Antje Sievers / 16.06.2012 / 19:41 / 0 / Seite ausdrucken

Krankheit oder Kultur? Oder beides?

Wieder erschüttert ein Fall von brutaler Gewalt in einer Migrantenfamilie die Nation: In Berlin-Kreuzberg tötet der 32-jährige Familienvater Orhan S. auf grauenerregende Weise eine Mutter seiner Kinder; eine, wohlgemerkt, denn mit einer anderen Frau hat er noch zwei weitere. Zwei Reaktionen auf diese Art des Verbrechens sind vorhersehbar: Die eilige Versicherung, dass so was schließlich überall passieren könne, denn „es gibt solche Tragödien unter Gläubigen und Nicht-Gläubigen”, so Hilmi Kaya Turan vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg.

Und zum zweiten die Annahme, bei der Tat müssten Drogen sowie psychische Erkrankung eine Rolle gespielt haben. Lassen wir beiseite, dass es in nichtmuslimischen Familien - denn diese werden wohl gemeint sein, auch wenn Turan sich nur knapp an dem Begriff „Ungläubige“ vorbeigehaspelt hat -  selten vorkommt, dass jemand Allahu akbar schreit und dabei seiner Frau den Kopf absäbelt. Da kommt anderes vor. Ich möchte das Augenmerk vielmehr auf die zweite Annahme richten, nämlich die mutmaßliche psychische Erkrankung. Jemand, der so ein Gemetzel veranstaltet, muss aus unserer Sicht unter einer schweren psychischen Störung leiden. Aber Orhan S. ist kein Fritz Honka, kein Fritz Harmann. Das waren auch die Brüder von Hatun Sürücü, Morsal Obeidi und Arzu Ö. nicht. Wer die eigene Frau absticht und verstümmelt oder, wie in den anderen Fällen, die eigene Schwester auf der Straße massakriert, muss ja einen an der Waffel haben. Muss er das?

Man ist zu schnell mit klinischen Begriffen zur Hand, wenn es darum geht, dass Machoverhalten orientalischer Männer erklären zu wollen. In den frühen achtziger Jahren habe ich an einem soziologischen Forschungsprojekt zur Lebenssituation von Migrantinnen an der Universität Hamburg gearbeitet. Seitdem habe ich aufgehört, fremde Kulturen mit den mir vertrauten Maßstäben zu messen. Oder, um es simpel zu formulieren: Was unsereinem verrückt erscheinen mag, gilt woanders als normal und umgekehrt.

In den achtziger Jahren bekamen ich und meine Kommilitonen zu hören, unsere Aufgabe sei es, teilnehmend zu beobachten, nicht zu bewerten und schon gar nicht, einzugreifen. Wenn man es in türkischen Familien für gut und richtig hielte, die Töchter zu verschleiern (damals noch extrem selten), den Sohn zusammenzuschlagen und die Frau drei Schritte hinter sich gehen zu lassen, dann war das nicht grundsätzlich falsch, sondern eben nur anders. Obendrein gab es Dozenten, der Meinung waren, statt türkischen Frauen deutsch beizubringen, wäre es viel sinnvoller, wenn wir Deutschen türkisch lernten. Das waren die zarten Anfänge dessen, was die Rechtsanwältin Seyran Ates ein Vierteljahrhundert später als Multikulti-Irrtum bezeichnet hat.

Zivilisatorische Standards kann man nicht an Kulturen legen, in denen diese sich noch nicht völlig durchgesetzt haben. Und da darf man nicht nur, man muss sogar mit zweierlei Maß messen. Ein Beispiel dafür, wie unsinnig es ist, solche Maßstäbe dort anzulegen, wo es nichts anzulegen gibt, ist eine Geschichte, wie man sie in Internetforen alle Tage finden kann:

Ein Paar, sie Deutsche, er Ägypter, hat eine Ehekrise – aus ihrer Sicht. Sie leidet sehr darunter, dass er immer häufiger in sein Heimatland fährt, ohne sie vorher zu informieren und dazu noch mit Geld von ihrem Konto. Ohnehin transferiert er ständig erhebliche Summen zu seiner Familie nach Ägypten. Er kommt und geht wie es ihm passt, sie weiß nicht einmal mehr genau, womit er sein Geld verdient, und wenn sie nachhakt, wird er aggressiv. Sie vermutet, dass er in seiner Heimat vielleicht noch eine zweite Frau hat, von der sie nichts wissen soll, und wie sie später herausbekommt, liegt sie damit richtig. Schließlich gelingt es der Frau, ihn zu überreden, sich einer Paartherapie mit Familienaufstellung zu unterziehen. Fazit des Therapeuten: Der Mann befände sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu seiner ägyptischen Familie und müsse lernen, sich zu lösen. Ein rührendes Beispiel für die völlige Unkenntnis einer Kultur, in denen die Familie und die Umma alles, das Individuum aber nichts ist; was hier als therapiebedürftiges Verhalten gilt, macht in Ägypten einen ganz normalen Ehemann aus.

Viele Frauen von Muslimen klagen über Mangel an Empathie bei ihren Männern; ihre Missachtungen von landläufigen sozialen Normen, ihre Bindungsunfähigkeit, niedrige Frustrationstoleranz und Aggressivität und vor allem mangelnde Einsicht in eigenes Fehlverhalten sowie die Manie, die Schuld grundsätzlich bei anderen zu suchen. Gemessen an den patriarchalischen Normen islamischer Gesellschaften ist solches Verhalten maskulin und wünschenswert. Gemessen an den Maßstäben unserer Gesellschaft leiden diese Männer an einer dissozialen oder narzisstischen Persönlichkeitsstörung: Die Psyche verharrt in ihrem frühkindlichen Narzissmus und bleibt auf der Entwicklungsstufe eines Kleinkindes stehen – ein Phänomen, dass der Kinderpsychiater Dr. Michael Winterhoff („Warum unsere Kinder Tyrannen werden“) zunehmend auch bei deutschen Jugendlichen beobachtet.

Das beim gesunden psychischen Apparat voll ausgebildete Über-Ich, das soziale Gewissen also, das eigentlich regulierend eingreifen sollte, funktioniert auf diese Weise schlecht oder gar nicht. Anstelle des Über-Ichs treten die Familie oder Allah. Zwischen richtigem und falschem Verhalten kann ohne die Regelung durch diese Autoritäten nur schwer unterschieden werden. Viele muslimische Männer legen daher, kaum dass sie in der westlichen Welt angekommen und vielleicht der traditionellen Kontrolle durch die Familie, den strafenden Vater, die älteren Brüder entzogen sind, völlig neue Verhaltensweisen an den Tag: Alkoholismus, Drogenkonsum, Spielsucht, Promiskuität – um anschließend in das andere Extrem des asketischen, strenggläubigen Muslims zu verfallen.

Deutsch-Türkische Autorinnen wie Necla Kelek oder Seyran Ates werden nicht müde zu betonen, dass die Gewaltakzeptanz in Migrantenfamilien eine völlig andere ist, da Gewalt an und für sich nicht negativ besetzt ist, sondern durchaus zum traditionellen patriarchalischen Männerbild gehört: „Zum einen ist körperliche Gewalt in türkischen und vor allem kurdischen Familien an der Tagesordnung. Frauen und Kinder werden wie selbstverständlich geschlagen“ stellt Kelek in ihrem neuen Buch „Chaos der Kulturen“ fest.

In autoritären, gewaltgeprägten Gesellschaften kann ein Verbrechen wie das des Orhan S. durchaus als Kavaliersdelikt durchgehen, denn es gibt genug Länder, wo man reichlich Verständnis dafür aufbringen wird, wenn ein Mann die Frau abstraft, die ihn an seinem von Allah gegebenen Recht hindern will, zwei Ehefrauen zu haben. Andererseits kann eine vergewaltigte Frau im Iran oder auf der arabischen Halbinsel damit rechnen, dass sie gesteinigt wird. Ein Homosexueller kann damit rechnen, dass man ihn zur Hauptverkehrszeit mitten auf der Kreuzung an einem Baukran aufhängt.

Wenn wir das als krank empfinden, dann haben wir vollkommen recht.

Soll das bedeuten, dass die türkisch-arabische Community Gewalttaten wie die des Orhan S. billigend in Kauf nimmt oder gar gut heißt? Natürlich nicht.

Aber es kann bedeuten, dass die Familie der Ermordeten nach blutiger Sühne schreit. Es kann bedeuten, wie im Fall von Morsal Obeidi, dass die Familie nicht einsehen mag, dass der Sohn für eine solche Bagatelle wie den Mord an der Schwester eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßen muss und Richter sowie Anwälte bedroht. In Afghanistan wäre das schließlich nicht passiert.

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