Die Welt ist voller Essvorschriften. Der „Nutri-Score“ bewertet Lebensmittel für Gesundheits-Religiöse. Bislang ist das freiwillig, jetzt soll ein verpflichtendes neues EU-Zertifikat eingeführt werden. Mutmaßlich in Abstimmung mit großen Lebensmittelkonzernen.
Kommt er verpflichtend oder kommt er nicht? Die Rede ist vom sogenannten Nutri-Score, der auf zahlreichen Verpackungen von Lebensmitteln angebracht ist und anhand einer fünfstufigen Farbskala von A (grün) bis E (rot) Auskunft über den angeblichen Nährwert eines Lebensmittels gibt. Dabei bezieht sich der Score jeweils auf 100 Gramm oder 100 Milliliter des entsprechenden Lebensmittels. Als günstig werden zum Beispiel der Gehalt an Ballaststoffen und Eiweiß sowie an Gemüse und Obst eingestuft, als ungünstig der Gehalt an gesättigten Fettsäuren, Salz und Zucker. Die Nutzung des Nutri-Score ist für die Lebensmittelunternehmen bislang freiwillig.
Derzeit berichten einige Medien darüber, dass die EU-Kommission ihre Pläne begraben habe, den Nutri-Score europaweit als verpflichtende Kennzeichnung einzuführen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Zwar wird es wohl keine Nutri-Score-Pflicht geben, allerdings wollte die EU-Kommission bereits 2022 einen eigenen Vorschlag für eine EU-weit einheitliche und verbindliche Nährwertkennzeichnung vorlegen, was bislang nur noch nicht geschehen ist. Im Rahmen ihrer Strategie „Farm to fork“ (zu deutsch: „Vom Hof auf den Tisch“), die die Kommission als Teil ihres „Green Deals“ im Mai 2020 vorgestellt hatte, hatte sie sich bereits selbst dazu verpflichtet, ein harmonisiertes Ernährungslogo auf der Vorderseite von Verpackungen (Front-of-pack nutrition labelling, FOPNL) einzuführen.
Der französische Radiosender franceinfo hat nun am 28. Februar dieses Jahres auf ein internes Dokument hingewiesen, nach dem die EU-Kommission ausdrücklich festgestellt hat, dass der noch ausstehende EU-Vorschlag kein bestehendes System kopieren werde – also auch nicht den Nutri-Score. Das künftige EU-Logo könnte zwar dem Nutri-Score ähneln, aber es soll ein eigenes Label sein. Hintergrund ist, dass vor allem Italien Einwände gegen die Kategorien des zuerst 2017 in Frankreich eingeführten Nutri-Score vorgebracht hat, weil etwa Olivenöl nicht in die Kategorie A eingestuft wird.
Mittllerweile viel Gegenwind
Entwickelt wurde der Score von einem Forscherteam der Universität Sorbonne Paris-Nord unter der Leitung von Professor Serge Hercberg, der fast 150 Studien vorlegte, die beweisen sollen, dass Menschen, die mehrheitlich Lebensmittel mit einem guten Nutri-Score verzehren, ein geringeres Risiko haben, chronische Krankheiten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs zu entwickeln. Inwieweit diese Studien tatsächlich wissenschaftlichen Ansprüchen genügen und wie unabhängig sie durchgeführt wurden, wäre ein Thema für sich.
In der Folge wurde das Label jedenfalls von mehreren europäischen Ländern übernommen, zu denen Deutschland, die Niederlande, Belgien, Spanien und die Schweiz zählen. In Frankreich weisen bereits rund 60 Prozent der in Supermärkten verkauften Produkte den Nutri-Score auf ihrer Verpackung aus. Nur die Europäische Union könnte ihn allerdings europaweit verbindlich vorschreiben. Im Oktober 2021 stimmten die Abgeordneten des Europäischen Parlaments der Idee eines verpflichtenden Nährwertlogos grundsätzlich zu. Seitdem hat die Kommission jedoch keinen Gesetzesvorschlag formuliert.
Und auch in Frankreich hat das Nutri-Score-Label mittlerweile mit Gegenwind zu kämpfen. Nachdem es von etwa 1.400 Marken übernommen worden war, zog sich im September 2024 mit Danone einer der größten Unterstützer des Nutri-Score zurück. Grund dafür war die neue, strengere Berechnungsmethode des Nutri-Score im Jahr 2023, wobei der Lebensmittelindustrie eine Frist von zwei Jahren eingeräumt wurde, um ihre Verpackungen entsprechend zu ändern. Außer zum Beispiel für bestimmte Pflanzenöle und einige salzarme Hartkäse wie Emmentaler wurden die Bewertungen für die meisten Produkte verschärft.
Die größte Änderung betraf jedoch die Milch. Sie wechselte von der Kategorie Lebensmittel in die Kategorie Getränke. Seitdem erhält nur noch Wasser den Buchstaben A. Magermilch und teilentrahmte Milch werden mit B statt mit A bewertet und Vollmilch unter C statt wie bisher unter B eingestuft. Das veranlasste Danone dazu, den Nutri-Score von seinen Joghurtgetränken wie Actimel zu entfernen. Denn Actimel, das vorher unter A oder B fiel, sollte je nach Zuckergehalt in die Kategorie D oder E absteigen. Letztendlich wurde der neue Nutri-Score dennoch von den sieben betroffenen Ländern gebilligt und trat am 1. Januar 2024 in Kraft. In Frankreich wird auf den Verpackungen allerdings immer noch der alte Nutri-Score angezeigt, im Gegensatz zu den anderen europäischen Ländern, die ihn sofort aktualisierten. Nach Informationen der Investigativabteilung von Radio France soll es den neuen Nutri-Score aber auch in Frankreich in absehbarer Zeit geben.
„Wenn Brüssel nicht liefert, muss jetzt Berlin handeln“
Gegen den Plan der EU-Kommission, ein eigenes Label einzuführen, wettert jetzt vor allem der Entwickler des Nutri-Score, Professor Serge Hercberg: Es sei heuchlerisch und absurd, dass die EU-Kommission auf der einen Seite den Wert des „wissenschaftlich fundierten“ Nutri-Score anerkenne, auf der anderen Seite jedoch dem Druck der Lobbyisten nachgebe. Wenn man nun das grafische Format des Nutri-Score ändere, müsse man die Studien, die das Logo validieren, erneut durchführen. Dies würde viel Zeit kosten. Bei einer Medienkonferenz am 28. Februar ließ Kommissionsprecherin Anna-Kaisa Itkonen das weitere Vorgehen der EU-Kommission offen: Sie bestätigte weder, dass die EU den Nutri-Score fallen gelassen hat, noch, dass die EU-Kommission weiterhin auf den Nutri-Score setzt.
Die Kommission halte am Anspruch fest, transparente Informationen zu bieten, um den Konsumenten eine informierte Wahl im Supermarkt zu ermöglichen, sagte Itkonen. Dazu arbeite man weiterhin mit den Mitgliedstaaten zusammen. Das Thema sei aber komplex und es sei schwierig, eine gemeinsame Lösung zu finden. In Deutschland fordert derweil die Verbraucherorganisation foodwatch die Bundesregierung auf, den Nutri-Score verpflichtend einzuführen. „Wenn Brüssel nicht liefert, muss jetzt Berlin handeln“, bekräftigte Luise Molling von foodwatch Deutschland.
Allerdings wird Brüssel bestimmt liefern. Irgendwann. Nämlich spätestens, wenn die Gesetzgebung mit den Interessen der größten betroffenen Konzerne abgestimmt sein wird. Im Moment rudert die Kommission zwar in einigen Bereichen erst einmal zurück und verschiebt auf Druck der entsprechenden Unternehmen respektive der desaströsen wirtschaftlichen Realität zum Beispiel die Entwaldungsverodnung, die Einführung von strengeren Emissionsgrenzwerten für Holzöfen, die Anwendung der Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung und den Zeitrahmen für die CO2-Emissionsnormen für Personenkraftwagen. Aber aufgeschoben ist keinswegs aufgehoben. Schließlich gibt es nichts, was die EU-Kommission nicht regulieren möchte.
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.