Peter Grimm / 24.02.2020 / 16:26 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 38 / Seite ausdrucken

Kompass-Suche in Hamburg

Vieles war ja am gestrigen Wahlabend erwartbar. Die SPD feierte trotz deutlicher Verluste einen Sieg, denn es ist inzwischen schon ein grandioser Erfolg für die marode Partei, wenn sie in einer ihrer traditionellen Hochburgen tatsächlich als führende Partei einer nächsten Koalition bestätigt wird und theoretisch sogar die Auswahl aus verschiedenen Koalitionspartnern hat. Was einstmals in der Bundesrepublik normal war, ist es nicht mehr. Vielleicht ist es diese Orientierungslosigkeit, die viele führende Parteienvertreter und Parteifunktionäre geradezu inflationär vom Kompass reden ließ, den man selbst habe und Wählern zeigen könne, wo es lang gehe, während die anderen eben diesen Kompass verloren hätten.

"Wenig Kompass" sei bei "Herrn Lindner" im Fall Thüringen zu sehen gewesen, hatte beispielsweise der Grünen-Generalsekretär Michael Kellner gesagt. Derweil freuten sich die beiden neuen SPD-Vorsitzenden, den richtigen Kompass zu haben und taten so, als hätten die Hamburger deshalb die SPD gewählt.

Die eine Vorsitzendenhälfte, Norbert Walter-Borjans, jubelte: „Die Hamburgerinnen und Hamburger haben grundsolide Regierungspolitik in Hamburg honoriert, und sie haben in den letzten Wochen aber auch erfahren, was es heißt, wenn die Bundespartei einen klaren Kompass hat, und ich glaube, dass dieses Zusammenspiel, jeder an seinem Platz, einen guten Beitrag zu diesem Ergebnis geleistet hat.“

Dass dieses Zusammenspiel im Wesentlichen darin bestand, dass Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher die neuen Parteiführer mit ihrem Kompass nicht im Wahlkampf in der Hansestadt sehen wollte und die sich daran hielten, also die Hamburger SPD auch nicht mit ihren Vorschlägen sabotierten, hat Genosse Walter-Borjans gnädig vergessen. Insofern war der Auftritt des Spitzengenossen-Paares allenfalls in Sachen Realsatire irgendwie wegweisend. Auch Sakia Esken wollte da nicht hintanstehen:

„Da kann ich Herrn Norbert Walter-Borjans nur zustimmen. Selbstverständlich hat auch eine Rolle gespielt, so wie ja viele Kommentatoren auch der Auffassung sind, dass das Verhalten der CDU und der FDP in Thüringen eine Rolle gespielt habe in Hamburg. Selbstverständlich hat auch eine Rolle gespielt, dass die SPD klare Haltung und einen klaren Kompass gezeigt hat.“

Keine Phantasie für glänzenden Wahlsieg?

Irgendwie scheint es bei dieser Art von Kompass gar nicht darum zu gehen, ob man ihn hat, sondern ob man ihn richtig lesen kann. Immerhin soll die Stimmabgabe in Hamburg vor allem damit zu tun haben, was die jeweiligen Parteifreunde und Genossen im fernen Thüringen oder in Berlin so alles auf ihrem Kompass erkannt hatten. Vor allem die Parteien mit den schmerzlichsten Verlusten, also CDU und FDP, wussten genau, dass ihnen vor allem Thüringer Landtagsabgeordnete ihrer Parteien nebst der Bundesführung diese Wahlniederlage eingebrockt hätten.

Es mag an meinen verschrobenen Assoziationen liegen, dass ich mir nicht vorstellen kann, der CDU-Spitzenkandidat Marcel Weinberg hätte den Abend ohne Erfurter Störfeuer als glänzender Wahlsieger feiern können. Dazu hat mich der Wahlverlierer des Abends einfach zu sehr an Fred Feuerstein aus der Zeichentrickserie meiner Kindertage erinnert. Natürlich kann es durchaus sein, dass etliche Hamburger Wähler bei der CDU das Gefühl bekamen, sie könne sich nicht mehr so recht in der politischen Landschaft orientieren, wenn sie derzeit gerade unter Verrenkungen das Kollaborationsverbot mit den SED-Erben schleift und das Publikum mit einer Vorsitzenden-Suche nach Vorbild der SPD zu quälen droht. Aber stürzt eine Landespartei nur deshalb so ab?

Die Hamburger SPD hingegen konnte erfolgreich den Eindruck erwecken, mit dem Parteiführungs-Duo in Berlin eigentlich nichts zu tun zu haben. Außerdem bekam sie viele Stimmen von bürgerlichen Hamburger Wählern, die dadurch noch Schlimmeres verhindern wollten, nämlich die Übernahme des Chefsessels im Rathaus durch die Grünen. Deren Spitzenkandidatin, Katharina Fegebank, hatte ja bekanntlich im Wahlkampf dazu aufgerufen, sie zur Ersten Bürgermeisterin zu machen. Das hat nicht geklappt, doch am Wahlabend wurde sie nicht müde, sich selbst für den „Mut“ zu diesem Schritt zu feiern. Warum es Mut braucht, um in Hamburg zu sagen, man möchte die Stadt regieren, erklärte sie nicht. Dafür deklarierte sie diesen Schritt zum wesentlichen Beitrag für den eigenen Wahlerfolg. Allerdings dürfte der Beitrag zum Wahlerfolg der SPD deutlich größer gewesen sein. Die Stimmung, wenn schon eine Regierung aus Grünen und SPD unvermeidlich scheint, dann sollte es lieber eine rotgrüne als eine grünrote sein, war unter Hamburger Wählern durchaus weit verbreitet. Thüringen hin oder her.

Wirklich geholfen hat den Grünen die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Von den jüngsten Wählern haben sie offenbar viele Stimmen bekommen und der Fridays-for-Future-Auftritt von Greta in Hamburg zwei Tage vor der Wahl wirkte in dieser Zielgruppe bestimmt besonders gut als Wahlhilfe für Frau Fegebank und ihr Gefolge. Es ist schon irre, wenn man glauben machen will, dass man 16-Jährige zwar für zu unreif hält, um selbstständig über den eigenen Alkohol- und Tabakgenuss zu entscheiden, wohl aber für reif genug zu einer Entscheidung über den politischen Kurs des Gemeinwesens. Aber für die Grünen erwies sich das als erfolgreich, wenngleich es gefährlich ist, den Anteil der Unreifen unter den Wahlberechtigten noch zu erhöhen. Aber der Gedanke, auch andere als man selbst, könnten von der Unreife einer Zielgruppe profitieren, kommt wahrscheinlich nicht auf, wenn man den kurzfristigen Gewinn vor Augen beziehungsweise gerade eingefahren hat.

Kurzes Allparteien-Glück

Die politisch-medialen Auswerter der Hamburger Wahlergebnisse hatten selbstverständlich auch das Massaker von Hanau auf dem Kompass. Dies vor allem in Bezug auf die AfD, denn die gefühlte Allparteien-Aussage, die AfD hätte quasi in Hanau mitgeschossen, wurde auch gepflegt, als die Kompassleser zwischenzeitlich schon glaubten, den Sieg über diese Partei feiern zu können. Prognosen und erste Hochrechnungen von ARD und ZDF sahen die AfD knapp unter der Fünf-Prozent-Marke, woraufhin in den meisten öffentlich-rechtlichen Wahlsendungs-Runden auch kein AfD-Vertreter auftreten durfte. Begründung: Nur Vertreter der Parteien, die vermutlich in die Bürgerschaft kämen, dürften in den erlauchten Runden reden. Für die FDP, die ebenfalls auf der Kippe stand, galt diese Regel nicht so streng. Als dann in den Hochrechnungen das AfD-Ergebnis auf 5,3 Prozent wuchs, waren die meisten Wahlsendungen schon vorbei.

Was für ein Wunder, dass der AfD-Vertreter in der „Berliner Runde“ Ausgrenzung beklagte, wobei er allerdings nicht die Nachwahlsendungen meinte, sondern den Umstand, dass die AfD im Hamburger Wahlkampf nirgends einen Raum für Wahlkampfveranstaltungen mieten konnte, weil potenzielle Vermieter durch Gewaltdrohungen davon abgeschreckt wurden.

Als das kurze Allparteienglück über den geglaubten Nicht-Einzug der AfD ins Parlament zerstob, trösteten sich die darob Enttäuschten damit, dass diese Partei wenigstens auch hatte Stimmenverluste hinnehmen müssen. Doch nicht einmal das ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Die AfD hat in Summe keine Wählerstimmen verloren, wie Wahlauswertungen zeigen. Das schwächere prozentuale Ergebnis sei vor allem der höheren Wahlbeteiligung geschuldet. Die AfD habe 2.000 Stimmen von bisherigen Nichtwählern gewonnen, sowie 1.000 von der CDU. Jeweils 1.000 Wähler habe sie im Gegenzug an SPD, Grüne und die sonstigen Parteien verloren. Mit der Linken und der FDP habe es demnach keinen Austausch von Stimmen gegeben.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Lena Martin / 24.02.2020

Da feiert sich eine SPD frenetisch als Wahlsieger und verzeichnet gleichzeitig die höchsten prozentualen Verluste.

giesemann gerhard / 24.02.2020

Und die SPD sprach zur CDU: Cum, wir gehen ex zur SED, einen saufen. Etwas Besseres als die AfD findest du überall. Denn grau, junger Freund ist alle Theorie und grün des Lebens gold’ner Baum.

Frank Volkmar / 24.02.2020

Auf NDR Info war heute früh zu vernehmen, das die AfD mit 5,3 % statt den prognostizierten 4,7 % abgeschnitten hat. Die Differenz erklärt man sich aus einer möglichen “Wahlscham” von AfD-Wählern bei der direkten Befragung mit dem Ziel der Prognose. Es könnten keine Befürchtungen über Konsequenzen einer Meinungsäußerung pro AfD sein, sondern “Wahlscham”. Die sollen sich was schämen !

Karl Dietsch / 24.02.2020

Bisher dachte ich, daß man nur dann einen Kompaß braucht, wenn man sich der Richtung nicht sicher ist

Mona Albrecht / 24.02.2020

Yup, Kompass. Erinnert mich an einen Peanuts Comic in dem Snoopy als Pfadfinder verkleidet, im Wald rumstolpert und dann in Panik seinen Kompass raus zieht und sagt ” geh voran Kompass, ich folge Dir” :)

Hein Noog / 24.02.2020

Vor einer Stunde hat mich eine Dame von TNS Infratest angerufen, zwecks einer Umfrage zu meinem bzw. dem Medienverhalten unserer Familie. Ich habe ihr klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass ich von Umfragen rein gar nichts halte und keine Auskünfte geben werde. Seltsamerweise wurde ich unter der selben Nummer am 21. Feb. schon einmal angerufen, aber die Leitung blieb stumm, seltsam.

Frank Holdergrün / 24.02.2020

Hat die GröKaZ ihren Kompass in die Gardofflsubbe eingerührt und lässt ihren Stuhl endlich dem Vorsitz von Deutschland entfliehen? Oder will sie die CDU noch weitere 2 Jahre zur Schlachtbank führen?

Klaus-Dieter Zeidler / 24.02.2020

Es hat Fehler bei der Wahlzettelauswertung gegeben. Die FDP hat versehentlich Stimmen der Grünen gutgeschrieben bekommen. Ist ja hier wie in Iowa. Hüpfen die Jungwähler nun für Flawless Voting? Muß die Wahl wiederholt werden? Die AfD hat doch sicher ebenfalls Stimmen von den Grünen bekommen. In Hamburg wählt doch niemand AfD! Denen geht es doch gut.

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