Kultur-Kompass: „Der Liberalismus und seine Feinde“

Auf knapp 180 Seiten verteidigt der US-Politologe Francis Fukuyama den Liberalismus. Viel mehr als Vernunft, entsprechende Argumente und etwas Belesenheit braucht es hierfür nicht.

Was war das für ein Radau in der letzten Woche! Kaum wurde bekannt, dass Elon Musk Twitter übernehme, schon hagelte es Kritik am unkonventionellen Tesla-Gründer. Manche verzweifelte Seele bezeichnete ihn gar als „Diktator“ – weil Musk sich für die Meinungsfreiheit stark machen wolle. Diese Reaktion zeugt nicht nur von einem gravierenden Bildungsdefizit. Auch eine beträchtliche Angst vor anderweitigen Positionen als der eigenen kommt hier zum Ausdruck.

Deswegen spielen vermutlich so viele in unserem westlichen Kulturraum verrückt. Sie sind übersättigt von Freiheit, leiden an „Freiheitsadipositas“: Erstens jene, die sich an politische Korrektheit und „Wokeness“ klammern, um nicht im Meer der Vielfalt in Versenkung und Nichtbeachtung zu geraten. Zweitens jene, die eine starke Führungspersönlichkeit herbeisehnen, die ihnen den „richtigen“ Weg aufzeigt. Nicht alle können eben mit Freiheit umgehen.

Vielleicht ist das der Grund, warum Freiheit im Sinne von Liberalismus heutzutage zur B-Ware, nein, C- und sogar zur D-Ware, heruntergestuft wird? Für den renommierten Politologen Francis Fukuyama steht jedenfalls fest: Sowohl die extreme Rechte als auch die extreme Linke stellen eine Gefahr für den Liberalismus und den sozialen Frieden dar. Das ist zumindest die Quintessenz seines neuesten Essaybandes „Liberalism and its Discontents“.

Der klare Vorteil eines intellektuellen Diskurses

Wer sich scheut die Originalversion auf Englisch zu lesen, muss sich bis zum Herbst gedulden. Aller Voraussicht nach kommt die deutsche Übersetzung „Der Liberalismus und seine Feinde“ im Oktober dieses Jahres bei Hoffmann und Campe heraus. Es sei jedoch schon hier gesagt: Der Essay erinnert mehr an ein populärwissenschaftliches Werk, denn an eine wissenschaftliche Abhandlung. Dementsprechend formuliert Fukuyama seine Gedanken kurz, knackig und für die Allgemeinheit leicht verständlich. Das schmälert mitnichten seine Gedankengänge. Im Gegenteil: „Man muss einfach reden, aber kompliziert denken – nicht umgekehrt“, wusste bereits die bayerische Instanz Franz Josef Strauß – oder „FJS“, wie ihn liebevoll seine Anhänger nennen. Dementsprechend schafft man es auch mit „eingerosteten“ Englischkenntnissen sich geschmeidig und leicht durch Fukuyamas Lektüre zu manövrieren.

Viel Zeit muss man hierfür auch nicht aufwenden. Auf knapp 180 Seiten, verteilt auf zehn Kapitel, verteidigt der US-Politologe den Liberalismus. Viel mehr als Vernunft, entsprechende Argumente und etwas Belesenheit braucht es hierfür nicht. Das Herz sagt wehmütig: Wenn doch alle Wissenschaftler, Schreiberlinge und Kulturschaffende wie Fukuyama den klaren Vorteil eines intellektuellen Diskurses erkennen würden. Der Verstand erwidert hierauf: Auch hierfür bedarf es einer entsprechenden intellektuellen Grundausstattung. Voraussetzung für den Zugang zum Professorenstuhl, Redaktionsleiter und Kurator ist diese schon lange nicht mehr.

Ja, so ist das Leben. Und in diesem Leben gebe es eben nichts Besseres als den Liberalismus, so Fukuyama. An entsprechenden ausgereiften Alternativen fehle es. Deswegen setzt er sich auch mit den theoretischen Grundlagen des klassischen Liberalismus auseinander, nennt einige Gründe für die Unzufriedenheit seiner Gegner und spricht sich schlussendlich für den Liberalismus aus. Nur dieser schaffe es „mit der Vielfalt in pluralistischen Gesellschaften umzugehen“. Jedoch tendierten sowohl Befürworter als auch Gegner dazu, sich zu radikalisieren. Beides sei falsch, wie die Geschichte zeige.

Fünf grundlegende Prinzipien einer liberalen Gesellschaft

Dementsprechend verwundert es nicht, dass Fukuyama die Einwände von linker wie von rechter Seite gegenüber dem Liberalismus versiert zerreißt. So demontiert er gekonnt das Gruppendenken linker Anhänger und die Autoritätshörigkeit rechter Sympathisanten – bei den dort anzutreffenden intellektuellen Kapazitäten stellt das für Fukuyama keine Herausforderung dar. Nichtsdestotrotz verteidigt er die Akzeptanz von Vielfalt in unserer Gesellschaft und weist gleichzeitig auf die Bedeutsamkeit des Nationalstaates hin. Jedoch in gemäßigter Form, nicht wie die meisten heutigen Verfechter, radikal und extrem.

Das lässt den Politologen auch zu seinen fünf grundlegenden Prinzipien einer liberalen Gesellschaft kommen: Erstens einen funktionierenden, qualitativ hochwertigen Staat. Zweitens, weniger Zentralismus, dafür mehr Förderalismus. Drittens, die Verteidigung der Meinungsfreiheit. Viertens, die Höherstellung des Individuums über das Kollektiv. Und fünftens, mehr Mäßigung jedes einzelnen in Form von mehr Selbstkontrolle.

Liberale Demokraten können nicht anders als Fukuyama in seiner Analyse en gros zuzustimmen. Zwar kann es en détail zu Meinungsverschiedenheiten kommen, aber bei den grundlegenden Prinzipien können liberale Demokraten sich nicht widersprechen: Individualismus, Freiheit und Vernunft sind essentielle Werte. 

Alexis de Tocqueville verkündete einst: „Wer in Freiheit leben will, muss sich an ein Leben voller Ungewissheit, Veränderung und Gefahr gewöhnen.“ Dazu gehört auch das Aushalten der nuklearen Drohgebärden eines offensichtlich verzweifelten Mannes, der in Denkmustern des 19. Jahrhunderts gefangen ist. Wer sich dem beugt, verzichtet freiwillig auf die Errungenschaften unserer Zivilisation.

 

„Liberalism and its Discontents“ von Francis Fukuyama, 2022, New York: Farrar, Straus and Giroux. Hier bestellbar.

Foto: Deborah Ryszka

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Ludwig Luhmann / 08.05.2022

Huntingtons Bruchlinien haben sich teilweise deutlich gezeigt. Was hat Fukuyama vorzuweisen?

Klaus Keller / 08.05.2022

Wäre noch zu überlegen wer für die Liberalen das Maß an Sicherheit und Ordnung schafft bei dem sie dann zur Überzeugung gelangen können das man den Staat eigentlich nicht braucht. Bei der Wahl zwischen Ordnung und Freiheit kann man auch die Ordnung vorziehen. PS Zu den nuklearen Drohgebärden: Deutschland hält an der nuklearen Teilhabe fest. Die USA, F, GB usw werden auf Atomwaffen nicht verzichten wollen und die Mehrzahl der Völker will auch nicht auf den altmodischen Nationalstaat verzichten. Die Kurden wären froh sie hätten einen. Auf den Staat verzichten zu können muss man sich schon leisten können.

Dirk Jäckel / 08.05.2022

@Arne Ausländer, bedauerlich, dass Sie sich weigern, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Sonst wüssten Sie nämlich, dass er ein dezidierter Gegner linksliberaler (also weder linker noch liberaler) Identitätspolitik - vulgo Wokeness - ist.

Harald Unger / 08.05.2022

@ Arne Ausländer - Was Hegel, * 27.08.1770 † 14.11.1831, nicht zu verwechseln mit Karl Lauterbach, jenseits der Ihnen zugänglichen Wirklichkeitsauffassung, tatsächlich über Preußen gesagt hat:

Harald Unger / 08.05.2022

“Friedrich II. kann als der Regent genannt werden, mit welchem die neue Epoche in die Wirklichkeit tritt, worin das wirkliche Staatsinteresse seine Allgemeinheit und seine höchste Berechtigung erhält. Friedrich II. muß besonders deshalb hervorgehoben werden, daß er den allgemeinen Zweck des Staates denkend gefaßt hat, und daß er der erste unter den Regenten war, der das Allgemeine im Staate festhielt und das Besondere, wenn es dem Staatszwecke entgegen war, nicht weiter gelten ließ. Sein unsterbliches Werk ist ein einheimisches Gesetzbuch, das Landrecht.” Hegel ▪ Philosophie der Geschichte

Alex Schindler / 08.05.2022

Ach herrje, da hat jemand das Rad neu erfunden. Alles schon nachzulesen bei Popper oder Hayek. Und ist das nicht der, welcher das “Ende der Geschichte” verkündet hat?

Reinhold Reggin / 08.05.2022

Ist dieser Francis Fukuyama nicht der selbe Spinner, der sich Ende letzten Jahrhunderts schon mit “dem Ende der Geschichte” blamiert hat? Jedenfalls halte ich Liberalismus für etwas, das auf lange Sicht entartet, und in unserer Zeit schon längst entartet ist, und damit weg muss. Unser entarteter Liberalismus - und einen anderen gibt es genau so wenig wie es einen Kommunismus ohne Staat gibt - ist mitlerweile der größte Feind der Freiheit geworden, weil er Probleme verwaltet, anstatt sie zu beseitigen. Probleme zu verwalten macht es jedoch nötig, Freiheit einzuschränken, und ermöglicht es diesen Problemen zeitgleich sich zu vermehren, wodurch man auf lange Sicht mit Problemen und ohne Freiheit endet. Aus diesem Grund bin ich dafür, dass Probleme beseitigt werden, und ich würde sogar so weit gehen, dass Menschen, die eine Ideologie vertreten, in deren Folge entweder sie oder ihre Vertreter meine Freiheit einschränken, Probleme sind, die beseitigt werden müssen. Franco in Spanien hat dieses Problem so gelöst, dass er einfach jeden aus der Politik heraushielt - Politik bedeutet Einmischung in meine Angelegenheiten - indem er diejenigen, die sich zu weit aus dem Fenster lehnten entweder töten, oder zumindest in Foltergefängnissen verschwinden ließ. Und ploff, schon kümmerten sich die Leute um ihren eigenen Dreck, und nervten niemanden mehr mit irgendwelchen idiotischen Theorien die sie von den Feinden der gesamten Menschheit - der Presse - aufgeschnappt hatten. So würde ich erheblich lieber leben, als in einem Liberalismus, in dem die letzten Menschen sich mit den Untermenschen zusammengetan, und Besitzstandwahrung mit Sozialhilfe kombiniert haben. Communists aren’t people.

Ralf Pöhling / 08.05.2022

Zitat:“Alexis de Tocqueville verkündete einst: „Wer in Freiheit leben will, muss sich an ein Leben voller Ungewissheit, Veränderung und Gefahr gewöhnen.“ Dazu gehört auch das Aushalten der nuklearen Drohgebärden eines offensichtlich verzweifelten Mannes, der in Denkmustern des 19. Jahrhunderts gefangen ist. Wer sich dem beugt, verzichtet freiwillig auf die Errungenschaften unserer Zivilisation.” Es geht bei der Verteidigung der Freiheit mitnichten nur darum, Drohgebärden auszuhalten oder sich ihnen nicht zu beugen, sondern darum, ihnen etwas entgegenhalten zu können. Der Liberalismus findet dort sofort sein Ende, wo er dem Totalitarismus wegen seiner liberalen Grundauslegung nichts Wirksames entgegenhalten will. Auch Liberalismus geht nicht ohne militärische Abschreckung und potentielle Gewalt. Sonst ist er nämlich sofort weg vom Fenster, abgeschossen durch die, die nicht liberal daherkommen. Echter Liberalismus bedeutet nicht(!) unendliche Toleranz gegenüber allem und jedem, sondern individualisierte und dezentralisierte Macht, die dennoch kurzfristig gebündelt werden kann, um Machtansprüche Dritter abwehren zu können. Und das setzt ein bewaffnetes Volk voraus. Die Amerikaner haben das verstanden. Die Schweizer so oder so. Die Deutschen meinen jedoch, dass mahnende Worte oder das öffnen der Geldbörse andere davon abhalten würden, einen selbst zu überfallen. Ein naiver Blödsinn sondergleichen. Niemand hält einen Räuber dadurch vom Raub ab, indem er ihn vollquatscht oder ihm die Geldbörse freiwillig gibt, denn dann hat der Räuber ja erreicht, was er will. Einen Räuber hält man nur dadurch vom Raub ab, indem man ihn mit Waffengewalt davon abhält. Nichts ist überzeugender, als der Blick in den Lauf einer geladenen Waffe. Gegenwehr ist nicht(!) “rechts” oder “autoritär”. Gegenwehr ist Naturrecht. Und dieses Recht gilt unabhängig der politischen Ausrichtung auch für Liberale.

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