Wolfram Weimer / 20.12.2018 / 17:00 / Foto: Reto Klar / 0 / Seite ausdrucken

Kriegt England jetzt auch eine AKK?

Die britische Premierministerin wankt. Längst jagen Nachfolgegerüchte durch London. Wie in Berlin könnte die Regierungschefin bald von einer vermeintlichen Vertrauten, einer “Mini-May”, abgelöst werden. Amber Rudd ist so etwas wie die AKK Großbritanniens. Aus Sicht der rechten Machtmänner ist die kluge Arbeitsministerin bloß eine “Mini-May” im Kabinett. Rudd hat May selbst in den dunkelsten Stunden des Brexit-Sturms die Treue gehalten und vor wenigen Tagen noch bei der Vertrauensabstimmung der eigenen Fraktion für die Premierministerin geworben und liberale Seilschaften mobilisiert. Sie verfolgt eine pro-europäische Agenda, war gegen den Brexit und versucht nun, den Schaden mit pragmatischen Deals wenigstens zu minimieren.

Wie AKK zu Merkel steht Rudd zu May – als eine der letzten Vertrauten und Schwestern im Geiste. Wie AKK wird auch Rudd vom rechten Flügel der Partei deswegen kritisch beäugt. Wie AKK entstammt sie einer vielköpfigen Familie, ist selber Mutter und hat knappe Wahlkreise gewonnen. Beide sind Mitte fünfzig, beide waren bereits Innenministerinnen, beide sind als Frauen zielstrebig in Männerdomänen vorgestoßen. Und beide werden chronisch unterschätzt.

Rudd hat nun – wie AKK in Berlin – die behutsame Absetzbewegung von ihrer Patronin begonnen. May wie Merkel hören mit dieser Legislatur auf, und bei beiden dräut auch ein plötzliches Ende der Regentschaft. Bei May sehr bald sogar. Also hat Rudd nun einen eigenen Plan zur Lösung des Brexit-Dilemmas veröffentlicht: das “Norwegen-plus-Modell”. Sollte das mit Brüssel ausgehandelte Abkommen zum EU-Austritt bei der Abstimmung im Londoner Parlament durchfallen, könnte das der Plan B sein, ließ Rudd den Sender BBC und die Zeitung “The Times” wissen.

Norwegen ist Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR, eine vertiefte Freihandelszone), aber nicht in der EU. Großbritannien könnte dem folgen und zudem eine Zollunion mit Brüssel beschließen – also Norwegen plus. Bei den Brexit-Hardlinern ist diese Lösung als zu weicher Brexit verpönt. Die Wirtschaft Großbritanniens würde diese Lösung aber willkommen heißen, viele Briten auch. Das Norwegen-Plus-Modell könnte daher auch eine fraktionsübergreifende Mehrheit im Parlament bekommen. Rudd hat mit dem Vorstoß die Debatte neu sortiert. Mit Absicht. Sie gilt – wie AKK – als eine geschickte Strategin. Und weiß, dass sie jetzt eine Lösung verkörpern muss, um nach der Macht greifen zu können.

Von einer Außenseiterposition ins Zentrum der Macht

Rudd wurde erst 2010 als Kandidatin in East Sussex ins britische Unterhaus gewählt und macht seither steile Karriere. Premierminister David Cameron berief sie 2015 als Ministerin für Energie und Klimawandel in sein Kabinett. May beförderte sie dann zur Innenministerin, wo sie nach zwei Jahren wegen des “Windrush-Skandals” (Ungerechtigkeiten um die Aufenthaltsrechte von Kindern karibischer Einwanderer) zurücktrat. Viele dachten, die steile Karriere von Rudd sei beendet. Doch May wollte auf sie nicht verzichten und berief sie im November flugs wieder zur Ministerin – diesmal für Arbeit und Rente. Sollte May im Machtkampf mit den rechten Brexiteers unterliegen und tatsächlich zurücktreten müssen, stehen die Konservativen in Großbritannien ähnlich gespalten da wie die CDU in Deutschland.

Ein konservatives Lager um den schillernden Ex-Außenminister Boris Johnson mobilisiert seit Wochen wie das Lager um Friedrich Merz in der CDU. Doch die Gruppe der einstigen “Remainers”, der Moderaten und derjenigen Tories, die einen sanften Brexit bevorzugen, suchen sich bereits einen eigenen Kandidaten. Und plötzlich hat Amber Rudd ihre Chance, von einer Außenseiterposition ins Zentrum der Macht vorzustoßen – wie AKK in Berlin. Das Norwegen-Modell könnte ihr dabei helfen. Ihren latenten Rivalen Johnson attackiert sie schon mal deftig als “einen Mann, mit dem man am Abend nicht nach Hause fahren möchte”.

Rudd – studierte Historikerin – arbeitete vor ihrer politischen Karriere als Investmentbankerin in London und New York. Sie entstammt einer illustren Familie, ihr Vater war Tony Rudd, ein Aktienhändler und Kriegsveteran mit Augenklappe. Die Familie pflegt beste Verbindungen zu der Aristokratie, der Hochfinanz sowie der Filmbranche. Aus Spaß traten sie in Nebenrollen im Film “Vier Hochzeiten und ein Todesfall” mit Hugh Grant auf – allerdings im eigenen Bademantel, um die Produktionskosten des Films in Grenzen zu halten.

In London sieht man Amber Rudd häufig im Luxus-Restaurant “The Wolseley” mit ihrem Bruder Roland Rudd, der eine der größten PR-Firmen Englands führt und enge Beziehungen zur Labour Party pflegt. Im “Wolseley” wird die “Norwegen-Koalition” derzeit über die Parteigrenzen hinweg ausgelotet und geschmiedet. Das Problem dabei ist bloß – Boris Johnson kommt auch ganz gerne in die hohe Speisehalle gegenüber vom Ritz-Hotel. Und er schaut dann ganz genau hinüber, wen die vermeintliche Mini-May da um sich schart. Es könnten am Ende ein paar Stimmen zu viel für ihn sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European.

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