Ramin Peymani, Gastautor / 07.09.2021 / 12:00 / Foto: Mini Misra / 23 / Seite ausdrucken

Kollektivismus: Die chronische Krankheit reifer Demokratien

Auf den Verdacht einer chronischen Erkrankung kann man sehr unterschiedlich reagieren. Da gibt es diejenigen, die ihre Symptome ignorieren, bis die bittere Wahrheit sie einholt. Andere sind sich ihrer Beschwerden bewusst. Doch sie wollen es gar nicht genau wissen. Ihr Unwohlsein schieben sie mal auf einen Bagatellinfekt, mal aufs Wetter und mal auf eine verdorbene Mahlzeit. Und dann sind da jene, die tief im Innersten um ihre Situation wissen, sich aber nicht trauen, den Dingen auf den Grund zu gehen, weil sie Angst vor der bestätigenden Diagnose haben. In allen Fällen geht das nur so lange gut, bis die Beschwerden sich derart verschlimmern, dass ein Arztbesuch unausweichlich wird. Eine medizinische Hilfe kommt dann allerdings vielfach zu spät, um die im Körper angerichteten Schäden noch beheben zu können oder die Krankheit wenigstens in Schach zu halten.

Nur eine kleine Gruppe will Klarheit, um möglichst früh mit einer Therapie gegenzusteuern. Allein in diesem Fall kann der angegriffene Organismus vor dem Allerschlimmsten bewahrt werden. Nur entschlossenes Handeln, Mut und Ausdauer versprechen Hoffnung. Was für den Menschen und seine Gesundheit gilt, trifft in gleicher Weise auf die Gesellschaft und ihre Verfasstheit zu: Warnzeichen zu ignorieren oder gar zu leugnen, macht alles nur noch schlimmer. Unsere Demokratie ist schwer erkrankt. Schon seit einiger Zeit schleppt sie ihre Symptome mit sich herum. Es gab und gibt sie, die Mutigen, Entschlossenen, die der Wahrheit ohne Furcht ins Auge sehen. Sie fordern eine schonungslose Diagnose, die aber bis heute niemand, der zur Ursachenbekämpfung in der Lage wäre, stellen will. Von einem Therapieplan, der nun einmal auch Nebenwirkungen mit sich bringt, ganz zu schweigen.

Wir tolerieren uns zu Tode

Die Krankheit reifer Demokratien heißt Kollektivismus. Je stärker Partikularinteressen das politische Handeln bestimmen, umso weniger gilt das Individuum. Was wie ein Widerspruch klingt, ist nichts weiter als die logische Entwicklung einer Gesellschaftsform, die Kleingruppen mehr und mehr Macht über den großen Rest verleiht, in der irrigen Annahme, es sei diskriminierend oder etwa rassistisch, den Willen der Mehrheit umzusetzen. Stattdessen wird Politik für den Einzelfall gemacht, um keinen Lebensentwurf von der sogenannten Teilhabe auszuschließen. Der Ansatz muss letztlich scheitern, führt er doch zur Gleichmacherei, bei der ein gemeinsamer Nenner nur noch über ein dichtes Netz aus Verboten und Verhaltensmaßregeln zu finden ist. Dahinter steckt die wirre Idee, dass es keine Benachteiligung Einzelner mehr geben kann, wenn sich alle ein- und demselben Verhaltensmuster unterwerfen und der Individualismus größtmöglich eingeschränkt wird.

Dass das vermeintliche Ziel dabei aus dem Blick gerät, die Interessen von Minderheiten zu schützen, die sich ja eben gerade im Anderssein ausdrücken, wird mit aufwändiger Propaganda und aufdringlichen Narrativen kaschiert. Der Minderheitenschutz gilt ohnehin nur für ausgewählte Gruppen, für diese aber ohne Wenn und Aber. Hier ist Toleranz Staatsräson. Man könnte es auch anders sagen: Wir tolerieren uns zu Tode. So lebenswichtig Toleranz für den Kreislauf der Demokratie ist, so schädlich ist deren einseitiger Überfluss. Wir kennen das vom menschlichen Organismus, in dem der Anteil der Blutbestandteile, aber auch das Gleichgewicht aus Wachstums- und Killerzellen darüber entscheidet, ob wir gesund sind oder chronische, ja sogar unheilbare Krankheiten entwickeln.

Viel Zeit bleibt uns nicht mehr

Die problematische Grundveranlagung demokratischer Systeme richtet so lange keine bleibenden Schäden an, wie die Mehrheitsgesellschaft die Kontrolle über das Funktionieren der Organe innehat. Dabei hält erst das Zusammenspiel der vielen unterschiedlichen Beteiligten die Demokratie gesund. Doch neuzeitliche Bewegungen wie die als Machtinstrument eingesetzte Political Correctness und deren infektiöse Ausgeburt der Wokeness haben das gesunde Gleichgewicht nachhaltig gestört. Ein jahrelanges Ignorieren und Leugnen der für alle sichtbaren Symptome hat tiefe Spuren hinterlassen. Die Demokratie ist ausgezehrt und schwach. Ihre chronische Erkrankung muss heute niemand mehr diagnostizieren. Doch zu hören ist nicht etwa der Ruf nach den dringend benötigten therapeutischen Maßnahmen, sondern die empörte Zurückweisung aller Befunde.

Viel Zeit bleibt uns nicht mehr, um zu verhindern, dass aus der chronischen Erkrankung eine unheilbare Krankheit wird. Ist der Geist der Demokratie erst einmal ihrem Körper entwichen, wird sich so schnell keine Nachfolgerin finden, die in ihre Fußstapfen treten könnte. Wo die Demokratie zu Grabe getragen wird, metastieren bösartige Systeme, die das Individuum verachten und den Menschen nur noch als Wirt sehen, dessen sich das Virus kollektiver Ideologien bedient. Und sollte sie doch wieder auferstehen, kommt sie niemals so stark zurück wie ihre Vorgängerin, so als habe die sterbende Demokratie einen Teil ihrer Malaisen vererbt. Das Leben ist kostbar, und alles Leben muss gepflegt werden, um gesund zu bleiben. Wir haben die Demokratie so lange vernachlässigt, dass sie ihr Leben auszuhauchen droht. Das wird so mancher erst begreifen, wenn er weinend an ihrem Sterbebett steht.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Ramin Peymanis Blog Liberale Warte. 

Foto: Mini Misra

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Leserpost

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Klaus Keller / 07.09.2021

Manche Demokratien sind nicht einmal Eintagsfliegen. Sonntags, bei uns im Herbst, ist sie zwischen 8.00 und 18.00 lebendig. Dann sieht man in der Urne nach ob sich da was bewegt hat. Dann passiert wieder mehrere Jahre nichts.

Christian Berger / 07.09.2021

Das Problem ist, dass zwar ständig von “Toleranz” gefaselt wird, aber Toleranz tatsächlich weder gemeint ist noch gefordert wird: “Toleranz” kommt vom lateinischen Wort “tolerare”, zu deutsch: “ertragen, erdulden”. Ertragen und erdulden tut man etwas, was man selbst zwar nicht als positiv empfindet - oder sogar innerlich ablehnt - aber dennoch hinnimmt. Darum geht den “Toleranzbrüllern” aber gerade nicht. Es reicht ihnen nicht aus, dass das oder die für welche sie Toleranz fordern nur ertragen oder erduldet - also toleriert - werden; sie wollen für alles und alle, wofür /für die sie vorgeblich “Toleranz” fordern, wesentlich mehr, nämlich eine Vollakzeptanz (Akzeptanz von lat. accipere = annehmen) und zwar von ausnahmslos jedem. Tolerieren ist nicht genug, es geht um die Forderung an alle notfalls auch die eigenen Vorstellungen, Gefühle und Empfindungen zu ändern - oder zumindest so zu tun.

Krischan Klambügel / 07.09.2021

Die Menschen werden getäuscht und manipuliert bis zur Selbstaufgabe. In den USA gibt es mittlerweile die Anweisung in vielen Schulen, weißen Kindern einzutrichtern, dass sie Rassisten seien. In D kommt das vermutlich auch bald. Die meisten Medien sind systemtreu und täuschen einfach nur die Menschen. Dann gibts es viele Menschen, die sich mit Mühe mit Job + Nebenjob auf Mindestlohnniveau über Wasser halten, dann wird jetzt alles teurer, viele Menschen wissen nicht mehr, wie sie das machen sollen und hetzen nur noch durch den Alltag. Dann kommt auch im Beruf immer mehr Druck, schneller und genauer und angepasster zu sein. Und dann hat man noch Familie. Wann sollen die Leute sich denn auf akademischem Niveau oder auf semi-akademischem Niveau informieren? Die haben keine Zeit. Ich habe 5-6 Ärzte zur Corona-Impfung befragt, 2 haben nicht direkt dazu geraten, aber auch nichts dagegen gesagt, der Rest hat zugeraten. Die 2 sind unabhängig mit eigener Praxis, alle anderen sind Angestellte in Praxen und Kliniken. Da weiß man, was da für ein Druck kommt. Von den 2 unabhängigen hat mir einer gesagt, er dürfe nicht gegen die Corona-Impfung sein, weil es eine offiziell empfohlene Impfung sei und er rechtlich Ärger bekäme, wenn er etwas sagt. Sieh mal einer an. Volksabstimmungen über die eine oder andere Sache, ähnlich wie in der Schweiz, wären sehr sehr sinnvoll.

A.Ziegler / 07.09.2021

Das Gegenmittel heisst: Direkte Demokratie. Die Mehrheit entscheidet. Punkt. Gibt es bisher nur in einem Land der Welt.  Am 26.9 darf ich wieder abstimmen, ich freue mich darauf. Und im November sogar über Covid-Massnahmen.

Petra Wilhelmi / 07.09.2021

@A. Ostrovsky: Man kann es auch Faschismus nennen. Ob nun Faschismus oder Sozialismus - das ist im Grund genommen egal. Keine Ideologie von beiden, hat es mit der Demokratie. Beide erniedrigen den Menschen. Beide geben vor, was zu denken und zu sagen ist. Beides ist “1984”. Es gibt keine Unterschiede. Planwirtschaft, wie sie bevorzugt wird, ist auch Teil des Sozialismus. Wer ihn natürlich nicht selbst erlebt hat, der kann es nicht wissen. Ich hätte besser Maoismus schreiben sollen, weil dieses Wort es noch besser trifft. Aber letztendlich: Es ist egal, wie man Totalitarismus nennt.

g.schilling / 07.09.2021

Wenn man den Zenit überschreitet ist die Abwärtsbewegung erst kaum spürbar. Wenn der Abwärtstrend Fahrt aufnimmt, sollte man fix einen Relaunch einleiten. Hierzu gibt es aber bisher keine Bemühungen. Also wird der Absturz unaufhaltbar. Egal wer den Kanzler stellt und ob FFF’s hüpfen oder nicht.

sybille eden / 07.09.2021

Danke Frau PETRA WILHELMI, ich hätte es nicht besser schreiben können.

Michael Eiber / 07.09.2021

Richtiges Thema: die Minderheiten führen einen drakonischen Diskurs, und drängen die Mehrheit in die Ecke. Allerdings ist die Mehrheit keine homogene Gruppe, und kann nicht “identitär vertreten werden”. Ich glaube, diese Schwachstelle ist tatsächlich systemisch, sprich wir haben es mit einem Problem der späten Demokratie zu tun. Eine vollständige Analyse habe ich noch nicht gefunden, aber mir scheint die Unterscheidung von Minderheit und Individuum genau so wichtig zu sein, wie der Unterschied zwischen kultureller Eigenheit und existenzieller Norm. Der Totalitarismus, den wir gegenwärtig heraufziehen sehen, arbeitet zielgenau von beiden Seiten: alles, was allgemeingültig ist, wird in Abrede gestellt oder als veraltete Gewohnheit “nachsichtig behandelt”. Alles, was Normen der Mehrheit sind (Beispiel Heterosexualität) wird als fies und unterdrückererisch diskreditiert. Die Vollendung dieses Totalitarismus sind nicht die Normen irgendeiner der besetzten Minderheiten (warum wehren sich diese Minderheiten eigentlich nicht gegen die Vereinnahmung, liegt da ein Rachebedürfnis vor?!), die Vollendung ist die Willkürherrschaft ohne Normen. Es ist im wesentlichen eine moralische Zersetzung: Menschen, die jede Wertfeststellung (gleich wie absurd) glauben widerspruchslos akzeptieren zu müssen, sind auch irgendwann bereit, ...alles zu tun. Der Rechtsstaat wird sich dem lange Zeit noch widersetzen, aber die Gesellschaft ist bereits “in der Vorbereitungsphase”.

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