Österreich sieht jetzt Koalitionsverhandlungen der FPÖ mit der ÖVP entgegen. Plötzlich ist ein FPÖ-Kanzler Kickl denkbar. Der Bundespräsident hat den ungeliebten Kanzlerkandidaten bereits zum Gespräch gebeten. Wie reagiert Brandmauer-Deutschland? Etwa mit Einmischung?
Verglichen mit ihren deutschen Kollegen zeigen sich österreichische Spitzenpolitiker bei der Anerkennung für sie unangenehmer politischer Realitäten erstaunlich flexibel und schnell. Am Freitagmorgen hätte wohl kaum jemand ernsthaft darauf gewettet, dass es in absehbarer Zeit einen FPÖ-Kanzler geben würde, schon gar nicht einen Kanzler Herbert Kickl. Nur ein Wochenende später, am Montagvormittag, ist eben dieser Herbert Kickl zum Bundespräsidenten Alexander van der Bellen geladen, jenem van der Bellen, der einst erklärte, er werde Herbert Kickl niemals als Bundeskanzler angeloben, wie die Österreicher das Ableisten des Amtseids und die offizielle Amtseinführung nennen.
Das sollte seinerzeit sicher auch heißen, dass er ihm keinen Auftrag zur Regierungsbildung erteilen wolle. Am Sonntagnachmittag ließ er mit seiner Formulierung noch offen, ob er ihm auch den Regierungsauftrag erteilen wird. Er erklärte das lediglich für möglich. Vielleicht will er den Regierungsbildungs-Auftrag zur eigenen Gesichtswahrung an Bedingungen knüpfen, wie beispielsweise ein Bekenntnis zur EU. So zumindest klang die Ankündigung des Bundespräsidenten.
Es schien aber so, als ob der Bundespräsident eingesehen hat, dass auch Neuwahlen nicht zu einer leichteren Regierungsbildung ohne FPÖ führen dürften, eher im Gegenteil. Die von ihm ungeliebte Partei würde sicher mit Abstand stärkste Kraft im Nationalrat bleiben. Will er deshalb nun zähneknirschend Kickl den Weg ins Kanzleramt öffnen, ihn aber zugleich streng an die Grenzen seiner Macht gemahnen?
Einen Verhandlungspartner zur Koalitionsbildung hätte Kickl jetzt. Nach dem Rücktritt des amtierenden Bundeskanzlers Karl Nehammer als ÖVP-Chef hatte deren Parteiführung am Sonntag den ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker zum Interims-Nachfolger gewählt. Eigentlich ein Mann, der als entschiedener FPÖ- und Kickl-Gegner galt. Dennoch erklärte ebendieser Stocker die Bereitschaft zu Koalitionsverhandlungen mit dem zuvor von ihm oft angegriffenen Herbert Kickl.
„Das wird auch morgen so sein“
Noch im Dezember sagte Stocker im Parlament: "Herr Kickl, es will Sie niemand in diesem Haus. Auch in dieser Republik braucht Sie keiner“. Das passt zu seinen Statements nach der Nationalratswahl im September, als der Generalsekretär lautstark beteuerte, "dass der Bundeskanzler mit Herbert Kickl keine Koalition bilden wird. Das gilt für die Volkspartei. Das war gestern so, das ist heute so, das wird auch morgen so sein."
Folgte man den Worten Stockers in seiner kurzen Pressekonferenz am Sonntag, muss seine Zeitrechnung jetzt bei übermorgen angekommen sein. Natürlich hatten ihn die österreichischen Kollegen nach seiner bisherigen Kickl-Ablehnung gefragt, und er hat selbige kleingeredet. Das wären Äußerungen im politischen Streit gewesen. Auch den SPÖ-Chef Andreas Babler hätte er schließlich hart kritisiert und mit diesem dennoch intensiv über die Bildung einer Koalition verhandelt. Jetzt ginge es ums Land. All das hört sich in der Tat danach an, dass es in Wien wirklich demnächst einen blauen Kanzler geben könnte.
Für Deutschlands aktuelle und potenzielle Regierungsparteien, denen die Brandmauer zu den heimischen Blauen, zur AfD, zur tragenden Wand ihrer Politik geworden ist, ist das sicher ein Schock. Diese Mauer schützt sie schließlich davor, in so heiklen Bereichen wie der Migrations-, der Energie- und der Wirtschaftspolitik ernsthaft über Alternativen zu ihrem Kurs diskutieren zu müssen, obwohl dieser für immer mehr Menschen in Deutschland zu einer stetigen Verschlechterung des alltäglichen Lebens führt. Allzu heftige Kritik daran kann derzeit leicht – einmal als „AfD-Sprech“ diffamiert – umstandslos hinter die Brandmauer expediert werden.
Das führt allerdings dummerweise dazu, dass immer mehr Wähler sich genötigt fühlen, die AfD zu wählen, um – wie es doch so schön neudeutsch heißt – ein Zeichen gegen diese letztlich schwarzrotgrün getragene Politik der letzten Bundesregierungen zu setzen. Trotz des Umstands, dass die Ausgrenzung die Ausgegrenzten, die man zurückdrängen will, immer stärker macht, halten die Deutschen an der Brandmauer-Politik fest. Da kommt es natürlich etwas ungelegen, wenn die, die man hierzulande ausgrenzt, beim gleichsprachigen Nachbarn nicht nur mitregieren, sondern sogar die Regierung führen sollten.
Gibt es noch den gemeinsamen Kurs?
Aber dürfen die wichtigen schwarzrotgrünen Spitzenpolitiker jetzt eigentlich lautstark und ungehalten auf das politische Treiben bei den Nachbarn reagieren? Ein Artikel und ein paar Tweets von Elon Musk waren für sie doch Anlass, sich lautstark die Einmischung dieses einflussreichen Ausländers in die deutsche Politik zu verbitten. Da sollten sie eigentlich den Anschein vermeiden, nun in Österreichs Regierungsbildung eingreifen zu wollen.
Angesichts dieser sie überraschenden politischen Wende in Wien lohnt sich vielleicht auch ein kurzer Blick in befreundete europäische Staaten, um zu sehen, mit wem die Deutschen in den Politikfeldern Migration, Energie und Wirtschaft eigentlich noch auf einem gemeinsamen Kurs unterwegs sind?
In den Regierungen von Italien, Ungarn und der Niederlande sitzen auch Vertreter von Parteien, die hierzulande wahrscheinlich als Rechtspopulisten hinter die Brandmauer verbannt würden. Unter derlei Verdacht stehen die Regierungsparteien in Polen und Tschechien offenbar nicht, aber in den oben genannten Politikfeldern folgen sie dem deutschen Kurs dennoch nicht. Weder wünschen sie beispielsweise, die deutsche Asylpolitik zu kopieren, noch den Atomausstieg. Frankreich steckt in einer Dauer-Regierungskrise, baut aber Kernkraftwerke, und in Dänemark verloren die Rechtspopulisten stark an Zustimmung, seit die dänischen Sozialdemokraten in der Asylpolitik in einer Weise umgesteuert haben, dass es in den Augen ihrer deutschen Genossen wahrscheinlich als „rechtspopulistisch“ gelten würde. Immerhin sind die dänischen Sozialdemokraten damit beim Wähler erfolgreich, was man von der SPD wahrlich nicht behaupten kann.
Die deutsche Politik stimmt offenbar gar nicht so stark mit der unserer Nachbarn überein, wie viele Deutsche gern glauben möchten. Und nun müssen unsere politischen Führungskräfte womöglich auch noch auf österreichische Gefolgschaft verzichten.
Vielleicht lohnt die Überlegung, ob sich nicht umgekehrt vom österreichischen Umgang mit den Realitäten etwas lernen ließe. Statt die Wacht an der Brandmauer zu verstärken, lohnte es sich für die deutschen Parteien vielleicht, an einer eigenen unideologischen, pragmatischen Problemlösungs-Politik zu arbeiten, bevor sie möglicherweise von den deutschen Wählern auch irgendwann zum Juniorpartner derer degradiert werden, mit denen sie vorher nie etwas zu tun haben wollten.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.