Kultur-Kompass: „Content“

Hauptsächlich die jüngere Generation baut sich gern ein Leben in der virtuellen Realität auf. Wie beide Leben sich gegenseitig bedingen und aufeinander auswirken, wird im Roman „Content“ thematisiert.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Mit diesem Bonmot Theodor W. Adornos lässt sich Elias Hirschls neuester Roman treffend beschreiben: Die Figuren im Roman produzieren im Minutentakt sinnlosen „Content“ für das Internet, betreten schon lange nicht mehr einen Supermarkt, lassen sich stattdessen alles von Fahrradkurieren liefern und betäuben ihre innerliche Leere mit Instagram, Twitter (X) und Tinder.

Das hört sich nicht gerade nach einem tiefsinnig-erstrebenswerten Leben an. Ist es auch nicht. Trotzdem durchzieht „Content“ durchweg ein ironischer Grundton. Resignation? Hoffnungslosigkeit? Suizidgedanken? Nicht einmal der kleinste Funken negativer Regungen springt bei Hirschls doch dramatischer Darstellung auf den Leser über. Zum Glück. Denn: Hirschl weiß inhaltlich zu spielen. So bringt er den Leser, hier und dort, zum Schmunzeln. Indem er bestimmte Alltagsphänomene oder Phänomene aus der digitalen Welt durch seine Gedankenkonstruktionen ad absurdum führt.

Eindeutig bricht hier der Poetry Slammer Hirschl durch. 2014 wurde er sogar österreichischer Meister. Das beginnt schon mit der Analogie von gestern und heute, die Hirschl anhand der imaginären Stadt „Staublunge“ herstellt. Wo früher Kohle abgebaut wurde, wird heute digitaler „Content“ produziert. Verkauften früher Bergarbeiter ihren Körper an ein Bergwerk, verkaufen heute Schreibtischtäter ihre Seele an den digitalen Teufel. War früher die Lunge voller Staub, so ist heute das Gehirn voll inhaltsbefreitem „Content“. „Content“ hier, „Content“ dort. Das ganze Leben in „Staublunge“ dreht sich um „Content“, „Content“, „Content“.

Ein scheinbar besseres Leben

So auch für die namenlose Ich-Erzählerin, die der Leser auch in der fiktiven „Content“-Firma „Smile Smile“ durch ihren Job-Alltag begleitet. Alles dreht sich dort um schnelles Schreiben von irgendwelchen Listen-Artikeln, wie zum Beispiel „11 großartige Tipps, dein Leben in den Griff zu bekommen! Nummer 7 wird dich überraschen!“, dem Produzieren von kurzen, abstrusen Videos, wie ein Nokia 3310 in der Mikrowelle, und der hyper-absurden Umsetzung irgendwelcher Internet-Trends im Großraumbüro, wie der „Is-It-Cake-Ära“: Fast alles im Büro besteht aus Kuchen. Sei es die Tasse Kaffee, der Arbeitsrechner oder der Bürokollege. Überall nur: Kuchen, Kuchen und noch einmal Kuchen.

Hirschl verdeutlicht: Realität und Fiktion vermengen sich stets – allen voran durch die Digitalisierung angetrieben. Hirschl treibt diese Vermischung nuanciert im „Soft-Stalking“ der 31-jährigen Ich-Erzählerin auf die Spitze. Jemand hackt sich in ihre Konten auf den sozialen Medien ein, und lebt ab sofort ihr Leben virtuell fort. Hier ein Foto in New York, dort ein Foto mit dem Verlobten, dort wiederum ein Treffen mit den Eltern der Ich-Erzählerin undsoweiterundsofort. Im Gegensatz zum analogen Leben ist das ein scheinbar besseres Leben. Ein oberflächliches. Ein „Insta“-Leben. Deswegen endet es auch, wie es enden muss: Mit dem Tod der virtuellen Ich-Erzählerin – und mit realen Auswirkungen für die Ich-Erzählerin. Doch mehr soll hierzu nicht gesagt werden.

Was jedoch gesagt werden kann: Das virtuell gehackte Leben bewegt die Ich-Erzählerin nicht selten mehr als ihr eigenes, analoges Leben. Fast gar nichts rührt oder bewegt sie: weder ihr idiotisch zwanghaft-optimistischer „Freund“ Jonas noch der Karrieresprung ihrer guten Bekannten Karin oder das vollständige Abbrennen ihrer Wohnung. Völlig apathisch arrangiert sie sich mit der Situation. Gleichgültig. Resigniert. Passiv. So lässt sie sich freiwillig vom „Content“ versklaven und taucht freiwillig, Tag für Tag, in die stumpfsinnige Welt des „Contents“ ein.

Absurde und teils makabere Inhalte

Hirschl spiegelt diese Einstellung der Ich-Erzählerin gekonnt stilistisch wider. Indem er weder überschwänglich noch ausschweifend berichtet. Stattdessen erzählt er so kühl und gleichgültig wie die Ich-Erzählerin selbst: Lakonisch, trocken, ja geradezu in steriler Monotonie lässt er den Leser am Leben der Namenlosen teilnehmen. Seine absurden, teils makabren Inhalte, aber auch die Persönlichkeiten der anderen Charaktere sorgen für das entsprechend unterhaltsame Gegengewicht. So wie Karin und Jonas zum Beispiel.

Während für die ehrgeizige Karin die Arbeit in „Smile Smile“ nicht den erhofften Erfolg bringt und ihre Leistung nicht adäquat honoriert wird, erleidet sie, schon recht früh im Roman, einen Nervenzusammenbruch. Ein lebenslanges Souvenir bleibt ihr auch erhalten. Am rechten Arm, wo eigentlich eine Hand sein sollte, ragt bei ihr seit dem Vorfall ein Stumpf hervor. Sie hatte sich im rasenden Delirium eigenmächtig die Hand „amputiert“. Nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie sammelt sie sich jedoch wieder und schafft den erhofften Karrieresprung.

Jonas hingegen folgt einer anderen Strategie. So häufig, wie Menschen ihre Kleidung wechseln, so oft ändert Jonas seinen Beruf. Vom Startup „Same Day Crew“ mit Hauptsitz in einer nicht beheizten, fensterlosen, verfallenen Fabrik bis hin zu einer mobilen Feuerwehr „Brand Recognition“ („Brand“ deutsch ausgesprochen). Die Gesellschaft ändert sich rasant und noch schneller mit ihr Jonas. Partout verweigert er sich dabei der Realität. Eine Bruchbude wird so zu einem gewollten Umgestaltungsprojekt, oder kaputte Leitungen in einer Kneipe, die dazu führen, dass Gäste im Dunkeln sitzen müssen, „framt“ Jonas als ein bewusst eingesetztes Konzept der Kneipe: In der Dunkelheit könnten sich die Gäste besser auf ihren Geschmackssinn konzentrieren.

Popliteratur mit Niveau

Nicht wenige hierzulande sähen das auch so. Zum Glück weiß Hirschl hierum und exemplifiziert grandios anhand der Ich-Erzählerin, Karin und Jonas, wie es einem nicht unbeträchtlichen Teil junger Menschen geht, die mit der Wirklichkeit und ihrem Leben nicht klarkommen. Es sind vor allem Menschen, die in einer Gesellschaft groß geworden sind, in denen ihnen eingeredet worden war, dass Arbeit Spaß machen müsste, das Arbeit Sinn stiften sollte, dass das Leben eine Spielwiese sei, auf der sie alles sein könnten, was sie sie erträumten. Nun, da sie erwachsen sind, zeigt ihnen das Leben etwas anderes, und jeder verweigert auf je seine Art den Blick auf die Realität. Entweder durch emotionale Abstumpfung (Ich-Erzählerin) oder durch einen emotionalen Zusammenbruch (Karin) oder schlichtweg durch Euphemisierung und Augenwischerei (Jonas) – auch um den Preis der Wahrheit.

Das macht „Content“ zu einem gelungenen zeitgenössischen satirisch-gesellschaftskritischen Roman. Auf etwas über 220 Seiten verdeutlicht Hirschl die Probleme, mit denen junge Menschen von heute konfrontiert sind und welche tragende Rolle hierbei die Digitalisierung spielt. Dabei kann man „Content“ durchaus in einer Reihe deutschsprachiger Popliteratur, wie etwa Christian Krachts „Faserland“ oder Benjamin von Stuckrad-Barres „Soloalbum“ setzen. Weniger stilistische und literarische Finessen zeichnen das Werk aus als vielmehr der ironische Blick, mit dem Hirschl dem Leser Gesellschaftsverhältnisse präsentiert.

Im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Autoren will Hirschl erfreulicherweise den Leser weder politisch bekehren noch sonstwie missionieren. Stattdessen liest man: Hirschl schreibt um des Schreibens willen. Nicht mehr und nicht weniger. Das, gepaart mit Talent und etwas Übung, macht aus „Content“ nicht den üblichen zeitgenössischen „Content“. Vielmehr gehört „Content“ zu den heutzutage doch wenigen Werken, die sich nicht nur als Roman camouflieren, sondern das sind, für das sie sich ausgeben: Popliteratur mit Niveau. Definitiv lesen!

Hirschl, Elias (2024). „Content“. Wien: Paul Zsolnay.

Dr. phil. Deborah Ryszka, geb. 1989, Kind politischer Dissidenten aus Polen, interessierte sich zunächst für Philosophie und Soziologie, dann für Kunst und Literatur und studierte Psychologie. Später lehrte sie an verschiedenen Hochschulen und ist seit 2023 Vertretungsprofessorin für Psychologie an einer privaten Hochschule. Zudem schreibt sie regelmäßig Beiträge zu gesellschaftspolitischen Themen und bespricht Bücher.

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Sam Lowry / 28.07.2024

“Ich mache Content, also bin ich”. Das ist die Realität und braucht gar nicht erst niedergeschrieben werden. Berufsziel? “Content machen und reich werden”. Wieso dabei manche Doitsche reich werden (Sina Drums) oder nicht (Outdoor Illner) bleibt für mich im Dunkeln. Oder gibt es in Doitschland so viele Drummer und so wenige Ausgeflippte? Meiner persönlichen Erfahrung nach nicht. Die Klapsen sind voll mit Outdoor-Illners, die Drum-Studios pleite. Irgendetwas hat sich seit Internet komplett verändert. Mir ist auch unbegreiflich, wieso sich irgendwelche Tussies, die sinnlos irgendwelche Knöpfe eines “Double Deck DJ"beim Abspielen eines USB-Sticks berühren und scheinbar drehen, was sie ja gar nicht tun, auf Youtube so erfolgreich sind. Das ist alles bizarrer als ich verarbeiten kann.

Victor de Bie / 28.07.2024

Klingt interessant. Aber lass uns hoffen, dass nicht “gegendert” wird in diesem Buch. ... habe den Vorschau bei Amazon angeschaut. Keine Gendersternchen!

Helmut Driesel / 28.07.2024

Der Adorno war nie in der DDR. Es gibt kein falsches Leben. Insofern hat der Philosoph ja recht. Aber immer, wenn ich so eine gute Rezension eines blödsinnigen Buches lese, werde ich traurig, dass ich es nie geschafft habe, ein ordentlicher Romanautor zu werden. Ich beneide diese Leute, die nichts arbeiten mussten und immer mit ihren Innereien angeben können, als wären es seltene Artefakte, für deren Betrachtung eine Gebühr fällig wird. Wie schon erwähnt, bin ich für die Vernichtung aller schöngeistigen Literatur, die länger als 25 Jahre verlegt ist. Aus Gründen der Geisteshygiene. Es ist die Beseitigung eines Stacheldrahtzaunes. Man täte der jüngeren Menschheit damit einen Gefallen.

L. Luhmann / 28.07.2024

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Mit diesem Bonmot Theodor W. Adornos lässt sich Elias Hirschls neuester Roman treffend beschreiben: (...)” - Meines Erachtens ist das kein Bonmot, sondern ein Malmot - das Wort habe ich wohl soeben erfunden. Was soll das bedeuten - “Falsches Leben vs. richtiges Leben?” Leben im Richtigen vs. Leben im Falschen? Und nichts dazwischen? Keine Feinheiten? Wer setzt welche Moral mit welchem Recht? Da knallte dieser linke Fatzke uns seine Bonmots vor den Latz und alle Linken standen Spalier. So waren sie schon immer, diese Linken, die im Rotweinrausch alles und jeden verachten. - Apropos Christian Kracht - was macht der eigentlich? Den fand’ ich damals wirklich sehr erfrischend ... der wurde ja auch schnell in Naziecke gestellt ...

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