Burkhard Müller-Ullrich / 19.10.2015 / 18:17 / 6 / Seite ausdrucken

Köln ist nicht Weimar

Kaum jemand von uns Heutigen hat die Weimarer Republik bewußt erlebt. Aber ein Gefühl von Weimarer Republik haben derzeit viele. Dieses Gefühl beruht auf einer Radikalisierung und Polarisierung in politischen Auseinandersetzungen, auf einer tatsächlichen Gefährdung von Wohlstand und innerem Frieden sowie auf einem gigantischen Mißtrauen gegenüber allen großen Parteien und – nebenbei gesagt – auch allen großen Medien. Letztere neigen eher dazu, dieses Gefühl zu verurteilen, als ernsthaft zu untersuchen, woher es kommt, was den Volksverdruß natürlich weiter steigert.

Jetzt zum Beispiel stehen in fast allen Zeitungen Kommentare, die zwischen den Messerstichen von Köln und dem auf einer Pegida-Demonstration in Dresden herumgezeigten Galgen fast auftrumpfend einen Zusammenhang konstruieren. Rechter Haß, nationalistische Hetze, braune Stimmungsmache würden sich zusammenbrauen, heißt es, als ob das Naturereignisse wären, die anlaßlos aus dem brodelnden Innern der Dunkeldeutschen hervorbrächen.

Der kleine Galgen, der seit einer Woche Medien und Justiz beschäftigt, ist ohne Zweifel ein widerwärtiges Symbol, und selbstverständlich darf von einem Dresdner Pegida-Demonstranten verlangt werden, daß er seinen Zorn in Form eines wohlgesetzten Leserbriefs in der FAZ äußert. Allerdings fällt einem die Unverhältnismäßigkeit des öffentlichen Tamtams um diesen Fall schon auf, wenn man sich erinnert, mit welch beifälligem Schmunzeln einst Christoph Schlingensiefs Schlachtruf „Tötet Helmut Kohl!“ begleitet wurde. Da liegt es nahe, daß der Galgenmann von Dresden sich jetzt ebenfalls auf Kunstfreiheit beruft. Wenn Kohl-Töten satirisch war, dann muß es Merkel-Hängen logischerweise auch sein.

Wenn aber einer zum Messer greift, wie vorgestern in Köln, und eine Politikerin niedersticht, dann hat das mit Weimarer Republik nicht das mindeste zu tun. Wolfgang Schäuble, Oskar Lafontaine und manch anderes Attentatsopfer zeugen davon, daß so etwas unter allen Zeitgeistbedingungen und in allen ideologischen Konstellationen vorkommt. Gewiß, der Ton und Stil politischer Kontroversen werden rauher – und das liegt zum wenigsten an der Internetkultur, in der anonyme Hetze leicht ein Publikum findet. Daß die Nerven so blank liegen, kommt eher daher, daß viele Menschen den Eindruck haben, unsere Regierung bestehe aus Selbstmordpiloten, die sich im Cockpit verrammeln, einen Absturzkurs einprogrammieren und auf keinerlei Anrufe mehr reagieren.

Wie anders läßt es sich verstehen, daß die Kanzlerin geradezu gewohnheitsmäßig Rechtsbrüche begeht: des EU-Rechts im Falle der angeblichen Euro-Rettung; des nationalen Rechts bei der abrupten Grenzöffnung? Wenn etwas an die Weimarer Zeit erinnert, dann sind es die überhand nehmenden staatlichen Unverantwortlichkeiten. 

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Leserpost

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Paul H. Ertl / 20.10.2015

Galgen: Sehr schlecht, Daueraufreger. Guillotine (so groß, daß sie gefahren werden mußte): Kaum der Erwähnung wert, wohl schon vergessen. Wie kommt das ? Ganz einfach: In Sozenschland zählt nicht (mehr), WAS getan wird, sondern fast nur noch WER es tut. Galgen: Pegida (sehr schlecht). Guillotine: Anti-TTIP-Demo (sehr, sehr gut). Heuchelei, weiter nichts.

Matthias Strickling / 20.10.2015

Ich stimme Ihnen zu, der Vergleich mit der Selbstmordcrew ist gut. Eine große Frustration rührt vor allem daher, dass zwar alle Mainstreampolitiker die Willkommmenskultur beschwören. Wir schaffen das. Nur—kein einziger Politiker hat in diesem Zusammenhang dargelegt wie man es schafft. Wie teuer, wie die Integration von statten gehn soll, wie es finanziert werden soll, wer es finanziert, zu welchen Lasten etc. Die große Stille um diese Fragen herum schürt den großen Frust. Und das große hysterische rot-grüne Geschrei auch in den Medien, gegen genau diese bürgerlichen Fragen ruft auch Aggression hervor.

Wilfried Paffendorf / 19.10.2015

Sehr geeherter Herr Müller-Ullrich. Eines vorweg: zum Messer greifen ist völlig inakzeptabel! Darin sind sich wohl alle geistig gesunden und vernünftigen Menschen hierzulande einig. Auch Aufrufe zu Gewaltanwendung gegen Menschen und deren Eigentum sollten nicht widerspruchlos hingenommen werden. Da müssen sich Staat und Gesellschaft wehrhaft zeigen. Aber - nach allem was ich über den Täter von Köln weiß, handelt es sich eben nicht um eine politisch motivierte Tat, sondern da war tatsächlich ein Geisteskranker, ein gemeingefährlicher Irrer am Werk. Jeder der mit der Materie etwas vertraut ist weiß, dass sich die Zurechnungsfähigkeit bzw. der Geisteszustand eines Menschen nicht in zwei oder drei Tagen erforschen lässt. Und nun zum Galgen bei Pegida. Ich würde auch nicht mit einem selbstgebastelten Galgen, an dem zwei Zettel mit der Aufschrift “Merkel” und “Gabriel” hängen, in der Gegend umherlaufen. Das wäre mir zu blöd. Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie von Tamtam schreiben, das jetzt um diesen lächerlichen kleinen Galgen gemacht wird. Es ist die Angelegenheit überhaupt nicht wert. Normalerweise würde ich das gar nicht ernst nehmen, höchsten am Rande wahrnehmen. Aber die Sache ist doch ernster, weil man daraus wieder ein Vehikel hin zu Meinungsunterdrückung machen will. Man nimmt auch die lächerlichste Gelegenheit war, um allgemein unerwünschte Kritiker mundtot zu machen. Als kürzlich 250 000 Demonstranten in Berlin aufmarschierten, war eine riesige Guillotine zu sehen. Darüber hat sich kein Mensch aufgeregt und nach meiner Kenntnis ermittelt da auch kein Staatsanwalt. Auch das, was bei den großen Karnevalsumzügen in Köln, Mainz oder Düsseldorf gezeigt wird, ist nicht immer stubenrein oder geschmackvoll. Wie “Volk” seinen Ärger über “die da oben” artikuliert, ist eben nicht immer feinsinnig, aber wohl oft ein Gradmesser für das Ausmaß an Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung. Ich denke aber, dass darin kein geistig gesunder Mensch eine Drohung oder Aufforderung zu Mord und Totschlag sieht. Über den kleinen Galgen bei Pegida echauffiert man sich aber bis zum Erbrechen in allen Gazetten und Pressekonferenzen. Seinen Zorn in Form eines Leserbriefes in der FAZ oder einem anderen Medienerzeugnis Luft zu machen, wie Sie anregen, ist aber nicht ganz so einfach, wie Ihnen das hier aus der Feder fließt. Mir ist es bisher noch nicht gelungen, auf einen Online-Artikel bei FAZ, SPON, FOCUS, WELT oder TV-Beiträge einen Kommentar zu platzieren, obwohl ich sehr sachlich formuliere. Da wird gleich mit Sperrung gedroht. Es passt den Damen und Herren Zensoren nicht, dass man überhaupt Kritik übt - am Zeitgeist, am Inhalt eines Artikels, an der Politik usw. Die sogenannten Mainstream-Medien akzeptieren ja kaum noch Leserbriefe bzw. Kommentare, die sich inhaltlich gegen bestimmte Ereignisse richten. Beim Thema “Flüchtlinge” z.B. werden die Kommentarseiten gleich generell gesperrt. Wenn man aber alle Überdruckventile schließt, platzt irgendwann einmal das Druckgefäß. Wäre es nicht besser, man lässt dem Menschen Raum für Kritik, auch wenn diese manchmal unterhalb der Gürtellinie liegt oder einfach schwachsinnig ist? Muss eine freie Gesellschaft nicht auch solche Ausdrucksformen ertragen können? Muss man jeden besorgten Bürger, der mit der regierungsamtlichen Asylpolitik nicht einverstanden ist, als “Pack”, “Nazi” oder “Rassisten” beschimpfen? Ich sehe die Gefahr weniger von “Rechts” als in den Repressionsversuchen des Staates gegen kritische Bürger, in der pleonastischen Reaktion auf kritische Stimmen. Ich glaube nicht, dass sich eine bedeutende Anzahl von deutschen Bürgern hinter irgendwelche hirngesch…....Neonazis versammeln würde; diese Zeiten sind längst vorbei. Dagegen sehe ich sehr wohl eine Gefahr aus Richtung der extremen Linken. In der linken Ecke lauern die großen Gefahren für Andersdenkende. Ich erinnere mich auch nicht daran, dass rechte Demonstranten zu Haufen durch die Straßen ziehen und Juden ins Gas wünschen. Ich kenne aber etliche linke Spinner, die am liebsten den Juden den Garaus machen würden und daraus auch keinen Hehl machen. Wäre die Gefahr von Rechts wirklich so groß wie gebetsmühlenartig behauptet, dann würden NPD § Co. nicht bei Wahlergebnissen unter ferner liefen abgehakt. In den 60ern haben wir behauptet, der Staat und seine Eliten seien auf dem rechten Auge blind. Heute erblindet er zunehmend auf dem Linken Auge. MfG

Hinrich Mock / 19.10.2015

Der Einzeltäter von Köln war mit Sicherheit nicht von Pegida inspiriert, denn die Dresdner sind von Anfang an ausdrücklich friedlich unterwegs gewesen (im Gegensatz zu den Gegendemonstranten) und vertreten in ihren 10 Punkten, die offensichtlich niemand zur Kenntnis nehmen will, durchaus nachvollziehbare Positionen, auch wenn die Formulierungen etwas hysterisch sind und der rechtliche Rahmen vielleicht nicht alles das so einfach hergibt (was aber heutzutage sowieso egal ist). Der Tenor ist, daß sie die Kontrolle des Staates fordern und Fehlentwicklungen (Kriminalität, Parallelgesellschaften) befürchten. Rechtsradikale Trittbrettfahrer sind dort natürlich genausowenig nicht auszuschließen wie in Hamburg der Schwarze Block. Zur Islamkritik von Pegida sollte man außerdem drei Dinge mit in die Beurteilung einbeziehen. Erstens die Provokationen von Muslimen von Erdogan bis hin zu verschiedenen Imamen, die nachweislich und öffentlich eine islamische Kolonisierung Europas, des Abendlandes, propagiert haben. Neulich wollte Saudi-Arabien 200 Moscheen spenden für die muslimischen Migranten. Zweitens einschlägige Erfahrungen auch mit real hier existierenden Muslimen, die Deutschen den Weg vertreten und sagen: Morgen gehört uns Deutschland! und deren Kinder, als ethnische Gruppe, die verbliebenen deutschen Schüler aufmischen. Da wird “täglich etwas neu verhandelt” (Özoguz). Auch dann, wenn sie in Sachsen noch selten sind. Man sieht es ja jetzt auch in Osteuropa, wo es wenige Muslime gibt, wo aber die Erfahrungen woanders Sorgen bereiten und skeptisch machen. Und drittens die islamistischen Anschläge aus der Mitte der Gesellschaft. Wer Burka oder auch Kopftuch trägt, zeigt damit provokativ eine orthodoxe Glaubensauffassung deren Grenzen zum Islamismus fließend sind und sollte sich über Kritik nicht wundern. - Pegida dürfte auf alles dies eine Reaktion sein, also zunächst defensiv. Der Einzeltäter von Köln war angesichts der offiziellen Politik der illegalen Einreise von hundertausenden Migranten und der Unterstützung dieser Politik durch Frau Reker (Sozialdezernentin der Stadt Köln) sowie ihres nun drohenden Aufstiegs zur Bügermeisterin wahrscheinlich in einer Art Panik und wollte dem Rad in die Speichen greifen. Es war eine schwere Straftat und außerdem ein gewaltiges Eigentor.

Wolfgang Schlage / 19.10.2015

“Daß die Nerven so blank liegen, kommt eher daher, daß viele Menschen den Eindruck haben, unsere Regierung bestehe aus Selbstmordpiloten, die sich im Cockpit verrammeln, einen Absturzkurs einprogrammieren und auf keinerlei Anrufe mehr reagieren.” Sehr schönes Bild! So empfinde ich das auch. Ich würde die staatstragenden Medien übrigens dazuzählen.

Frank Stricker / 19.10.2015

Auftrumpfend wurde auch von gewissen Medien bereits kurz nach der Messerattacke in Köln darauf hingewiesen, dass der Täter offenbar Deutscher war und ein Ersthelfer kurdischer Abstammung. Wäre es umgekehrt, hätte es wahrscheinlich nur geheißen:” Ein Täter hat eine Tat begangen”.

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