Jesko Matthes / 17.12.2020 / 06:25 / Foto: Yann / 81 / Seite ausdrucken

Krise von 9 bis 16 Uhr, am Wochenende geschlossen

Vorab: Auch ich habe kein Kochrezept. Es geht nicht um Rechtfertigung, es geht um Lernfähigkeit, Falsifizierbarkeit. Um es also noch einmal in aller gebotenen Kürze zu sagen, was beim derzeitigen Kenntnisstand über die „Corona-Pandemie“ wahrscheinlich schon jetzt nicht verifizierbar, aber falsifizierbar ist:

Die „Kontaktverfolgung“ und die Quarantäne für symptomlose Kontaktpersonen von „SARS-CoV2“ sind ein ziemlich sinnloses Unterfangen. Wenn die Dunkelziffer – also jene Zahl symptomloser Betroffener und leicht Erkrankter, die gar keine Arztpraxis aufsuchen, weil sie nur Kratzen im Hals haben – auch nur beim Faktor drei liegt, dann laufen neben zwanzigtausend frisch Diagnostizierten noch sechzigtausend Leute frei herum, die – möglicherweise zu etwa 20 Prozent, das sind also immer noch relativ stolze zwölftausend Menschen - das Virus übertragen können. Man muss Michel Foucault nicht mögen, großartig aber ist sein Buch „Die Geburt der Klinik“. Allein die Kapitelüberschriften reichen: Öffnen sie einige Leichen! – Die Krise der Fieber. Foucault beschreibt die Grenze zwischen dem Tableau der Theorie und dem Erkenntnisgewinn, der sich an der empirischen, also der persönlichen, und der statistischen, also der allgemeinen Wirklichkeit misst.

Es soll also nicht heißen, der Versuch der Kontaktverfolgung und die Quarantäne seien im Prinzip „falsch“. Sie waren zu Beginn richtig, um den Verlauf der Pandemie zu bremsen; sie sind es nicht mehr auf die gleiche Weise in der echten pandemischen Phase, wenn also die Ansteckungen Fahrt aufnehmen. Und wenn da täglich zwölftausend symptomlose oder symptomarme, ansteckende Leute frei herumlaufen, die ihre Krankheit nicht kennen und deren Krankheit niemand kennen kann, wie sinnvoll ist dann der Lockdown eines ganzen Landes von 83 Millionen? Es kann sein, dass er gerade deshalb sinnvoll ist. Gehen wir also ins Detail: Wie sinnvoll ist das Tragen einer Maske im Freien, wenn es seit März heißt, der Kontakt in geschlossenen Innenräumen müsse wahrscheinlich ca. fünfzehn Minuten dauern für eine „erfolgreiche“ Infektion? Wo ist dann das Risiko am Glühweinstand? Wo ist das Risiko am Arbeitsplatz und in den Geschäften, in den Gastronomien mit Abstand und Hygienekonzept, wenn alle jene Masken tragen, die doch angeblich so hervorragend schützen? Oder ist das gar nicht so? Muss man Schulen schließen, wenn man weiß, dass Kinder und Jugendliche kaum ernsthaft erkranken - oder sich doch eher fragen, wie man Lehrkräfte, die chronisch krank sind, und solche ab dem fünfzigsten Lebensjahr schützt? Gewiss, das sind Fragen, keine Antworten! Ist der Lockdown die einzige mögliche Antwort?

Okay. Dann also doch Schutz plus Kontaktverfolgung? Wenn nur 20 Prozent der Betroffenen echte Überträger sind, dann liegt deren Kontakt zu einem echten Überträger bei einer Inkubationszeit von maximal zwei Wochen eben in diesen zwei vergangenen Wochen. Wenn also jetzt noch Kontaktverfolgung stattfinden soll, dann bitte „rückwärts“, um die echten Überträger aufzuspüren, und nicht „alle aktuellen Kontakte“, die wahrscheinlich eher ungefährlich sind. Darum ist auch Drostens Fetisch vom Frühjahr, die ominöse R-Zahl, ein reiner Durchschnittswert, der wenig taugt – wie man sieht. Die R-Zahl liegt ständig um 1, die Zahlen steigen.

Was also, außer der genannten „Rückwärtsverfolgung“ und dem bestmöglichen Schutz der Risikogruppen – zuzüglich der sehr bitteren Erkenntnis, dass auch an Erkältungskrankheiten selbstverständlich „gestorben wird“, im Seniorenheim, im Krankenhaus, zuhause – bleibt uns?

Eine Krise ohne Krisenstab

Mir fehlt jedenfalls nicht das sinnbefreite Blabla eines Armin Laschet, dieses Weihnachtsfest werde ein ganz anderes sein, als unsere Generation es kennt. Das habe ich nun auch schon irgendwie bemerkt. Mir fehlt auch nicht – jedenfalls zu Anfang – eine Impfkampagne, die Monate dauern wird, und die die Übertragung des Infekts nicht sicher ausschließt, deren Nutzen und Risiken mir also völlig unbekannt sind. Mir fehlt auch kein Gesundheitsminister, der sich werbewirksam im Fernsehen impfen lassen oder zugegen sein wird, wenn eine Seniorin oder ein Krankenpfleger sich impfen lassen. Mir fehlen Fakten. Okay, sie fehlen nicht nur mir.

Mir fehlt allerdings mehr: echte Unterstützung für die Kliniken und Intensivstationen statt Tausende von Freiwilligen für eine Impfkampagne, deren Nutzen niemand kennt. Mir fehlen Politiker wie Boris Palmer. Die Schnelltests und Schutzmaterialien für Seniorenheime schon längst beschafft haben. – Das sei „populistisch“ und biete keine absolute Sicherheit? Ach, ja? Das ist doch die politische Standardfolklore zum islamistischen Terror: Mürrische Indifferenz. Es gibt keine absolute Sicherheit!

Dennoch gibt es bestmögliche Maßnahmen. Und die können auf Dauer nicht das Absperren – oder nunmehr Verbieten – von Weihnachtsmärkten und der totale Lockdown sein. Oder soll uns erst der Terror von Menschen und nun der Terror eines Virus, das sich zu zwanzig Prozent „spontan radikalisiert“ und zu einem Prozent (oder mehr, oder weniger, je nachdem, wie intelligent die Maßnahmen und wie belastbar die Ressourcen sind) tödlich ist, jede Öffentlichkeit nehmen?

Der Vergleich hinkt? Anyway: Lasst denen, die sich gesund fühlen, ihre Freiheit. Definiert die Risikogruppen und schützt sie, definiert die „Superspreader“ und isoliert sie. Gebt denen, die sich krank fühlen, die Sicherheit, die möglich ist: Krankschreibung, Lohnfortzahlung, Home-Office; Isolation aus Vernunft, nicht aus Zwang. Verfolgt Kontakte rückwärts und bestraft nicht symptomlose Angehörige: Testet sie lieber, denn das geschieht sehr selten! Und tut es per Antigen-Test, nicht per PCR, die nahezu nichts beweist, jedenfalls keine Infektiosität. Bildet medizinisches Personal so gut wie möglich aus. Spart Euch die aktuellen Kontaktverfolgungen, noch einmal: Verfolgt rückwärts, sucht die Multiplikatoren („Superspreader“) und schickt sie in Quarantäne. Und schickt stattdessen das frei werdende Personal der Gesundheitsämter in die Seniorenheime zur Schulung. Und in die Arztpraxen!

Denn: Wie kann es sein, dass ich als Hausarzt seit Beginn der Pandemie nicht eine einzige Fortbildung oder gar Krisensitzung meiner Ärztekammer oder Kassenärztlichen Vereinigung erlebt habe, stattdessen nichts als Rundschreiben, Mitteilungen über Lieferfristen, Meldebögen, Anwesenheitskontrollen? Alles sinnlose Bürokratie, reine Makulatur! Wie kann es geschehen, dass überall Krise ist, ich aber keinen örtlichen Krisenstab kenne? Keine offiziellen Zahlen aus der örtlichen Klinik erfahre, sondern die „Corona-Karte“ irgendeines Nachrichtenportals anklicken muss? Soll ich als Hausarzt auch immer wieder, wie heute, erleben, dass der einzige ständig hustende, demente Bewohner dort ohne Maske im Aufenthaltsraum sitzt, während man mir beim Betreten des Heimes Fieber misst und ab morgen zu Recht den Schnelltest abverlangt, während ich andauernd „FFP-2“ trage und das Heim nur mit bereits angelegten Nitril-Handschuhen betrete?

Bringt dieses müde, hellwache, große bisschen Wissen endlich an die Basis. Wir spielen hier nicht „Ich-bin-Experte-ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst“! Und spart Euch dafür die Panikmache, die Drohkulissen, die Hochwertworte, den billigen Trost. Auch ich muss jeden Tag sorgfältig und auf Grundlage naturwissenschaftlicher Erkenntnisse arbeiten und es erklären. Mich fortlaufend korrigieren. So müssen es auch meine Kolleginnen und Kollegen und die Pflegekräfte in den Kliniken. Ja, täglich neue Grenzen ziehend, zuerst für mich, erst danach für andere. Ja, falsifizierbar. Ja, messbar an Erfolg und Misserfolg. Ja, anstrengend!

Wir haben Politiker, die mögen es solchermaßen philosophisch. Eine Kanzlerin, die sich auf die Naturgesetze beruft. Was immer sie damit meinen mag, denn wir haben es nachgerade eben nicht mit „Schwerkraft“ zu tun. Einen Bundespräsidenten, der es gern bei und mit Hannah Arendt versucht, mit durchaus wechselndem Erfolg. Das ist wohl so seine ganz persönliche Totalitarismustheorie.

Schicksalsgemeinschaft ohne Grenzen des eigenen Denkens?

Dann also noch ein Exkurs, linguistische Hermeneutik frei nach Hans-Georg Gadamer (Link:). -  Denken stößt an Grenzen, Worte wollen erklärt sein, Krise verlangt Kritik, alles dasselbe Wort: Krinein ist die Grenze, sie allein macht den Unterschied, auch und gerade im Lockdown:

Unterscheidungen zu treffen, wird einer Zeit schwer, die sich prinzipiell davor scheut, überhaupt noch Unterscheidungen im Denken zuzulassen  –  denn Unterscheiden bedeutet ausschließen, und das behagt der aktuellen Inklusionsrhetorik wenig. Grenzen zu ziehen, sei es in der Wirklichkeit, sei es im Denken, gilt als unfein. Der Zeitgeist will Grenzen überschreiten, beseitigen, aufheben, zum Verschwinden bringen. Er täuscht sich damit allerdings über die Funktion und Möglichkeiten von Grenzen ebenso wie über die Bedeutung, die diese für die Analyse und Bewältigung von Krisen einnehmen müssen. Aber auch derjenige, der aus guten Gründen Grenzen zum Verschwinden bringen will, müsste das Lob der Grenze singen, denn nur diese signalisiert ihm, was die Grenze einst schied und was nun offenbar hinfällig geworden ist. Es lohnt sich deshalb, einmal darüber nachzudenken, wie alles begann, wann, wo und warum erste Grenzen gezogen werden müssen, wann und unter welchen Bedingungen Grenzen aufgehoben oder überaschritten werden können, wer durch Grenzen ausgeschlossen, aber unter Umständen auch geschützt werden kann, entlang welcher Bruchlinien im Denken und in der Wirklichkeit die Grenzen unserer Tage verlaufen, wo, im Kleinen wie im Großen, in einer Stadt und in Europa, in der Gegenwart und in der Zukunft Grenzen virulent sind und wann wir an äußerste Grenzen stoßen, die, weil unüberschreitbar, keine Grenzen mehr sind.

So auch die Krise des Virus. Sie ist eine solche Grenze. - Der Lockdown, er sei die neue Inklusionsrhetorik, die neue Schicksalsgemeinschaft? - Wie? Das sei eine Provokation, keine Hilfe? Gut. Dann deutlicher: Erspart mir die lasche Prise, siehe oben. Gebt mir die volle Dosis Helmut Schmidt! Auch und gerade per Fernsehansprache zu Weihnachten und Neujahr. Ich warte auf diese Ansprachen, liebe Frau Kanzlerin, werter Herr Bundespräsident. Das hier ist kein geistiger Lockdown, keine intellektuelle Kurzarbeit, keine Zeit für die üblichen Worte unter Tannenbaum und Schwarzrotgold. - Und das sei von Politik wirklich zu viel verlangt?

Jesko Matthes ist Arzt und lebt in Deutsch-Evern.

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RicoMartin / 17.12.2020

Ich bin da weniger “naiv”! Das Land wird “sturmreif geschossen” für die Impfung. Alle Maßnahmnen zielen in die Richtung, das endlich die Erlösung durch Impfung kommt. Beispielhaft dafür sind meine Dialoge mit Menschen, die nichts außer Mainstream konsumieren.

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