Wenn Rechtsstaatlichkeit fehlt, nimmt Willkür ihren Platz ein. Bis heute werden Privatinitiativen, Kleinunternehmertum auf Kuba zwar geduldet, aber sind den immer noch existierenden ideologischen Hardlinern an der Spitze des Regimes ein Dorn im Auge. Das gilt besonders für Paladares, Privatrestaurants, und Casas Particulares, Privatunterkünfte. Beide verschaffen einigen Zehntausend Kubanern ein gutes Einkommen; als Besitzer oder als Angestellte. Gut ist dabei relativ zu sehen zum Durchschnittseinkommen von rund 25 Euro im Monat. Insgesamt sollen über 600.000 Kubaner im nicht staatlichen Bereich tätig sein, das wären rund 8 Prozent der werktätigen Bevölkerung.
Gleichzeitig konkurrieren diese Angebote die staatlichen Hotels und Restaurants. Während sich der Kleinkapitalist beide Beine ausreißt, um seine Gäste zufriedenzustellen, ist der Angestellte in einem Staatsbetrieb nur mäßig motiviert, schlecht bezahlt und daher mehr daran interessiert, Trinkgelder zu kassieren und Dinge des täglichen Gebrauchs abzuräumen, als den Wünschen des Gasts nachzukommen. Zudem werden in den wenigen Luxushotels auf der Insel Mondpreise von bis zu 500 Dollar und mehr pro Nacht verlangt, Frühstück nicht inklusive. Also alles Gründe, um die Kleinunternehmer zu quälen.
Die Befriedigung eigener Bedürfnisse von Angestellten in Staatshotels nimmt manchmal absurde Züge an. Als ich gelegentlich als Fachexperte Schweizer Reisegruppen begleitete, gab es in einem der besten Hotels in Havanna am ersten Abend jeweils einen Apéro, natürlich mit dem Nationalgetränk Mojito. Normalerweise Mineralwasser, etwas Zucker, eine Art Pfefferminz und ein sehr kräftiger Schuss Rum.
Zu meinem Erstaunen wurden aber die wohl 25 Mojitos ohne Rum serviert. Als ich mich beschwerte, dass es wohl eine Frechheit sei, auf diese Art ein bis zwei Flaschen Rum dem Eigenbedarf zuzuführen, wurde mir vom zu Hilfe gerufenen Hotelmanager bedeutet, dass man diese beleidigende Unterstellung nicht hinnehme. Auf Wunsch wäre der Mojito selbstverständlich mit Rum serviert worden, das sei lediglich Rücksichtnahme auf Antialkoholiker, und wenn ich nicht schnell Ruhe gebe, werde man mich zur unerwünschten Person erklären, man habe da so seine Beziehungen.
Letztes Jahr wurde das Quälen bei den Paladares durchexerziert. Wer ein Restaurant mit Bar betreibt, das auch als Cafeteria funktioniert, musste auf einmal drei Lizenzen beantragen, für jede Funktion eine. Und zwar mit drei verschiedenen, nicht verwandten Lizenznehmern. Das verdreifachte nicht nur die monatlichen Abgaben, sondern führte auch zu massiven Protesten. Also wurde die Maßnahme "angepasst", was in Kuba bedeutet: stillschweigend zurückgenommen.
Wenn etwas funktioniert, dann die Einreisekontrolle
Anfang dieses Jahres sind nun die Besitzer von Kleinhotels dran. Bislang mussten pro vermietetem Zimmer pro Monat 35 CUC, rund 30 Euro, abgeführt werden. Plus zehn Prozent der Einnahmen. Wohlgemerkt, unabhängig davon, ob das oder die Zimmer überhaupt vermietet werden konnten oder nicht. Zudem muss der Betreiber am Tag des Einzugs neuer Gäste deren Daten, also Name, Passnummer und dergleichen, bei der zuständigen Behörde registrieren lassen. Unterläuft ihm dabei auch nur der kleinste Fehler, zum Beispiel eine falsche Zahl in der Passnummer, sind drakonische Bußen fällig. Und wenn etwas auf Kuba funktioniert, dann ist es die Einreisekontrolle, deren Daten auf der ganzen Insel abgerufen werden können.
Während also die Staatshotels immer mehr Gäste verlieren, florieren die Privatunterkünfte; wer auf Airbnb und Havanna nachschaut, findet dort unzählige Angebote, darunter auch Luxusunterkünfte mit Pool, Butler, Koch und weiteren Bediensteten, zu entsprechenden Preisen. Also beschloss die nationale Steuerbehörde ONAT, die Abgaben pro Zimmer fast zu verdoppeln. Ohne Vorwarnung, ohne öffentliche Ankündigung, per sofort. Neuerdings sind 60 CUC pro Zimmer fällig, wird das ganze Haus oder die ganze Wohnung vermietet, sind es sogar 70 CUC pro Zimmer und Monat. Durchschnittlich werden auf Kuba zwischen 25 und 35 CUC pro Übernachtung verlangt, Frühstück und Familienanschluss inklusive.
Aber diese Einnahmen sind natürlich saisonabhängig. Wer zum Beispiel etwas riskiert hat und ein Kleinhotel mit zehn Zimmern betreibt, muss jetzt 700 CUC pro Monat abliefern. Auch wenn außerhalb der Saison kein einziges Zimmer vermietet wurde. Der kubanische Tourismusminister räumte Ende letzten Jahres ein, dass im Schnitt die Privatunterkünfte 2018 nur zu 44 Prozent ausgelastet waren. Man rechne. Als weitere Schikane gilt ab 1. Januar dieses Jahres, dass jeder Vermieter von Privatunterkünften ein Bankkonto zu eröffnen hat, auf dem mindestens die Abgaben von zwei Monaten als Reserve gehalten werden müssen. Knabbert der Vermieter diese Reserve an, muss er den fehlenden Betrag innerhalb von 5 Tagen ersetzen, sonst ist die Lizenz weg.
Man müsste schon längst im Paradies angekommen sein
Die offizielle Begründung, wieso diese gewaltige Steigerung der Abgaben nicht angekündigt wurde, ist so raffiniert wie kafkaesk: Sie gelte vorläufig nur für bestimmte Zonen, beispielsweise in Havanna, wo es ein hohes Touristenaufkommen gebe. Und um Unsicherheiten in der Bevölkerung zu vermeiden, seien nur die Betroffenen direkt informiert worden. Zudem seien diese höheren Abgaben gerechtfertigt, da ständig mehr Touristen die Insel besuchen würden. Nun ist es da wie überall mit staatlichen Daten so eine Sache. Ginge man nach den offiziellen Verlautbarungen, müsste die Insel schon längst im Paradies angekommen sein. Zudem, wenn es eine Steigerung gab, liegt die wohl in erster Linie daran, dass seit einiger Zeit Kreuzfahrtschiffe, auch aus Miami, in kubanischen Häfen anlegen dürfen. Diese Touristen benützen aber weder Unterkünfte noch Restaurants.
Das Unangenehme an diesen Maßnahmen ist, dass so kein Kleinunternehmer einen sinnvollen Businessplan machen kann. Er hat keinerlei Handlungssicherheit, er weiß nicht, welche neuen Steuern, Schikanen, Kontrollen, welcher neue Papierkram den staatlichen Behörden demnächst einfallen werden. Wer ein Restaurant betreibt, muss mindestens einen Teil der Lebensmittel auf dem Schwarzmarkt kaufen. Werden Quittungen für die Einkäufe verlangt, hängt es davon ab, ob sich der Inspektor bestechen lässt oder nicht. Wenn nicht, ist die Lizenz weg, wird das Restaurant geschlossen und drohen Bußen oder sogar Gefängnis. Auch der Betreiber eines Kleinhotels muss sich Verbrauchsgegenstände wie Toilettenpapier, Reinigungs- und Waschmittel hintenrum besorgen. Denn entweder gibt es sie nicht in den Staatsläden oder dann zu exorbitanten Preisen. Wird scharf kontrolliert, gilt das Gleiche wie im Restaurant.
Auf der anderen Seite stellt die sogenannte Cúpula, also das Kuppeldach der herrschenden Oberschicht, ihren Reichtum immer unverschämter zur Schau. So trat Raúl Castro bei der obligatorischen Rede zum 1. Januar, dem Tag des Triumphs der Revolution im Jahre 1959, mit einer Brille auf, an der deutlich sichtbar Ray Ban prangte; die traditionelle US-Marke. Und der neue Präsident Kubas, Miguel Díaz-Canel, zeigt sich bei öffentlichen Auftritten mit einer TAG Heuer-Smartwatch, Kostenpunkt unter Freunden 1.800 Euro. Noch schlimmer, ein Sohn Raúls ist der Chef des staatlichen Konzerns, der sämtliche Staatsbetriebe kontrolliert. Eine Tochter Raúls ist unter anderem Besitzerin von einem Nachtclub und einem ganzen Komplex, der ein Privatrestaurant und eine "Kulturfabrik" umfasst, wo sich die Jeunesse dorée, die sich das leisten kann, gerne am Abend trifft. Einen solchen Nepotismus gab es unter Fidel Castro in diesem Ausmaß nicht.
Privatinitiativen von Kubanern werden schikaniert. Auch ausländische Investoren schrecken nach wie vor von Engagements auf der Insel zurück. Die mit großem Trara angekündigte neue Freihandelszone neben dem neuen Tiefseehafen von Mariel, die mit einem brasilianischen Staatskredit von der in eine gewaltige Korruptionsaffäre verwickelten Firma Odebrecht gebaut wurde, ist ein Flop. Offiziell steigt die Zahl von Joint-Ventures, rund 600, davon die meisten Hotelmanagement-Verträge, nicht. Das liegt nicht an der US-Handelsblockade, sondern schlichtweg daran, dass das Regime ausländischen Produzenten keinen direkten Marktzugang erlaubt, sondern die Produkte zu absurden Preisen in Staatsläden verkauft.
Und was heißt schon Markt, was für ein Markt, bei diesem lächerlichen Durchschnittseinkommen? Und wer hat schon das Gottvertrauen, im Fall von Streitigkeiten den kubanischen Staatspartner vor einem kubanischen Staatsgericht einzuklagen und zu hoffen, dass er gewinnt. Weil wie meist Schlupflöcher und Möglichkeiten, mit Eigeninitiative Geld zu verdienen, gestopft und abgewürgt werden, denken immer mehr Kubaner, vor allem junge, nur an eines: nichts wie weg von der Insel.
„Wo’s hier langgeht, das bestimme ich“
Ach, und dann ist noch eine neue Verfassung in einer Volksabstimmung angenommen worden. Und obwohl die meisten Kubaner ihre Stimme abgaben und eher überraschungsfrei der Vorlage mit großer Mehrheit zustimmten, interessiert das auf Kuba nicht wirklich. Genauso wenig wie die alte Verfassung, die erst 1976, also 17 Jahre nach dem Triumph der Revolution, eingeführt wurde. Denn vorher wie nachher hätte die Verfassung aus einem Satz bestehen können: "Wo’s hier langgeht, das bestimme ich." Gezeichnet, Fidel. Diese Macht ist via seinen Bruder Raúl inzwischen auf die Mitglieder des Politbüros und vor allem auf die Militärführung übergegangen.
Viel mehr als eine neue, alte Verfassung, die weiterhin die kommunistische Partei als einzig legale politische Kraft festlegt, interessieren die Kubaner die Ereignisse in Venezuela. Denn dieses Land hatte nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers die Funktion des Zahlsohns eingenommen. Hugo Chávez sah Fidel Castro als sein grosses Vor- und Leitbild und überschüttete die Insel mit Erdöl und anderen milden Gaben zu Freundschaftspreisen. Sein Nachfolger Nicolá Maduro führte die Tradition weiter – allerdings wurde der Geld- und Warenfluss inzwischen zu einem dünnen Rinnsal, und wenn das Maduro-Regime fällt, dürfte in Kuba die zweite "spezielle Periode in Friedenszeiten" ausbrechen. So nannte man offiziell die dunklen Jahre zwischen 1990 und 2000.
Anschließend gab es mal wieder etwas fettere Jahre, aber Kuba ist heute so wenig wie vor 1990 und danach in der Lage, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung aus eigener Kraft zu befriedigen. Also durch Produktion auf der Insel oder durch Exporterlöse, die entsprechende Importe erlauben. Trotz eines Zuflusses von rund 3 Milliarden Dollar pro Jahr von Exilkubanern, die ihren armen Verwandten und Freunden auf der Insel helfen, braucht das kubanische Regime schätzungsweise 2,5 Milliarden Dollar pro Jahr zusätzlich. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? In Form von Krediten natürlich, aber auch diese Karte ist langsam ausgereizt, obwohl man im Kapitalismus bekanntlich den nächsten Dummen immer findet.
Aber etwas muss man den Kubanern lassen. Die gute Laune lassen sie sich durch nichts verderben. Was sie allerdings wirklich von ihrem Regime, dem tropischen Sozialismus und seiner Zukunft halten, das weiß niemand. Dem ausländischen Besucher wird einfach seine Meinung gespiegelt. Revolutionsnostalgiker mit Che-Shirt? Wunderbar, der Kubaner verwandelt sich in den tapfersten aller Revolutionäre. Kritiker der jämmerlichen Infrastruktur, der industriellen Ruinenlandschaft? Der Kubaner verwandelt sich in den unmenschlich Leidenden, kein Geld, keine Medikamente, keine Schuhe für die Kinder, keine Zukunft. Die Absicht in beiden Fällen ist einfach, möglichst viel Bakschisch aus dem Besucher rauszuleiern; wieso sollte man da dessen Ansicht widersprechen. Nicht nur aus diesem Grund weiß niemand, das Regime nicht, die ausländischen "Fachleute" erst recht nicht, wohl die Kubaner selbst nicht, wie’s auf der letzten Insel des real existierenden Surrealismus weitergehen soll.