Kultur-Kompass: „Camino. Mit dem Herzen gehen“

Die nicht gerade wanderfreudige Birgit Kelle beschreibt offen und geradewegs ihre Pilgerreise auf dem Jakobsweg. Ihr bislang wohl persönlichstes Buch.

Birgit Kelle ist wieder zurück. Naja, nicht als Person, sondern vielmehr ein neues Werk von ihr. „Camino. Mit dem Herzen gehen“ heißt es. Und dieses ist, wie Kelle selbst beschreibt, „das andere Buch von Birgit Kelle“. Wieso? Es ist von Herzen geschrieben. „Gendergaga“ und „Muttertier“ sicherlich auch. Aber „Camino“ ist unstrittig das bisher persönlichste Buch Kelles.

Dort beschreibt sie auf etwa 120 Seiten, offen und geradewegs, ihre Pilgerreise auf dem Jakobsweg. Sie haben richtig gehört. Die nicht gerade wanderfreudige Kelle packte Wanderschuhe. Und Wanderstöcke. In ihren Wanderrucksack. Zum Pilgern. Von ihrem Startpunkt, dem spanischen León, bis zum Ziel, dem bekannt-berüchtigten Santiago de Compostela. Zwei Wochen brauchte sie hierfür. Wochen, die sie sich während der Adventszeit im Jahr 2019 nahm. Nein, nehmen musste.

Wie man es von vielen Pilgern des Jakobsweges kennt, motivierte auch Kelle ein Schicksalsschlag, diesen Pfad einzuschlagen. Ein Ereignis, das vieles im Leben umkrempeln sollte. Kelles Mann wäre fast gestorben, einen Tag vor Ihrem 41. Geburtstag. Oder in den Worten Kelles: „Das Leben hatte mich schlicht von außen k.o. geschlagen, damit ich mal anhalte.“

Überlebenskampf „to go“

Anstatt sich in Selbstmitleid zu suhlen, suchte Kelle nach einem Ausweg. Diesen fand sie auch. Unter anderem beim Pilgern des Jakobsweges. Es ist zwar nicht jedermanns Sache. Aber so ist das Leben. Neben den Hochgefühlen des Glückes gehören auch Kabbeleien, Probleme und Krisen dazu. Eine Freundschaft zerbricht, eine Ehe geht in die Brüche, ein geliebter Mensch verlässt das Land der Lebenden. „Pantha rhei“, auf deutsch „alles fließt“, wie der Vorsokratiker Heraklit schon wusste.

Genau diese Höhen und Tiefen des Lebens greift Kelle in ihrem neuen Buch auf. Ihre Wanderschaft ist ein Spiegel des Lebens, ein Überlebenskampf „to go“ sozusagen. Einerseits wäre da der pittoresk anmutende Sonnenaufgang. Andererseits der beißende Schmerz, der sich ab Kilometer zehn in den Beinen meldet. Stetige Auf und Abs, die sich abwechselnd den Staffelstab reichen. Wie im Leben.

Ein Glück, dass es, beim Wandern und im Leben, zwischenmenschliche Begegnungen gibt. So berichtet Kelle von Gefährten, die nicht unterschiedlicher sein könnten und dennoch füreinander da sind. Etwa bei so banalen Dingen, wie dem gemeinsamen Ausklingen des Tages in der Herberge, oder bei Hilfsaktionen, wie dem netten „Herbergsvater“, der die Schuhe eines Mitpilgers kurzerhand wieder funktionstüchtig macht.

Ein wahrhaft unkonventionelles Buch

Obwohl alle das gleiche Ziel haben, so vielfältig und individuell sind die Gründe und die Arten, dieses Ziel zu erreichen: „Jeder muss diesen Weg auf seine Weise gehen. Der Versuch, sich anzupassen, hatte mich schon nach wenigen Tagen erschöpft.“ Und weiter: „Ich musste gefühlt erst scheitern, erst einmal aufgeben, um die richtige Haltung zu meinem Weg zu erringen.“ Auf seine innere Stimme zu hören, sich nicht dem Druck der Anderen hingeben, das ist eine Kunst. Manche kommen mit ihr zur Welt, andere müssen sie erst erlernen. So schreibt Kelle: „Ich habe mein Tempo gefunden, meinen Rhythmus, aus Gehen und Pausen.“

Gerade dieser existenziell anmutende Ton, vermengt mit optimistisch-heiteren Noten, macht Kelles „Camino“ so einzigartig. Schwerwiegende Fragen zum Leben paaren sich mit leichtfertigen Banalitäten des Lebens auf dem Jakobsweg. Dieser Wechsel von Transzendentem und Immanentem erinnert ansatzweise an Heinrich Heines romantisch-realistische Werke. Ebenso, wenn Kelle in die wechselnden Höhen und Tiefen ihres eigenes Seelenhaushaltes blicken lässt. Wie sie zum einen mit persönlichen Niederlagen und Kummer umgeht, zum anderen mit Lichtblicken und Freude.

Wer Kelle nicht nur als „Muttertier“ und engagierte Person des öffentlichen Lebens erleben möchte, sondern von einer anderen, persönlichen Seite, der muss zu „Camino“ greifen. Es ist ein wahrhaft unkonventionelles Buch. Nicht nur für jene, die sich in einer Krise befinden, sondern für uns alle. Kurzum: Es ist ein Buch für alle und jeden.

„Camino. Mit dem Herzen gehen“ von Birgit Kelle, 2021, Basel: fontis-Verlag. Hier bestellbar. Lieferbar ab 1. November.

Foto: Kerstin Pukall

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Franz Klar / 01.11.2021

Ich habe den Jakobsweg auch schon gemacht . Kräftesparend mit dem Mietwagen ( natürlich Verbrenner ) . Auf halber Strecke bin ich in die Berge abgebogen . Viel schöner !

Reinmar von Bielau / 01.11.2021

Bin bereits insgesamt ca. 1000 Km gepilgert, einmal Leon-Santiago-Finisterre und dann, in mehreren Teilen, die Via de la Plata. Wer sich einmal so richtig auf sich selbst reduzieren möchte und bereit ist Schmerzen zu erdulden, der sollte diese Wege zu sich selbst gehen. Infos und Tipps gibt es z.B. beim Pilgerstammtisch in Hamburg. Das Credencial (der Pilgerausweis) kann man sich, wenn man denn christlich geprägt ist, bei diversen kirchlichen Einrichtungen besorgen oder bestellen. Bei der Ausrüstung sollte man insbesondere auf das Schuhwerk achten, der Rest an Gepäck sollte möglichst leicht sein und man sollte vorher ein wenig mit dem gepackten Rucksack trainieren. Alles außer den Schuhen kann man online bestellen, da spart man eine Menge Geld. Vor Allem aber sollte man darauf achten, dass man sein Handy maximal 5 Minuten pro Tag benutzt, um sich möglichst auf sich selbst zu konzentrieren. Allen Peregrinos wünsche ich gute Beine!

Peter Volgnandt / 01.11.2021

Liebe Deborah! Vergess es. Diese Esoteriker, die den Jakobsweg laufen. Ja die kenn ich auch persönlich. Ich weiß es ehrlich nicht, was es ihnen gebracht hat. Was macht man für ein Gedöns um den Jakobsweg. Meine Kollegin ist den Petrus-Weg nach Rom gelaufen, war wunderschön, Den würd ich lieber machen. Mach ich vielleicht auch, aber nur etappenmäßig und könnte fratellino mio in Roma besuchen.

Frances Johnson / 01.11.2021

Camino. Werd ich auch mal machen. Colla macchina. Ich gratuliere aber zur Selbstüberwindung. Und freue mich, dass ihr Mann, Vater ihrer Kinder, es anscheinend - so klingt es im Text - geschafft hat. Väter sind wichtig.

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