In den letzten Jahren hat migrantisch geprägte Kriminalität nicht nur in Deutschland immens an Bedeutung gewonnen. Vor allem Frankreich ist dabei wiederholt mit dem erheblichen destruktiven Potenzial einer Einwanderungspolitik konfrontiert worden, die nun ein soziales Pulverfass zur Explosion gebracht hat. Während deutsche Medien nur zögerlich über die Situation berichten, ist in Frankreich eine hitzige Debatte über die innere Sicherheit entflammt.
Ganz unabhängig davon, welchem politischen Weltbild man auch zuneigen mag, man kommt nicht umhin festzustellen: Der bürgerkriegsähnliche Konflikt, der Dijon im Juni 2020 für vier Tage in den Mahlstrom der Zerstörung riss, entspringt einem Gemisch archaischer Energien, dessen Zündung die im Milieu muslimischer Migranten dimmende Flamme der Gewalt zu einer wilden Feuersbrunst auflodern ließ. Klarer noch als je zuvor erstrahlt in ihrem Schein nun eine Erkenntnis, deren Tragweite viel zu lange durch den rigiden, ideologischen Dogmatismus der politischen Klasse des Landes relativiert worden war: nämlich, dass die Vororte französischer Städte längst nicht mehr dem staatlichen Gewaltmonopol unterliegen, sondern von Kriminellen mit eigenen Gesetzen regiert werden.
Konkret ist die Rede von maghrebinischen Banden, die in zahlreichen Städten einen erheblichen Teil des Rauschgifthandels abwickeln und ihr Geschäft rücksichtlos verteidigen. In Paris etwa spielt nordafrikanische Kriminalität im sozialen Leben eine geradezu herausragende Rolle; im „Goutte-d'Or“, wie der 18. Bezirk genannt wird, hat sich eine verfestigte Parallelgesellschaft gebildet, die bereits in den 1960er Jahren bis zu 120.000 algerische Männer anzog. Heute ist das Viertel de facto ein Staat im Staate, mehr als 50 Prozent der Bewohner sind Migranten aus dem Maghreb oder Schwarzafrika. Als der damalige Pariser Bürgermeister Jacques Chirac 1991 vor Ort war, zeigte er sich angesichts der stark vorangeschrittenen Überfremdung entsetzt und forderte eine Revision der Einwanderungspolitik. Passiert ist seither nichts. Stattdessen haben die am Beispiel von Goutte-d'Or skizzierten Verhältnisse längst auch in anderen französischen Vorstädten Einzug gehalten. Mit fatalen Folgen: Die Desintegration des Gemeinwesens ist hier manifest.
Tschetschenen gegen Nordafrikaner
Zwar richtet sich die in den Banlieues von nordafrikanischen Banden applizierte Gewalt vornehmlich gegen Konkurrenten, schlägt jedoch immer öfter auch der Polizei entgegen, die hier als Besatzer und nicht als Ordnungsmacht wahrgenommen wird. Insofern überrascht, dass die in Grésilles angekurbelte Gewaltspirale nicht den Kulminationspunkt der Revierkämpfe verfeindeter Banden markiert, sondern aus einer inzidenten Begebenheit resultiert. Wie es dazu kam, dass die französische Polizei nicht verhindern konnte, dass sich ganze Straßenzüge in einen Kriegsschauplatz verwandelten, wie die Involvierung der Tschetschenen einzuordnen ist und was all dies für den demokratischen Rechtstaat bedeutet, darum soll es im Folgenden gehen.
Katastrophen kündigen sich gewöhnlich durch milde Vorboten an. In Dijon war dies nicht anders. Als ein Sechzehnjähriger am 10. Juni 2020 unverhofft in eine Schlägerei mit algerischen Straßendealern geriet, ahnte niemand, dass schon bald das gesamte Viertel in Flammen stehen würde. So begingen die Täter nämlich einen folgenschweren Fehler, indem sie auf die leichte Schulter nahmen, dass ihr übel zugerichtetes Opfer der tschetschenischen Diaspora angehörte. Dieses Detail mag zunächst nicht sonderlich relevant erscheinen; für den Fortgang der Ereignisse spielt es jedoch eine zentrale Rolle. Dass die Nordafrikaner der Herkunft des Delinquenten keine Bedeutung zumaßen, ist nicht verwunderlich, da sie die wenigen Tschetschenen vor Ort wohl kaum als veritable Gegner betrachteten. Auf das ganze Land bezogen, umfasst die tschetschenische Diaspora nämlich bloß 25.000 Personen, wohingegen dem Zensus von 2013 zufolge 760.000 Algerier, 709.000 Marokkaner sowie 285.000 Tunesier in Frankreich lebten.
Obwohl damit nur knapp 0,4 Prozent aller Einwanderer tschetschenische Wurzeln haben, hat die nordkaukasische Volksgruppe den verheerendsten Gewaltexzess der letzten Jahre ausgelöst. Zwar erhielt sie dabei die tatkräftige Unterstützung ihrer maghrebinischen Kontrahenten, doch drängt sich die Frage auf, warum ausgerechnet die Konfrontation der größten mit der kleinsten Migrantengruppe des Landes solch eruptive Auswirkungen zur Folge hat. Die Antwort ergibt sich nicht allein oder gar hauptsächlich aus spezifischen sozialen Gegebenheiten, wonach die Erwerbslosenquote unter Einwanderern 2019 bei 16,3 Prozent lag, sondern ist zweifellos in der Geschichte der Tschetschenen zu suchen. In Europa weiß heute fast niemand, dass das tschetschenische Volk in den letzten dreihundert Jahren kaum eine Generation hervorgebracht hat, die keine gewalttätigen Konflikte erlebt hätte.
Was aber hat es damit auf sich? Die Tschetschenen sind ein muslimischer Bergstamm aus dem östlichen Nordkaukasus und waren seit 1757 in einen permanenten Abwehrkampf gegen den russländischen Zentralstaat verstrickt. Dieser Konflikt reicht mit wenigen Unterbrechungen bis ins 21. Jahrhundert und hat die tschetschenische Gesellschaft mehrfach an die Schwelle summarischer Annihilation geführt. Trotzdem sind bis heute sämtliche Versuche gescheitert, ihren Freiheitsdrang gewaltsam zu ersticken. Da weder die Zaren noch die Bolschewiki Tschetschenien dauerhaft unterwerfen konnten, ließ der sowjetische Diktator Josef Stalin das gesamte tschetschenische Volk sowie die mit ihnen eng verwandten Inguschen zwischen dem 23. und 27. Februar 1944 nach Zentralasien deportieren: Bis zum 1. Juli 1949 waren allein in Kasachstan insgesamt 101.036 tschetschenische Sonderumsiedler an den Folgen der Deportation umgekommen, was einem Anteil von 23,3 Prozent ihrer damaligen Gesamtbevölkerung entspricht.
Tschetschenen – Geächtet und gefürchtet
So sehr wir Historiker dieses dunkle Kapitel auch erforscht haben mögen: Das den Tschetschenen widerfahrene menschliche Leid lässt sich statistisch nicht erfassen. Trotz allem hielten sie stand. Während die meisten anderen in die Verbannung geschickten Völker – allen voran die Russlanddeutschen – nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahezu vollständig assimiliert wurden, kehrten die Tschetschenen 1956 nicht nur gestärkt, sondern auch ohne staatliche Erlaubnis in ihre Heimat zurück.
In der feindseligen Welt der sowjetischen Lagerverwaltung hatten sie trotz ihrer dezentralen Unterbringung überleben können, indem sie sich systematisch gegenüber ihrem Umfeld abschotteten und jegliche Kooperation mit den Behörden verweigerten. Aus dieser Zeit stammt denn auch eine Eigenschaft, die man jüngst in Dijon beobachten konnte: die stark ausgeprägte Binnenkohäsion des tschetschenischen Sozialgefüges. Diese bedingt, dass externe Angriffe grundsätzlich auf das Kollektiv bezogen werden. Hinzu kommt ein weiterer Faktor: Wird ein Tschetschene zum Opfer von Gewalt, dann ist er gemäß dem Gewohnheitsrecht seines Volkes berechtigt, in aller Schärfe zu reagieren; tut er dies nicht, nimmt er einen Ehrverlust in Kauf, der wiederum auf die Gemeinschaft zurückfällt. Diese und andere Elemente des archaischen Brauchtums der Tschetschenen liegen jener einzigartigen Resilienz zugrunde, die sie selbst gegen den präzedenzlosen Terror unter Stalin immunisiert hat. Nicht zufällig hat ihnen der sowjetische Dissident Alexander Solschenizyn ein monumentales Denkmal gesetzt. In seinem Epos „Archipel Gulag“ berichtet er voller Faszination:
„Es gab indes [im Verbannungsgebiet] eine Nation, die der Psychologie der Unterwerfung standgehalten hatte – als Nation, als Ganzes, nicht nur die Einzelgänger, nicht nur die Rebellen. Das waren die Tschetschenen […] Nie und nirgendwo hat es einen Tschetschenen gegeben, der sich um die Gunst eines Načal’niks bemüht hätte; immer traten sie der Obrigkeit stolz, ja sogar offen feindselig entgegen […] Und seht das Wunder! Alle fürchteten sich vor ihnen. Niemand vermochte sie daran zu hindern, auf diese Weise zu leben.“
Die sozialen Antagonismen der Sowjetzeit
Nach ihrer Rückkehr in die Heimat scheiterte der Zentralstaat daran, die Tschetschenen in die sowjetische Zivilgesellschaft zu integrieren. Während Grozny, die Hauptstadt ihrer 1957 wiedererstandenen autonomen Republik, durch die florierende Ölindustrie aufblühte, fiel die tschetschenische Bevölkerung einer tiefreichenden Marginalisierung zum Opfer. Dem sowjetischen Zensus von 1989 zufolge lag die republikanische Bevölkerung bei 1.138.000. Die Russen hatten daran einen Anteil von 25,81 Prozent (293.800 Personen) und stellten nach den Tschetschenen, die auf 64,54 Prozent (734.500) kamen, die zweitgrößte Volksgruppe. Als zweite Titularnation zählten die Inguschen hingegen nur 14,39 Prozent (163.800).
Die privilegierte Stellung der Russen manifestierte sich vor allem darin, dass 78 Prozent von ihnen in den Städten lebten, wo sie überwiegend in der Verwaltung, der Ölindustrie, der Wissenschaft und im Staatsdienst beschäftigt waren. Im Gegensatz dazu wohnten lediglich 23,53 Prozent der Tschetschenen in einem urbanen Umfeld, während ihr Anteil an der Landbevölkerung 516.644 betrug. Damit lebten 70,33 Prozent von ihnen auf dem Land, wo ein deutlich niedrigeres Lebensniveau herrschte. Das monatliche Einkommen eines tschetschenischen Kolchosebauern erreichte im Jahr 1985 lediglich 82,5 Prozent des durchschnittlichen Lohnniveaus in Russland. Bis 1991 sank dieser Wert gar auf 74,8 Prozent. Infolge mangelhafter medizinischer Versorgung litten die Tschetschenen, die bis zuletzt eine der höchsten Geburtenraten der gesamten UdSSR aufwiesen, überproportional häufig an Kindersterblichkeit. Im Jahr 1989 standen für 10.000 Personen nur 76 Krankenhausbetten und 59 Ärzte zur Verfügung. Zugleich verfügten nur 3,7 Prozent der Bevölkerung über eine höhere Spezialausbildung.
Als Moskau seine Ordnungspolitik in Tschetschenien in den 1980er Jahren schließlich liberalisierte, war es bereits zu spät, um dem irredentistischen Eifer Einhalt zu gebieten, der sich nun schlagartig Bahn brach. Im Zuge der religiösen Renaissance, die in jenen Tagen den gesamten Nordkaukasus erfasste, entwickelte sich der Islam rasch zu einem bedeutsamen politischen Faktor, den der Luftwaffengeneral Džochar Dudaev im Anschluss an die tschetschenische Revolution für seine Präsidentschaft instrumentierte. Dass er damit die Büchse der Pandora geöffnet hatte, zeigte sich bereits wenige Jahre später, als Tschetschenien in einen militärischen Konflikt mit Moskau abglitt, der in zwei neue Kriege mündete und schließlich von wahhabitischen Terroristen gekapert wurde. Der Feldzug gegen sie hat nie wirklich geendet, dafür aber tausenden Menschen das Leben gekostet. Heute herrscht ein Zustand im Land, den ich als die Abwesenheit von Krieg bezeichne; die Kampfhandlungen sind zwar vorbei, doch wird Tschetschenien mit eiserner Faust von Ramzan Kadyrov regiert, dessen von Moskau protegierte Regierung einen Polizeistaat errichtet und zahlreiche Menschen zur Flucht ins Ausland gezwungen hat. Andererseits hat diese Tatsache in den letzten Jahren zahlreichen Tschetschenen als Vorwand für die Einreise nach Deutschland gedient. Da deutsche Behörde nicht selten erhebliche Zweifel in die Angaben tschetschenischer Asylbewerber setzen, lag deren Schutzquote zuletzt bei nur 7,9 Prozent.
Ein Akt der Selbstjustiz
Dieser historische Exkurs mag müßig sein; er ist aber nötig, um das Verhalten tschetschenischer Migranten in Europa richtig zu deuten. Wenn diese heute in Frankreich leben, dann handelt es sich bei ihnen – anders als in Deutschland – nahezu ausnahmslos um Kriegsflüchtlinge, die zwischen 1995 und 2006 ins Land kamen. Diese Feststellung ist bedeutsam, weil sie zeigt, dass ihnen genug Zeit blieb, sich in die französische Zivilgesellschaft zu integrieren, wozu auch gehört, das staatliche Gewaltmonopol zu achten. Dass es dabei offenbar noch Defizite gibt, illustriert die Reaktion auf den Vorfall in Grésilles. So hatte der brutale Angriff auf das minderjährige Opfer nicht etwa eine Strafanzeige, sondern Selbstjustiz zur Folge. Dazu kam es, weil zahlreiche Tschetschenen innerhalb weniger Stunden nach Bekanntwerden des Vorfalls in den sozialen Netzwerken beschlossen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen; zu diesem Zweck reisten sie aus verschiedenen Landesteilen sowie aus dem Ausland nach Dijon. Allem Anschein nach sind dem vorausgegangenen Aufruf bis zu 150 Personen gefolgt. Von Rachegefühlen getrieben, hatten sie nur ein Ziel: den Feind – in diesem Fall nordafrikanische Dealer, deren hemmungslos ausufernde Kriminalität die Menschen vor Ort schon lange quält – zur Rechenschaft zu ziehen. Was sie allerdings nicht wussten, war, dass die Dealer über ein großes Arsenal an Kriegswaffen verfügten und keine Hemmungen hatten, notfalls auch ihr eigenes Viertel in Schutt und Asche zu legen.
In dieser Situation stellt sich eine weitere, historisch gewachsene Eigenschaft der Tschetschenen dar: ihr hoher Mobilisierungsgrad. Bereits in der zentralasiatischen Verbannung konnten sie sich selbst über größere Entfernungen rasch konsolidieren, um spontan auf Bedrohungen zu reagieren. Dieses Verhalten, das sich auch an anderer Stelle zeigt, haben sie in jenen Tagen internalisiert. Als es im Dezember 2010 im Moskauer Stadtzentrum zu fremdenfeindlichen Übergriffen auf Migranten kam, schlossen sich auch in Tschetschenien junge Männer zusammen, um ihre Landsleute in der Hauptstadt zu unterstützen. Mit solchen Aktionen wird stets dieselbe Botschaft vermittelt: Wer es wagt, sich mit Tschetschenen anzulegen, muss mit drastischen Konsequenzen rechnen und wird in jedem Fall zur Verantwortung gezogen.
Die Profanation des öffentlichen Raumes
Unter diesem Aspekt sind auch die seit dem 12. Juni über Dijon hereinbrechenden Ereignisse zu sehen. So wollte man den Nordafrikanern einen Denkzettel verpassen. Inwieweit dies gelungen ist, wird sich zeigen. Klar jedoch ist, dass die entfesselte Gewalt an das Ausmaß eines Bürgerkrieges heranreichte: Was in Dijon passierte, war folglich mehr als die Auseinandersetzung zweier Konfliktparteien; es war die Profanation des öffentlichen Raumes durch Migranten, die ihr allmähliches Abdriften in militant-antibürgerliche Gefilde in einen plötzlichen Sprung verwandelten und – wenn überhaupt – nur Lippenbekenntnisse zur Legalität abgeben. Die Ausschreitungen waren aber auch die kalkulierte Demonstration physischer Macht, von der man nun weiß, dass sie sich jederzeit auf der Straße entladen kann. Wenn – wie geschehen – mehrere hundert Personen, zum Teil mit Sturmgewehren, Pistolen und automatischen Schrotflinten, aufeinander losgehen, ganze Straßenzüge verwüsten, Geschäfte angreifen und Fahrzeuge als Waffen einsetzen, dann wird nicht nur der französische Polizist zu einem Statisten. Dabei spielt keine Rolle, wer letztlich den ersten Stein geworfen hat; von Bedeutung ist einzig das verheerende Ergebnis: die temporäre Neutralisierung der inneren Sicherheit.
Jene wiederum ist Ausdruck einer fortschreitenden Dezivilisierung, die man noch vor zwanzig Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Entscheidend ist, dass sie von Menschen verkörpert wird, die zwar in Europa leben, nicht aber verstanden oder gar verinnerlicht haben, wie Konflikte in einem demokratischen Rechtstaat reguliert werden; Gewalt ist für sie nichts anderes als eine natürliche Machtressource, die rein funktional eingesetzt wird. Dass die Tschetschenen im vorliegenden Fall auf die Anrufung eines Strafgerichts verzichtet haben, entspricht im Übrigen jener Haltung, die sie im Laufe der Zeit gegenüber staatlichen Institutionen herausgebildet haben. Sowohl im Zarenreich als auch zu Sowjetzeiten haben sie die Autorität staatlicher Institutionen geflissentlich ignoriert und ihre Angelegenheit stets unter sich geregelt. Diese Verhaltensweise ist freilich keine originär tschetschenische, sondern zeigt sich auch am Beispiel arabischer bzw. kurdischer Großfamilien. Am Rande der bürgerlichen Gesellschaft stehend, betrachten sie jene als ihre Beute, während der Staat als lästiger Feind gesehen wird, der hin und wieder versucht, ihre Geschäften zu vereiteln. Insofern besteht keine Notwendigkeit, die Ungesetzlichkeit dessen zu akzentuieren, was in Dijon passiert ist: Die verzerrenden Extreme von Anarchie und Gewalt sprechen für sich selbst.
Obwohl es andererseits zwingend erforderlich ist, eine praktikable Lösung für das Phänomen struktureller Migrantengewalt zu finden, die über die Artikulation bedeutungsschwangerer politischer Schlagworte hinausgeht, erweisen sich die Unruhen in Dijon auch als lehrreich. Auf ihrer Folie wird deutlich, worin sich die archaisch geprägten Herkunftskontexte zahlreicher unter uns lebender Einwanderer aus der islamischen Welt von den weitestgehend befriedeten Gemeinwesen Europas unterscheiden: Während in migrantischen Parallelgesellschaften Verfehlungen auf dem Fuß geahndet werden, können in Köln hunderte Frauen stundenlang sexuell belästigt werden, ohne dass die anwesenden Männer dies unterbinden.
Obwohl hier nicht der rechte Ort zur Vertiefung dieses Befunds ist, zeichnet sich doch eine systemische Inkompatibilität zwischen Menschen ab, die völlig verschiedene Kulturen in sich tragen und in Europa auf engem Raum zusammenleben: Während die Bevölkerungsmehrheit das staatliche Gewaltmonopol akzeptiert, steht ihr eine zumeist migrantische Minderheit gegenüber, die sich durch einen untrüglichen Instinkt für dessen Erosion auszeichnet und keine Hemmungen hat, diese für sich zu nutzen. Gleichzeit wird deutlich, dass der Firnis der Zivilisation nicht nur hauchdünn ist, sondern bereits tiefe Risse zeigt. Zu glauben, man brauche Menschen nur in ein anderes Umfeld zu bringen, um sie zu rechtschaffenen Bürgern zu machen – das ist womöglich einer der verhängnisvollsten Fehler europäischer Einwanderungspolitik. Inwieweit der Befund des Scheiterns dieser mission civilisatrice zutrifft, möge jeder selbst entscheiden.
Europa am Scheideweg
All dies ändert aber nichts daran, dass die Revolte von Dijon als untrügliches Warnzeichen einer seit Jahren heraufdämmernden Bedrohung zu sehen ist. Die Intervention der Tschetschenen hat diese nun in aller Klarheit sichtbar gemacht. In ihrem Kern liegt das Problem, dass die französische Polizei offenbar nicht mehr fähig ist, der von Nordafrikanern ausgehenden Kriminalität in den Vorstädten Herr zu werden. Dies kommt nicht nur einem Offenbarungseid gleich, sondern ist letztlich auch ein stillschweigendes Eingeständnis staatlicher Dysfunktionalität. Aus diesem Grund sind Tschetschenen in Frankreich bereits mehrfach gegen nordafrikanische Kriminelle vorgegangen. In Nizza haben sie sogar eine eigene Bürgerwehr gebildet, die die örtlichen Straßendealer gezielt bei der Arbeit stört. Da sich der Staat aus den betroffenen Vierteln längst zurückgezogen hat, fühlen sie sich ermächtigt, selbst als Ordnungsmacht in Erscheinung zu treten.
Während die tschetschenischen Staatsmedien erklärten, man habe in Dijon die Sicherheit der Bürger gewährleistet, betonen die Sprecher der Diaspora in Frankreich, es seien ausschließlich friedliebende Leute auf die Straße gegangen; diese Sichtweise ist zutiefst befremdlich. Man darf sich wohl fragen, wie angesichts dieses Maßstabes bürgerlicher Rechtschaffenheit wohl ihre Definition von Kriminalität aussieht. Dass sich die Aktionen der Tschetschenen im vorliegenden Fall faktisch gegen Verbrecher richten, wird ihnen einige Sympathien einbringen, macht die damit einhergehende Delegitimierung von Recht und Gesetz jedoch nicht besser. Stattdessen stellt sich dar, dass die Bewohner kriminalitätsbelasteter Viertel notfalls auch auf polizeiliche Hilfe verzichten und selbst für ihre Sicherheit sorgen können. Dies darf ein freiheitlicher Verfassungsstaat wie Frankreich unter keinen Umständen hinnehmen, sondern muss den fortwährenden Verlust jeglichen Anscheins von Kontrolle umgehend beenden.
Das Ende der freien Gesellschaft
Angesichts der infernalen Szenen aus Dijon stellt sich die Frage, ob eine solche Eskalation der Gewalt auch in Deutschland möglich ist. Letzte Woche, als ich mehrere Interviews zu den Ausschreitungen gab, war ich noch überzeugt, dass dies vorerst nicht zu erwarten sei. Ich war der Ansicht, die deutsche Polizei werde – wie jüngst in Berlin geschehen – zwar teilweise von der Politik im Stich gelassen, habe aber die Kontrolle über den öffentlichen Raum noch nicht aufgegeben. Inzwischen jedoch muss ich meine Aussage zurücknehmen. Die anarchische Welle, die sich am vergangenen Wochenende in Stuttgart Bahn brach, wo Antifaschisten und Migranten Polizisten auf offener Straße angriffen, Geschäfte plünderten und Bankfilialen stürmten, trägt dasselbe Signum wie der Schrecken von Dijon.
Sollte die politische Klasse nicht unverzüglich dafür sorgen, dass sich so etwas nicht mehr wiederholt, wozu auch gehört, den oben skizzierten Zusammenhängen Rechnung zu tragen, könnte es sein, dass wir schon bald den Abgesang auf das Zeitalter der freien Bürgergesellschaft vernehmen werden. So reift denn der Eindruck heran, dass der jähe Ansturm auf alle Grundsätze zivilisierten Verhaltens, den wir kürzlich in Frankreich sahen, längst auch in Deutschland begonnen hat.