt hervorragend ins Kant-Jahr.
Das Leben ist voller Rätsel: hier das quantenphysikalische Teilchen, dass zugleich ein Teilchen als auch eine Welle sein kann, da der Flügelschlag eines Schmetterlings, der Abertausende von Kilometer etwas beeinflussen kann und dort ein Kinderbuchautor, der wirtschaftliche Führung in einem wirtschaftlich desolaten Land übernimmt. Das lässt Fragen aufkommen.
Doch welche Fragen sind die wirklich Essentiellen? Der wohl bekannteste Königsberger, der große Philosoph Immanuel Kant, meint hierauf die Antwort gefunden zu haben. Vier Fragen seien es. 1. Was kann ich wissen?, 2. Was soll ich tun?, 3. Was darf ich hoffen und 4. Was ist der Mensch? Anders formuliert: Erkenntnistheorie, Moralphilosophie, Religionsphilosophie und Anthropologie sind die Bereiche, die ausreichen, um den Menschen und die Welt zu verstehen.
Im Weiteren soll es jedoch nicht um eine Kantrezeption oder gar Kantexegese gehen - obwohl wir dieses Jahr ein Kant-Jahr feiern, denn Kant hätte am 22. April seinen 300. Geburtstag gefeiert. Nein, gebührend zur Feierlichkeit geht es leichter zu. Mit Felix Heidenreichs Roman „Der Diener des Philosophen“, das eine amüsante, der Leistung des Philosophen ebenbürtig-entsprechende Kant-Hommage darstellt. Ein grandioser Roman. Sogleich erinnert er an Daniel Kehlmanns weltweit erfolgreichen Roman „Die Vermessung der Welt“.
„Der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden“
Auch Heidenreich erzählt und verwebt grandios die teils authentischen, teils fiktiven Beziehungen von Immanuel Kant (1724-1804), wobei sein Diener, Martin Lampe (1734-1806), im Zentrum dieser Erzählung steht. Weitere wichtige Figuren sind Ehregott Andreas Wasianski (1755-1831), enger Freund und später Amanuensis Kants (das ist eine alte Bezeichnung für einen Sekretär), Joseph Green (1727-1786), ein aus England stammender Kaufmann und auch enger Freund Kants sowie Charlotte von Knobloch (1740-1804).
Von Anfang an durchzieht den Roman eine wirklich von Kant verfasste, jedoch verstörende Notiz: „Der Name Lampe muß nun völlig vergessen werden“. Es exemplifiziert gleichzeitig das Hauptthema des unterhaltsamen Romans: Die Beziehung zwischen Kant und seinem Diener, die mit dem Kapitel „13“, die Zahl 13 steht für Umbruch und Transformation, sogleich auch einen Wendepunkt erhält. Sind die Rollen „Herr“ und „Diener“ tatsächlich so wie sie erscheinen, oder steckt doch mehr dahinter als sich anfangs vermuten lässt?
Dem belesenen Leser kommt sofort Hegels dialektische Beziehung zwischen Herr und Knecht aus seiner „Phänomenologie des Geistes“ in den Kopf. Hegel weist dort auf das zwar asymmetrische Anerkennungsverhältnis, aber die doch interdependente Beziehung zwischen Herr und Knecht hin. Heidenreich spielt hervorragend mit dieser Dialektik und treibt diese ins Absurde. Obwohl sich Kant und Lampe gegenseitig verachten, so können sie nicht ohneeinander. „Diese seltsame dumme Schlauheit“ und „sein Trottel für das Empirische“. Sogar bis nach dem Tod.
Als wäre das schon nicht genug, präsentiert Heidenreich mit dem ominösen Vorfall um Charlotte von Knobloch zusätzlich einen Kriminalfall - und damit weitere, viele offene Fragen: War ihr Sturz von der Treppe „Zufall oder Notwendigkeit“? Wieso erwachte sie plötzlich? Und warum brach sie mit Kant? Weshalb war sie beim Sturz überrascht? „Sie sah vor allem überrascht aus, ganz so, als wollte sie sagen: Damit habe ich nicht gerechnet. Kant selbst war wie versteinert“. Gab ihr womöglich jemand den entscheidenden Ruck? Für kurze Zeit rücken Lampe und seine Beziehung zu Kant in den Hintergrund. Aber nicht lange.
Er flucht und braust und faucht wie kein anderer
Das ist vor allem Heidenreichs lebendiger Darstellung Kants und Lampes zu verdanken. Es spricht und philosophiert nicht nur der kühle, rationale, logische Kant, sondern ebenso der hitzige, irrationale, fühlende Mensch Kant - und dieser hat es in sich: er flucht und braust und faucht wie kein anderer. „Du heißt Lampe und bist alles andere als eine Leuchte!“. Doch das schadet dem Ansehen Kants keineswegs. Im Gegenteil. Diese allzu menschlichen Regungen machen ihn sogar zu einer sympathischen Gestalt. Obwohl Lampe zumeist der Leidtragende dieser Kantischen Kapriolen ist, weiß er sich zu wehren. Indem er mit dem Philosophen auf seine ganz eigene Weise spielt.
Die Dynamik dieser Beziehung und der Handlung im Ganzen spiegelt sich auch formal wider. Nicht ein Erzähler, nicht zwei Erzähler, sondern gleich mehrere Erzähler berichten dem Leser. Lampe als Ich-Erzähler oder der allwissende, auktoriale Erzähler oder Kant und Wasianski als Ergänzungsperspektiven in einem eher bürgerlichen Sprachduktus. Zugleich wird achronologisch berichtet und manche Ereignisse werden aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Das fordert den Leser heraus, ist aber nichts, was nicht zu bewältigen wäre. Im Gegenteil. Es sorgt für ein entsprechendes Erregungsniveau bei der Lektüre. Weder zu viel noch zu wenig. Punktlandung.
Wieso auf der Vorderseite des Schutzumschlags ein Schuhschnabel, ein afrikanischer Vogel mit einem mächtigen Schnabel, und auf der Rückseite eine Taube zu sehen sind, bleibt wie die Erzählung: rätselhaft. Sollen Schuhschnabel und Taube Lampe jeweils körperlich und geistig repräsentieren? Steht der riesige Schnabel für die „großen, fleischigen Pranken“ Lampes? Und die Taube symbolisch für die langlebige Treue und auch Zuneigung Lampes für Kant? Oder bezieht sich der Schuhschnabel einfach auf das selbige Tier, das Wasianski direkt zu Anfang der Geschichte beobachtet? Doch dann: Wo war die Taube im Roman?
Eben dieser raffinierte Charakter von „Der Diener des Philosophen“, formal wie inhaltlich, macht die etwa 150 Seiten zu einem wahren Lesevergnügen. Es ist eine gelungene Huldigung Kants, in der Heidenreich gekonnt mit Wirklichkeit und Fiktion zu spielen weiß. Formales Handwerk trifft hier auf inhaltliche Spielerei. Das Ergebnis: intellektuelle Unterhaltung. Zudem lässt Heidenreich gleichzeitig die Frage der Fragen aufkommen: Wäre Kant tatsächlich der große Denker geworden, der er wurde, ohne das Zutun seines Dieners Lampe? Doch das bleibt womöglich für immer ein Rätsel.
Heidenreich, Felix (2024). „Der Diener des Philosophen“. Göttingen: Wallstein.
Dr. phil. Deborah Ryszka, geb. 1989, Kind politischer Dissidenten aus Polen, interessierte sich zunächst für Philosophie und Soziologie, dann für Kunst und Literatur und studierte Psychologie. Später lehrte sie an verschiedenen Hochschulen und ist seit 2023 Vertretungsprofessorin für Psychologie an einer privaten Hochschule. Zudem schreibt sie regelmäßig Beiträge zu gesellschaftspolitischen Themen und bespricht Bücher.
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