Es ist Usus geworden, Bücher mit der Attitüde einer mutigen Wortmeldung gegen den Mainstream zu vermarkten. Auch die „Kritik des Neoliberalismus“ von Christoph Butterwegge, Bettina Lösch und Ralf Ptak kommt ohne diese Mode nicht aus. „Das neoliberale Denken ist in fast alle Lebensbereiche eingedrungen und seine Hegemonie, d.h. die öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus, deshalb nur schwer zu durchbrechen“, schreiben die Autoren in der Einleitung. Angesichts der Ablehnung, die der Begriff „neoliberal“ öffentlich erfährt und angesichts der Flut von Büchern – unter anderem von einem deutschen Ministerpräsidenten – mit dem selben Anspruch, ist das „Durchbrechen“ aber leichter als die Autoren vorgeben. Umso erstaunlicher, dass es ihnen trotzdem misslingt.
Die drei Wissenschaftler der Kölner Universität versuchen, die neoliberale Theorie darzustellen, ein Bild der Gesellschaft zu zeichnen und schließlich, den Wohlfahrtsstaat gegen das zu verteidigen, was sie als Raubbau an Demokratie und Gerechtigkeit empfinden. Doch der Theorie werden sie nicht Herr, der Realität werden sie nicht gerecht und ihre Alternativen bleiben hohl.
Da Autoren es konsequent unterlassen, klarzustellen, was sie mit Begriffen wie soziale Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit oder Demokratie meinen, gewinnt man den Eindruck, dass für sie die einzige Definition all dieser Prinzipien lautet: Das Verteilen anderer Leute Geld.
So geraten Argumente zum tragikomischen Eigentor, wie Butterwegges Versuch, neoliberale Leistungs-Rhetorik zu entlarven. „Ist es etwa eine Leistung, Sohn oder Tochter eines Millionärs?“ zu sein, fragt Butterwegge. Nein, Herr Professor. Aber noch weniger ist es eine Leistung, Geld zu beziehen, das der Staat dem Erben eines Millionärs weggenommen hat, weil dessen Vater gestorben ist. Erben hat nichts mit Leistung zu tun, sondern mit rechtmäßigem Besitz – und mit der durchaus sozialen Vorstellung, dass Ehe und Familie Zugewinngemeinschaften sind, selbst wenn nur das Familienoberhaupt Besitz erwirbt.
Um den großen Satan Neoliberalismus entlarven zu können, klamüsern die Autoren alles zusammen, was ihnen in die Finger kommt. Sie reißen aus dem Zusammenhang, zitieren missverständlich, widersprechen sich. Dazu kommt das völlige Fehlen einer internationalen Perspektive. Der gegen Rechts engagierte Sozialwissenschaftler Butterwegge scheut sich nicht, in NPD-Manier über den ständigen Niedergang infolge der Globalisierung zu lamentieren. Dabei ist diese Botschaft global gesehen unhaltbar. 2005 sind so wenige Kinder weltweit gestorben wie nie zuvor. Die Zahl der Hungernden sinkt relativ von Jahr zu Jahr – vor allem wegen der Fortschritte in den „Globalisierungsstaaten“ Asiens. Zur Realitätsverweigerung gehört, dass die Autoren überall Privatisierungswahn und Sozialabbau sehen, aber ignorieren, dass die Staatsquote in den großen Industriestaaten nach wie vor um die 50 Prozent beträgt. Wo bleibt er, der neoliberale Kahlschlag?
Wie niedrig das Niveau der „Kritik“ ist, beweist Butterwege mit seiner Antwort auf das – angeblich neoliberale – Credo, die Vermeidung von Bildungsarmut sei wichtiger als die Vermeidung von Einkommensarmut: „Wenn alle Kinder mehr Bildung bekommen, konkurrieren sie um die wenigen Ausbildungs- und Arbeitsplätze womöglich nur auf einem höheren Niveau, aber nicht mit besseren Chancen.“ Das ist Volksverdummung. Denn auf höherem Bildungsniveau gibt es mehr, andere und besser bezahlte Arbeitsplätze – wie der aktuelle Facharbeitermangel zeigt. Zudem steigt mit dem Bildungsniveau eines Volkes seine Produktivität und damit das Wirtschaftswachstum, wodurch der zu verteilende „Kuchen“ an Arbeit und Wohlstand größer wird. Dass jemand, der sich als links versteht, die positive Wirkung von Bildung in Abrede stellt, schreit zum Himmel.
Wo der Hase hinlaufen soll, verrät Butterwegges nächster Satz: „Um die Erwerbslosigkeit und Armut als gesellschaftliche Phänomene zu beseitigen, bedarf es der Umverteilung von Armut, Einkommen und Vermögen.“ Was passiert, wenn erst alles „gerecht“ umverteilt ist, und ob dazu auch die staatliche Umverteilung von Intelligenz, Glück und liebevollen Eltern folgen muss – leider bleiben die Autoren die Antworten schuldig. Sie kommen nicht einmal dazu, „Armut“ zu definieren.
In ihrer „Kritik“ gehen Butterwegge und Co. selektiv und verallgemeinernd zugleich vor. Einerseits werden neoliberale Definitionen des Sozialen wie Milton Friedmans „negative Einkommenssteuer“ in wenigen Zeilen (und sinnentstellend) abgetan. Andererseits wird alles, was den Autoren nicht in den Kram passt, als „neoliberal“ geoutet – egal ob es liberal, konservativ oder neu-sozialdemokratisch ist. Und weil in den 20er und 30er Jahren, in denen die Politik von Rassen- und Klassenfragen sowie dem Wunsch nach einem „starken Staat“ bestimmt war, auch Neoliberale einen „starken Staat“ wollten, gehen Butterwegge und Co. so weit, die neoliberale Idee bis heute in die Nähe des Faschismus zu rücken.
Als Beleg für den ahistorischen Unsinn muss herhalten, dass sich das Pinochet-Regime von der Denkfabrik des Neoliberalismus in den USA, der Universität Chicago, beraten ließ, als es die chilenische Wirtschaft umkrempelte. Das mag kein Ruhmesblatt für die „Chicago Boys“ sein, aber ein Argument gegen wirtschaftsliberale Reformen in Europa ist es wirklich nicht. Nebenbei: Mit dem Aufzählen von Diktatoren, die von diesem oder jenem unterstützt wurden, sollten Linke besser nicht anfangen – die Bilanz fällt ziemlich peinlich aus.
Eine gute Polemik ist wie etwas Pfeffer auf der saftigen Erdbeere. Die „Kritik des Neoliberalismus“ ist eine schlechte Polemik: Die Autoren werfen die Kriterien sozialwissenschaftlicher Arbeiten beim Inhalt über Bord und behalten sie ausgerechnet beim Schreibstil bei. Wie schon Karl Kraus sagte: Es genügt nicht, keinen Gedanken zu haben. Man muss auch unfähig sein, ihn auszudrücken.
Christoph Butterwegge, Bettina Lösch, Ralf Ptak u.a.: Kritik des Neoliberalismus. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2007.