Putins Befehl, militärische Unterstützer der Ukraine ins Visier zu nehmen, markiert eine neue Eskalationsstufe im Krieg. Droht ein groß angelegter Konflikt – oder gibt es noch Wege zur Deeskalation?
Im Kreml herrschen unruhige Tage. Am 19. November berichtete Stabschef Anton Waino Wladimir Putin vom Beschuss russischer Militäreinrichtungen in der Oblast Brjansk durch die Ukraine mit ATACMS. Damit haben die USA nicht nur ihre frühere Zurückhaltung aufgegeben, sondern den russischen Präsidenten in eine Zwangslage gebracht. Die daraus resultierende Dynamik birgt enormes Eskalationspotenzial.
Der Kalte Krieg zeigt, wie entscheidend strategische Vorsicht in Krisenzeiten sein kann. Kein westlicher Staatschef hätte Angriffe auf die Sowjetunion zugelassen, da dies das Risiko einer nuklearen Katastrophe mit sich gebracht hätte. Warum diese strategische Vorsicht heute durch eine zunehmend risikoreiche Vorgehensweise ersetzt wurde, bleibt rätselhaft. Es scheint, als würden die Entscheidungsträger die Dynamik der aktuellen Lage gravierend unterschätzen.
Europa könnte vor einer gefährlichen Eskalation stehen. Am 21. November 2024 verkündete Wladimir Putin einen drastischen Schritt: Er wies das russische Militär an, gezielte Angriffe auf europäische Länder vorzubereiten, die die Ukraine mit Raketensystemen wie ATACMS und Storm Shadow unterstützen. Eine Botschaft, die vor 50 Jahren Europa und die Welt in höchste Alarmbereitschaft versetzt hätte, scheint heute kaum mehr ernst genommen zu werden.
„Die Ziele für Angriffe […] unserer neuesten Raketensysteme werden entsprechend den Bedrohungen für die Sicherheit der Russischen Föderation bestimmt. Wir behalten uns das Recht vor, militärische Einrichtungen in Ländern anzugreifen, die den Einsatz ihrer Waffen gegen russische Objekte zulassen“, verkündete Putin am Donnerstagabend vor einem Millionenpublikum.
Die Schwelle für eine direkte Konfrontation zwischen der NATO und Russland ist spürbar gesunken. Anders als die provokanten Äußerungen von Medwedew oder Solowjow in sozialen Medien schafft Putins Anweisung eine neue politische Realität. Dennoch wird dies im Westen überwiegend als Zeichen von Schwäche interpretiert – in der Überzeugung, der Kreml werde seinen Drohungen keine Taten folgen lassen. Doch wie realistisch ist diese Einschätzung?
Irritierende Wende
Putins Erklärung ist keine impulsive Reaktion, sondern das Ergebnis einer schrittweisen Eskalation, wie ein Blick auf die Fakten verdeutlicht. Bereits am 12. September erklärte er, dass Staaten, die der Ukraine ballistische Raketen für Angriffe auf russisches Territorium bereitstellen, als Kriegsteilnehmer betrachtet würden. Wenige Wochen später, am 25. September, verschärfte Moskau seine Nukleardoktrin: Jede nichtnukleare Aggression gegen Russland, die unter der Unterstützung eines nuklearen Staates stattfindet, wird seitdem als Angriff auf die Russische Föderation gewertet.
Anfangs schien diese Eskalation rein symbolisch, da Washington und London den Einsatz westlicher Raketensysteme auf russischem Staatsgebiet strikt untersagten. Im Juni 2024 hatte die US-Regierung einen Vorstoß des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zurückgewiesen, westliche Militärausbilder in die Ukraine zu entsenden, mit der Warnung, keinen „Dritten Weltkrieg“ riskieren zu wollen. Auch Mitte Oktober hielten US-Präsident Joe Biden und Verteidigungsminister Lloyd Austin an dieser Linie fest. „Die Russen haben ihre Flugzeuge bereits außerhalb der Reichweite der ATACMS verlegt. Aber die Ukraine ist mittlerweile in der Lage, ihre eigenen Drohnen zu produzieren, und diese sind äußerst effektiv“, erklärte Austin am 23. Oktober 2024.
Vor diesem Hintergrund stellt die völlige Aufgabe dieser Position eine ebenso unvorhersehbare wie irritierende Wende dar. Der daraus resultierende Angriff vom 19. November läutete eine neue Eskalationsphase ein. Aus Sicht des Kremls war dies ein unmissverständliches Signal für eine gesteigerte Konfrontationsbereitschaft der USA. Dieser Schritt setzte Moskau massiv unter Druck und beschleunigte die Dynamik der Krise weiter.
In dieser Optik wirkt Putins jüngster Befehl weder wie ein bloßer Erpressungsversuch noch wie eine gezielte Provokation. Vielmehr ist er die konsequente Umsetzung einer seit Langem angekündigten Drohung. Dies als Zeichen von Schwäche zu werten, übersieht die dahinterliegende strategische Logik: Der Schritt ist eine unmittelbare Reaktion auf die Eskalation, die durch Washingtons Kurswechsel ausgelöst wurde.
Moralische oder emotionale Aspekte haben in Putins Machtpolitik keinen Platz. Sein Handeln ist streng strategisch und folgt klar definierten Leitlinien. Das macht ihn zu einem berechenbaren, aber kompromisslosen Akteur. Doch auch er ist nicht unfehlbar. Wie seine Entscheidung zur Invasion der Ukraine zeigt, kann eine unzureichende Informationslage zu folgenschweren Einschätzungen führen – mit potenziell gravierenden Auswirkungen.
Stärkung der Hardliner
Seine Drohung mit nuklearer Eskalation gegenüber der NATO ist keineswegs neu. Bereits im Kalten Krieg griffen sowjetische Führer wie Juri Andropow zu solchen Mitteln, etwa im Zusammenhang mit dem NATO-Manöver „Able Archer“ 1983. Der entscheidende Unterschied zu heute liegt darin, dass solche Rhetorik kaum noch ernst genommen werden. Diese Haltung beruht auf der Annahme, Russland könne keinen Konflikt mit der NATO riskieren – eine Sichtweise, die zur Grundlage westlicher Politik geworden ist.
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet eindrückliche Beispiele für irrationale Entscheidungen von Diktatoren. Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 1941 ist ein markantes Beispiel: Trotz eines unentschiedenen Krieges gegen Großbritannien eröffnete er eine zweite Front, was zur Überdehnung der deutschen Ressourcen führte. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, fünf Monate später auch den USA den Krieg zu erklären. Diese Fehlkalkulation verdeutlicht die Gefahren von Überheblichkeit und Fehleinschätzungen – eine Mahnung, die im Umgang mit Moskau heute nicht ignoriert werden sollte.
Politiker, die den Einsatz von Kernwaffen in Europa belächeln, sollten eines bedenken: Seit 70 Jahren ist der nukleare Schlag gegen die NATO in den strategischen Überlegungen Moskaus eine denkbare Option. Bereits in der frühen Phase des Kalten Krieges plädierten Teile des sowjetischen Militärs für einen präventiven Nuklearschlag, um die USA und ihre Verbündeten daran zu hindern, eine technologische und militärische Überlegenheit zu erlangen. Diese Bedrohung war dem Westen bewusst und prägte maßgeblich die NATO-Strategie im Kalten Krieg.
Auch wenn es für westliche Politiker kaum vorstellbar ist, existieren in den russischen Machtstrukturen – insbesondere im Militär und in den Geheimdiensten – einflussreiche Kräfte, die einen Nuklearschlag gegen Europa befürworten. Ein prominentes Beispiel ist der Duma-Abgeordnete und frühere Generalleutnant Andrej Guruljow, der öffentlich mit Atomangriffen auf Städte wie Berlin und London drohte. Wie stark solche Positionen die offizielle Politik des Kremls beeinflussen, bleibt unklar. Doch eines steht fest: Die jüngsten Raketenangriffe stärken die Hardliner und verschärfen die Eskalation weiter.
Verhängnisvolle Kettenreaktion
Ein weiteres Argument für Mäßigung ergibt sich aus der Spieltheorie und den Lehren der Julikrise von 1914. Sie zeigt, wie lokale Konflikte unkontrollierbar eskalieren können, wenn Akteure Risiken unterschätzen und die Kontrolle verlieren. Nach der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 setzte Österreich-Ungarn Serbien ein Ultimatum – in der Annahme, den Konflikt auf den Balkan begrenzen zu können. Mit der bedingungslosen Unterstützung Deutschlands, dem sogenannten Blankoscheck, ging man davon aus, dass Russland nicht militärisch eingreifen würde.
Doch Russlands Mobilmachung am 30. Juli 1914 setzte eine verhängnisvolle Kettenreaktion in Gang: Deutschland erklärte Russland und Frankreich den Krieg, Großbritannien folgte am 4. August nach dem deutschen Einmarsch in Belgien. Der Glaube, den Krieg kontrollieren zu können, erwies sich als fatal. Selbst der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg warnte: „Ich habe nur den Wunsch, dass dieser Krieg nicht aus der Hand gleite.“ Innerhalb weniger Wochen entwickelte sich aus einem lokalen Konflikt ein Weltkrieg. Eine ähnliche Dynamik droht auch heute, wenn Fehleinschätzungen und Überheblichkeit die Gefahr einer Eskalation ignorieren.
Die Erlaubnis zu Raketenschlägen gegen Russland birgt eine entscheidende Gefahr: die schrittweise Aufweichung der roten Linien des Westens. Was zunächst kategorisch ausgeschlossen wurde – wie die Lieferung von HIMARS-Systemen, Leopard-2-Panzern, Abrams oder F-16-Kampfflugzeugen – wurde Stück für Stück Realität. Jede dieser Entscheidungen verschob die bisherigen Grenzen, senkte die Schwelle zur Eskalation und machte zuvor undenkbare Risiken hinnehmbar. Die Zustimmung zum Einsatz von ATACMS und Storm Shadow markiert damit die nächste Stufe dieser gefährlichen Dynamik.
Die wiederholte Lockerung zuvor gesetzter Restriktionen könnte in Moskau als Zeichen für zunehmende Konfrontationsbereitschaft gewertet werden. Dies schafft Raum für weitere Eskalationen, die sich immer schwerer kontrollieren lassen. Noch bedeutsamer ist das Folgende: Angriffe auf russisches Staatsgebiet delegieren die Entscheidungsgewalt faktisch an den Kreml, der sich durch seine eigene Doktrin jeglichen Spielraum genommen hat. Ihn dennoch in die Position zu drängen, Vergeltungsschläge gegen Unterstützerstaaten der Ukraine zu erwägen, birgt erhebliche Risiken – vor allem, weil dies die Wahrscheinlichkeit einer unkontrollierbaren Eskalation drastisch erhöht.
Dass Frankreich der Ukraine nun den Einsatz von SCALP-Raketen gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet gestattet, deutet darauf hin, dass man die Auswirkungen dieser Entscheidung im Élysée-Palast als kalkulierbares Risiko ansieht. Statt auf die Gefahr einer möglichen Eskalation hinzuweisen, richteten der französische Außenminister Jean-Noël Barrot und sein britischer Amtskollege David Lammy den Fokus auf eine „Putinisierung“ der Welt.
Wo liegt die Toleranzschwelle?
„Putins Ziel ist es, einen neuen Präzedenzfall zu schaffen, der das auf Regeln basierende internationale System auf den Kopf stellt, sodass Länder glauben, ungestraft bei ihren Nachbarn eindringen zu können“, erklärten beide in einer gemeinsamen Stellungnahme nach einem Treffen in London am Wochenende.
Doch es gibt auch kritische Stimmen, die eine alarmierende Warnung formulieren. Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und früherer Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, erklärte in einem Interview mit der Weltwoche, dass die Gefahr eines Dritten Weltkriegs so groß sei wie nie zuvor.
„Die amerikanische Eskalationsstrategie erfolgt in kleinen Schritten: Man testet, wie der Gegner reagiert, und geht weiter, wenn die Reaktion ausbleibt oder gering ausfällt. Die russische Toleranzschwelle hingegen liegt deutlich höher. Doch sobald diese Grenze überschritten wird, schlägt Russland hart und brutal zurück. Das eigentliche Problem ist, dass niemand genau weiß, wo diese Toleranzschwelle liegt.“
Diese Analyse bringt die aktuelle Situation in der Ukraine präzise auf den Punkt: Die westlichen politischen Eliten scheinen sich in eine Eskalation zu verstricken, ohne die Tragweite vollständig zu erkennen. Am 19. November sind sie zu Vabanquespielern geworden.
Dies ist umso dramatischer, als die anfängliche Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression darauf abzielte, das Land vor Annexion zu schützen und seinem Volk das Recht auf Selbstbestimmung zu sichern – eine ehrenwerte und im Rückblick richtige Entscheidung. Doch der Konflikt hat sich inzwischen verschoben. Es geht nicht mehr vorrangig um die Freiheit der Ukraine, sondern darum, einen großen Krieg zu verhindern.
Eine sofortige Aufnahme von Verhandlungen gilt als effektivster Weg, den Konflikt zu entschärfen – eine Aufgabe, der man im Westen wie im Kreml vor allem Donald Trump zutraut. „Trump ist ein pragmatischer Mensch, der den Konflikt in der Ukraine beenden kann“, erklärte Dmitri Medwedew dem TV-Sender Al Arabiya am Wochenende.
Doch möglicherweise wird der designierte US-Präsident diese Gelegenheit nicht mehr bekommen. Sollte die Ukraine mithilfe westlicher Systeme weitere Angriffe auf Russland durchführen, droht eine massive Eskalation des Konflikts. Dass Wladimir Putin seinen Warnungen Taten folgen lässt, steht für Christoph Wanner, den langjährigen Russlandkorrespondent der Welt außer Frage. Der Abschuss der neu entwickelten Oreschnik-Rakete sendet ein klares Signal an die NATO: Russland ist bereit, neue Eskalationsstufen zu erreichen. Dieses Warnzeichen zu übersehen, könnte sich als schwerwiegender Fehler erweisen – mit potenziell weitreichenden Konsequenzen für die Stabilität in Europa.
Blind gegenüber realen Risiken?
Der Hinweis, dass die Ukraine Storm-Shadow-Raketen bereits gegen militärische Ziele auf der Krim eingesetzt hat und Moskau daher auch in der aktuellen Situation nicht eskalieren werde, erscheint trügerisch. Zwar betrachtet Russland die Halbinsel seit 2014 als eigenes Staatsgebiet, doch bleibt entscheidend, dass weder die Krim noch die östlichen Regionen der Ukraine zum russischen Kernland gehören, sondern Teil der Kampfzone sind – eine Unterscheidung, die sich klar aus den Aussagen Putins ableiten lässt. „Ein Angriff auf Russland [nicht auf die Krim oder die Ostukraine] wird zu einer nuklearen Antwort führen“, warnte Putin am 25. September 2024.
Der Kalte Krieg zeigt, wie entscheidend gemeinsame Anstrengungen zur Bewahrung des Friedens sind. Damals sorgte eine direkte Telefonverbindung zwischen Washington und Moskau dafür, dass im Krisenfall schnelle Kommunikation möglich war, um Eskalationen zu verhindern. Heute hingegen herrscht eine andere Dynamik: Das Weiße Haus zeigt Zurückhaltung bei direkten Verhandlungen mit dem Kreml, während in Kiew seit dem 4. Oktober 2022 ein Dekret Friedensgespräche mit einer von Putin geführten Regierung kategorisch untersagt.
Die Entschlossenheit des Westens, sich nicht von Staaten erpressen zu lassen, die militärische Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele einsetzen, ist richtig und notwendig. Doch ein solcher Grundsatz bleibt abstrakt, solange er nicht in einer konkreten Situation durch entsprechende Handlungen umgesetzt wird – mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Daher dürfen Prinzipien nicht blind verfolgt werden, ohne die realen Risiken und möglichen Folgen sorgfältig abzuwägen.
Der Ukraine-Krieg zeigt, wie schnell regionale Konflikte eskalieren können, wenn rote Linien verwischt und Risiken unterschätzt werden. Mit Ausnahme von China und Indien sind bereits alle Großmächte in den Konflikt verwickelt. Der Frieden in Europa steht auf der Kippe. Es liegt in der Verantwortung der politischen Entscheidungsträger, den Dialog zu suchen und die Spirale der Gewalt zu stoppen, bevor die Kontrolle unwiderruflich verloren geht.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.