Gemeinsamkeiten ausloten, Streitpunkte ausklammern, vertraulich kommunizieren – wie man ein politisches Bündnis schmiedet. Auszug aus dem Buch „Koalitionen“ von 2017.
Von Wolfgang Sofsky.
Um eine Koalition zu gründen, braucht man anscheinend nur ein paar wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen. Zuerst beschließt man, ob man abwarten oder auf Partnersuche gehen will, dann vergleicht man die Angebote, gibt ein paar Versprechen ab und unterzeichnet schließlich den Vertrag. Jeder Schritt wird begleitet von Lagebeurteilungen und Zuschreibungen. Großzügige Offerten zeigen, wieviel einem der andere wert ist, Ablehnungen schrauben den Beitrittspreis in die Höhe. Was für den einen dringlich ist, ist für den anderen eine Bagatelle. Was sich der eine als Zugeständnis abringt, ist für den anderen nichts als eine Zumutung. Ob der Pakt letztlich besiegelt wird, entscheidet sich, so scheint es, im Prozess der Annäherung, Abstoßung und Bewertung.
Entschlüsse setzen Fakten für die Zukunft. Aber nicht alle Koalitionen gründen auf dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage. Vielfach schlittern die Menschen in Allianzen hinein, ohne überhaupt einen Beschluss zu treffen. Denn wie sich die Partner Gelegenheiten schaffen, um zueinander zu kommen, so suchen Gelegenheiten sich auch die Partner, die zueinander finden können. Häufig entstehen Koalitionen in Situationen, in denen gar nichts mehr zu verhandeln ist. Das Machtfeld ist abgesteckt, die Trümpfe sind verteilt, die Kontaktlinien gezogen, die Regeln installiert. Soziale Strukturen steuern das Handeln. Die Manöver stellen keineswegs alles zur Disposition. Bündnisse entstehen in einer Situation und arbeiten zugleich gegen sie.
Kontaktlinien und Kanalarbeit
Zahlreiche Allianzen scheitern bereits an fehlenden Verbindungsleitungen. Die Menschen kennen einander nur von Ferne, die Abstände sind kaum zu überbrücken, die Grenzen nicht zu überschreiten. Dass Übereinstimmung dennoch möglich wäre, liegt jenseits der Vorstellung. Nur Vermittler und Grenzgänger, die zwischen den Revieren hin und her pendeln, bemerken die Konsenschancen. Nicht weil man zerstritten ist, geht man aneinander vorbei, sondern weil die Kanäle fehlen, über die man zueinander finden könnte.
Kontaktlinien stiften gegenseitige Erreichbarkeit. Wo keine Kanäle eingerichtet sind, kann man andere nicht benachrichtigen, geschweige denn Signale des Interesses senden, Angebote unterbreiten oder Allianzen verabreden. Entscheidend sind dabei nicht die direkten Anschlüsse. Kontakte können ebenso indirekt über Mittelsmänner zustande kommen, über Boten, Gesandte oder Makler. Dass jeder mit jedem reden, jeder gegen jeden streiten, jeder sich mit jedem verbünden könnte, ist ohnehin die Ausnahme. Erst wenn der letzte Draht abgerissen ist, herrscht beziehungslose Fremdheit. Wo Begegnungen dagegen alltäglich sind, lassen sich im Streitfall auch Optionen austauschen. Hier schließen Allianzen unmittelbar an bewährte Verbindungen an.
In Institutionen besteht meist ein Netz offizieller Kanäle. Über die Dienstwege der Hierarchie und die informellen Drähte werden Anweisungen und Störmeldungen gesendet. Horizontale Linien dienen der Abstimmung zwischen Abteilungen und Arbeitsgruppen. Über den Dienstweg werden Entscheidungen vorbereitet und autorisiert, Einwände zu Protokoll gegeben oder Zwischenbescheide vermerkt. Solche Kanäle sind durch Vorschriften abgesichert. Man muss sie benutzen, um offizielle Entschlüsse überhaupt zustande zu bringen. Außerdem erleichtern diese Kanäle die Kontrolle. Wo eine Akte geblieben ist, wo eine Entscheidung festhängt, dies lässt sich unschwer feststellen, solange nur der Dienstweg eingehalten worden ist. Die Transparenz der Kanäle sichert die geordnete Abwicklung der Geschäfte. Für heikle Absprachen eignen sie sich jedoch kaum. Schriftlichkeit reißt auch die Sperren der Vertraulichkeit ein. Was nicht für aller Augen und Ohren bestimmt ist, muss daher aus dem offiziellen Kanal herausgehalten werden.
Ignoranz- und Beziehungskanäle
Kaum weniger wichtig ist der Ignoranzkanal. Er schützt die soziale Ordnung, indem er alles aufnimmt, was nicht zur Sache gehört. Er sammelt alles auf, was in den Papierkorb wandern soll. Unwichtige Fehler, Missverständnisse und Versäumnisse, tolerable Störfälle und persönliche Eigenheiten, all dies wird gemeinsam abgefiltert und in den Ignoranzbereich abgeleitet. Der offizielle Kanal leitet weiter, was Aufmerksamkeit verdient, der Ignoranzkanal all das, was Unaufmerksamkeit fordert.
Die Filter zwischen beiden Kanälen sind keineswegs undurchlässig. Irrelevantes kann plötzlich höchste Bedeutung erlangen, Nebensächlichkeiten können unversehens zur Hauptsache werden. Der Filter wird durchlöchert, der Zeichenstrom zurückgeleitet. Verdrängter Ärger schwappt plötzlich hoch und überschwemmt das Verhältnis, eine Zeitbombe explodiert und wird zum Brennpunkt der Auseinandersetzung. Man redet nun offen, worüber man bislang tunlichst geschwiegen hat, schiebt Verantwortung hin und her oder bemerkt plötzlich ungeahnte Gemeinsamkeiten. Wer Streitigkeiten verhindern will, schiebt sie in den Ignoranzkanal. Wer seiner lange erduldeten Benachteiligung überdrüssig ist, bringt sie offen zur Sprache. Und wer auf Gemeinsamkeiten aus ist, weist darauf hin, wie sehr man sich bislang darin einig gewesen ist, gewisse Dinge zu übersehen. Wie Menschen durch offizielle Kanäle verknüpft sind, so sind sie auch durch das verbunden, was sie zusammen nicht wahrnehmen oder nicht wahrhaben wollen.
Allianzen benötigen beide Kanäle. Um Gemeinsamkeiten zu sondieren, bespricht man zunächst nur, wofür man Konsens erwartet. Heikle Punkte werden erst einmal abgeblendet. Danach öffnet man langsam den Filter und stellt sich nach und nach den offenen Fragen. Koalitionsmanöver beginnen mit der Betonung von Konsens, nicht von Dissens. Der strategische Blick nach außen erträgt manche Streitpunkte im Innern. Bündnisse benötigen oftmals keine umfassende Übereinstimmung, ihnen genügt ein schmaler Konsens. Der Rest wird in Rechnung gestellt und abgefiltert. Kanalarbeit heißt daher zuerst: Gewichtung und Sortierung von Verträglichkeiten, Abdrängen von Dissens, Konzentration aufs Gemeinsame. So nutzen die Partner den Ignoranzkanal, um sich ihrer Verbindung zu versichern.
Eine andere Aufgabe hat der Beziehungskanal. Er übermittelt jene Zeichen, mit denen die Menschen ihr soziales Verhältnis organisieren. Man gibt zu verstehen, für wen man den anderen hält, was man von ihm erwartet und welchen Status man ihm zubilligt. Man zeigt, welchen Umgangsstil man pflegen möchte, wie man sich und den Anderen einschätzt. Über den Beziehungskanal werden persönliche Zuschreibungen gesendet, Zeichen der Anerkennung oder Ablehnung, der Nähe, Distanz, des Vertrauens. All dies geschieht meist nebenbei, parallel zur Sache.
Ohne Beziehungskanäle gäbe es kein Vertrauen, keine Gefühle der Gemeinsamkeit und keine Verteilung der Rollen. Selbst das strikt sachliche Zweckbündnis, das jede Sentimentalität scheut, kommt ohne Zeichen gegenseitiger Wertschätzung nicht ganz aus. Es gibt sogar Bündnisse, die hauptsächlich auf diesem Kanal beruhen. Ein Gewohnheitspakt, der überhaupt keine Verhandlungen führt, weiß sich einig, weil sich die Partner einander immer schon nahe fühlten, ohne jemals darüber ein Wort verloren zu haben. Wer solche Allianzen aufsprengen will, muss das Netz der Kameradschaft zerreißen.
Intrige und Geheimnis
Sollen Kontakte fremden Blicken vorenthalten werden, benötigt man einen verdeckten Kanal. Er gestattet Gespräche hinter den Kulissen. Kleine Dienstwege überspringen offizielle Positionen und eignen sich für rasche und delikate Absprachen. Tempovorteile treffen sich hier mit den Vorteilen sozialer Exklusivität. Allerdings verlangen solche Kanäle auch gewisse Sicherheiten. Sender wie Empfänger müssen darauf bauen können, dass keiner etwas preisgibt. Bevor das erste Wort zur Sache fällt, vereinbart man, das Treffen, wie immer es ausgeht, in jedem Fall vertraulich zu behandeln. Dritte dürfen weder erfahren, was geredet wurde, noch dass überhaupt etwas geredet wurde. Wirklich geheim ist nur das geheime Geheimnis. Wer weiß, dass Gespräche stattgefunden haben, kann alles daran setzen, an die Papiere zu kommen. Wer davon jedoch gar nichts weiß, schöpft auch keinen Verdacht und kommt gar nicht auf den Gedanken, dass Papiere überhaupt existieren könnten.
Das Paradigma der verdeckten Kommunikation ist die Intrige. Intrigen sind Koalitionen, von deren Existenz nur die Alliierten wissen. Heimlich spricht man sich ab, um anschließend in der Öffentlichkeit getrennt zu marschieren. Unversehens sieht sich der Gegner zwei Fronten gegenüber, ohne zu ahnen, dass sie im Untergrund durch einen Kanal verbunden sind. Jeder Partner scheint selbstständig zu handeln. Doch insgeheim ist alles exakt abgestimmt. Alles kommt hier auf Verschwiegenheit an. Nichts darf den Zusammenhang verraten. Virtuose Intriganten bringen es sogar fertig, vor aller Augen einen Streit vom Zaun zu brechen und einander zugleich augenzwinkernd zu versichern, alles sei bloß eine Aufführung fürs misstrauische Publikum. Solche Dramaturgie der Intrige verlangt höchstes Fingerspitzengefühl und absolute Disziplin. Ein falsches Wort, eine falsche Geste, und das geheime Bündnis fliegt auf. Öffentlichkeit ist der ärgste Feind des Geheimbundes, Misstrauen der Ruin der Intrige.
Das Geheimnis verbindet. Es verpflichtet zu Vertraulichkeit. Wer etwas verlauten lässt, diskreditiert sich als loyaler Partner. Andererseits dienen verdeckte Kanäle auch als soziales Druckmittel. Man kann den Partner gefügig halten, wenn man durchsickern lässt, andere hätten insgeheim ihr Interesse an einer Allianz bekundet. Für derlei Manöver taugen freilich nur einfache und offene Geheimnisse. Wer es sich leisten kann, seinen Partner zu verärgern, vereinbart mit Dritten ein heimliches Treffen und lässt dies lancieren. Damit versetzt man seinen Verbündeten in Panik und zwingt ihn zu Zugeständnissen. So sind verdeckte Kanäle nach außen Trümpfe im inneren Koalitionsspiel.
Auf Dauer ist dieses Verfahren jedoch riskant. Offizielle Vereinbarungen liegen offen zutage, Geheimbeschlüsse lassen die Partner miteinander allein. Zwar kann man sich auf dem verdeckten Kanal ohne Gesichtsverlust zurückziehen, falls die Sondierungen scheitern. Doch wenn die Koalition festgeschrieben ist, kann jeder behaupten, man habe in Wahrheit etwas ganz anderes beschlossen als das, was der Partner gerade behauptet. Ohne Zeugen ist keine Anklage beweisbar. Nicht umsonst suchen Allianzen nach den ersten Runden umgehend das Licht der Öffentlichkeit, um ihr Programm zu verkünden. Damit zeigen sie nicht nur Verbundenheit und Stärke. Vor aller Augen verpflichten sie sich gegenseitig. Wer jetzt noch die Gespräche abbricht, gerät unter Erklärungsdruck. Und wer hat schon Interesse an einem Partner, der sein Fähnlein rasch nach dem Wind zu drehen scheint? Öffentlichkeit schweißt Allianzen zusammen, das Kommuniqué kettet die Verbündeten aneinander.
Dies ist ein Auszug aus: „Koalitionen“ von Wolfgang Sofsky, 2017, hier bestellbar.
Wolfgang Sofsky, geboren 1952, lehrte als Professor für Soziologie und Anthropologie an den Universitäten Göttingen und Erfurt. Seit 2001 arbeitet er als Schriftsteller und politischer Kommentator. 1993 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis für sein Buch „Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager“, 2015 den Holbach-Preis für sein Lebenswerk. Seine Bücher wurden in über zehn Sprachen übersetzt. Seinen Blog „Aufklärungen“ finden Sie hier.