England im Herbst, the same procedure as every year. Wenn sich die Blätter zu färben beginnen und der Regen wieder kälter wird, dann ist nicht nur der Sommer vorbei, sondern die Parteitagssaison beginnt. Parteitage - das klingt für Deutsche nach Änderungsanträgen, Sitzordnung nach Landesverbandszugehörigkeit und Kampfkandidaturen. Aber auf der Insel wird man nach all dem vergeblich suchen. Parteitage oder ‘party conferences’, wie sie hier heißen, haben mehr mit Party denn mit Konferenz zu tun. Für vier Tage treffen Parteiführung und -volk zum gemeinsamen Umtrunk aufeinander und das in der Regel an einem Ort abseits der üblichen Zentren der Macht. Für diese Zeit ist die Provinz der Mittelpunkt der Welt, zumindest glauben dies Provinzler wie Parteifunktionäre gerne.
Das nordwestenglische Blackpool hat es dieses Jahr wieder einmal erwischt, und eigentlich weiß niemand so recht wieso. Die britischen Konservativen halten ihre jährliche Versammlung dort ab, wo der Name Programm ist. Blackpool klingt schon nicht besonders einladend, aber das ist es auch nicht. Es ist ein Ort, an dem die Zeit in einem ungünstigen Moment stillgestanden zu sein scheint. Wahrscheinlich war es irgendwann Mitte der Fünfziger Jahre. Aus dieser Zeit stammt nicht nur die unförmige Straßenbahn, die sich lärmend die heruntergekommene Strandpromenade entlangschleicht, sondern auch die Inneneinrichtung sämtlicher Hotels der Stadt. Sie hören auf so klingende Namen wie Savoy, Doric oder Carlton, aber mit der großen weiten Welt haben sie sonst nichts gemein. Vor drei bis vier Generationen mögen sie den Ansprüchen einer unverwöhnten unteren Mittelklasse genügt haben, aber heute steigen die Parteitagsbesucher lediglich in Ermangelung von Alternativen in diesen bestenfalls zeithistorischen Einrichtungen ab. Hotels, die man in London keines Blickes würdigen würde, werden so beim Frühstücksbuffet zu Treffpunkten von Spitzenpolitikern.
Blackpool ist ein Ort, von dem man gerne sagen würde, er habe schon bessere Zeiten gesehen, allein man mag nicht daran glauben. Die endlosen Zeilen von Reihenhäusern wirken gleichermaßen monoton wie lieblos. Doch richtig unheimlich wird die Stadt erst an ihrer Strandpromenade. Kilometerlang reihen sich billige Amüsierbetriebe, halb verfallene Frühstückspensionen und Imbissbuden unter altertümlichen Leuchtdekorationen aneinander. Die ganze Straße entlang zieht sich der Duft von verbrutzeltem Frittenfett, gegen den selbst die frische Meeresbrise nichts ausrichten kann. Die Einwohner nennen diese kleine Horror-Show liebevoll die Golden Mile, und tatsächlich war sie im vergangenen Jahr mit 12 Millionen Besuchern die Topattraktion der britischen Tourismusindustrie - weit vor der Tate Modern, Stonehenge oder Windsor Castle. Vielleicht ist Blackpool dann doch typischer für England, als man sich vorstellen möchte.
Das Wahrzeichen von Blackpool, als ob es eines solchen bedürfte, ist der knapp 160 Meter hohe Radioturm. Er sieht aus wie eine schlechte Kopie des Eiffelturms, steht aber - es ist schließlich Blackpool - direkt neben einer riesigen Spielhalle. Von dort aus kann man denn auch den Aufzug erreichen, der einen in wenigen Sekunden auf die Aussichtsplattform in luftiger Höhe fährt. Doch auch von oben sieht die Stadt nicht freundlicher aus, aber zumindest ist der Lärm der Dauerbeschallung auf der Strandpromenade etwas gedämpft.
Blackpool wirkt nicht nur wie ein Relikt aus einer längst vergangen gehofften Zeit, sondern den in ihrer großen Mehrzahl aus der Hauptstadt angereisten Parteitagsbesuchern kommt es vor wie ein Ort in einem anderen Land. Die Londoner Politik- und Medienklasse, die heuschreckenartig in diesen Oktobertagen eingefallen ist, hat aber auch allen Grund, sich wie Besucher in der Fremde zu fühlen. Ja, sie mögen die Toskana kennen, den Winter auf Barbados verbringen und in Kenia auf Safari gewesen sein, aber so richtig exotisch ist es eigentlich nur in Blackpool, Lancashire. Man spricht einen merkwürdigen Dialekt, atmen können die Blackpudlians offenbar nur mit einer Zigarette zwischen den Lippen, und selbst ballonseidene Jogginganzüge sind hier noch nicht aus der Mode gekommen.
Warum es immer wieder Blackpool sein muss, wenn es an die Ausrichtung von Parteitagen geht, kann niemand mit letzter Sicherheit sagen. Wahrscheinlich weil englische Parteitage in der Regel in Seebädern abgehalten werden, die mit B beginnen: Bournemouth, Brighton, Blackpool. Das würde denn auch zu den anderen beiden Bs passen, ohne die kein Parteitag auskommt: boozing und bonking (Alkohol und Sex). Doch eine ungeschriebene Verfassungsregel ist dies nicht, schließlich war Labour letztes Jahr ausnahmsweise einmal in Manchester. Aber auf Labourparteitagen wird ohnehin weniger getrunken als bei den Tories, wo auf den allabendlichen Empfängen der Champagner wie aus Kübeln fließt.
Vielleicht wollten sich die Konservativen auch nur einmal selbst daran erinnern, dass es Leben nördlich von London gibt, denn dort bekommt die Partei sonst in Wahlen und Umfragen kaum einen Fuß auf den Boden. Dabei gleicht es eigentlich schon einem Akt der Schizophrenie, aus einer Stadt wie Blackpool ein Signal von Hoffnung und Optimismus senden zu wollen, auch wenn doch gerade dies die Botschaft des Parteitags sein sollte. Jedenfalls ist der Zustand der Opposition nach dem Amtsantritt Gordon Browns ähnlich trostlos wie das langsam verfallende Seebad.
Immerhin sorgt Blackpool im wahrsten Sinne des Wortes für Bewegung in der Partei, denn der Stadt fehlt ein taugliches Konferenzzentrum. Das führt dazu, dass sich sämtliche Parteitagsveranstaltungen auf diverse Hotels an einem etwa drei Kilometer langen Abschnitt entlang der Strandpromenade verteilen, während der Haupttagungssaal in einer antiquiert anmutenden Mehrzweckhalle mit dem schönen Namen Winter Gardens im Stadtzentrum untergebracht ist. So verbringen die Delegierten die meiste Zeit damit, zwischen den weit entfernten Veranstaltungsorten hin und her zu wandern. Wenigstens kann es einem so passieren, dass man unterwegs einmal dem einen oder anderen Spitzenpolitiker begegnet, denn diese haben die gleichen Probleme wie das gemeine Parteivolk.
Es gibt im politischen Kalender Großbritanniens kein anderes ähnlich surreales Ereignis wie einen konservativen Parteitag in Blackpool. Eine ganze Partei auf Strafexpedition in ein unbekanntes Land, Aufbruchstimmung in abrissreifen Sälen, ein Clash of Cultures zwischen politischer Klasse und Prekariat.
Gerüchten zufolge soll dies bis auf weiteres der letzte Parteitag in Blackpool gewesen sein. Das nächste Mal möchte man sich zur Abwechslung einmal wieder in der zivilisierten Welt treffen. Schade eigentlich, denn zur Verdeutlichung des Widerspruchs zwischen Anspruch und Wirklichkeit englischer Politik gibt es sonst keine vergleichbare Gelegenheit.