Gastautor / 31.01.2021 / 10:30 / Foto: Anna Basina / 3 / Seite ausdrucken

Klaus Manns „Mephisto“: Wir sind alle Spieler

Von Anna Basina.

„Die ganze Welt ist eine Bühne und Fraun wie Männer nichts als Spieler.“ Dieses 400-jährige shakespearsche Literaturzitat scheint bis in die heutige Gegenwart kaum an Gültigkeit eingebüßt zu haben, das Welttheater setzt seinen Betrieb unaufhaltsam fort, und wir befinden uns mitten auf der offenen Weltbühne. Ich zitiere Shakespeare und denke dabei an einen ganz anderen Herrn, oder sollte ich lieber Mann sagen? Dabei spreche ich nicht von dem Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, sondern von dessen nicht minder begabtem Sohn Klaus Mann und seinem Schlüsselroman „Mephisto“.

Der Roman erzählt die Geschichte des Schauspielers Hendrik Höfgen und beschreibt die Parallelität seiner persönlichen und beruflichen Entwicklung, beginnend mit der Zeit der Weimarer Republik bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten. Protegiert durch Mächtige des ‚Neuen Deutschlands’ gelingt Höfgen ein rasanter Karriereaufstieg, doch jeder Pakt mit diabolischen Kräften verlangt seinen Preis.

Mit berauschender Macht breitet der Roman seine Wirkung über Gemüt und Gewissen seines Lesers aus und fordert ihn dazu auf, die gleichzeitig erfahrene Anziehungs- und Abstoßungskraft zu ergründen. Obgleich das kulturgeschichtliche Dokument „Mephisto“ heute als Beispiel der langwierigsten publizistischen Auseinandersetzung in der Geschichte der Bundesrepublik gilt, obgleich das Verbot der Neuveröffentlichung durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1971 an Juristischen Fakultäten noch heute als Paradefall zur Aushandlung zwischen Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit behandelt wird, obgleich es durch geschmeidige symbiotische Verschmelzung von Dichtung und Wahrheit den Klang einer Legende angenommen hat, genießt Manns titeltragender Mephisto eine viel geringere Prominenz als der von Goethe in seinem Faust eingeführte Teufelskerl, um neben Shakespeare einen dritten Schriftstellerkollegen zum Vergleich heranzuziehen. Welches Geheimnis ist es also, das die Sonderstellung dieser Schrift bestimmt?

Verzeihen will man ihm seine Fehler und Vergehen

Die plumpe Buchdeckelbeschreibung, der Roman zeichne einen Opportunisten, der seinen Erfolg mit dem Verlust seiner Menschlichkeit und Identität zu zahlen habe, wird der Mystik des hier präsentierten Mephisto, den die Literaturgeschichte zu verbieten versuchte und doch nicht loszulassen vermochte, nicht gerecht. Aus dem Nichts erschafft Mann behutsam den Schauspieler Höfgen, den sein Leser anhand der lebhaften Wortzeichnung wahrhaftig zu sehen und nachzuempfinden beginnt.

„Sein kahler Schädel hatte edle Form. Im aufgeschwemmten, grauweißen Gesicht fiel der überanstrengte, empfindliche und leidende Zug auf, der von den hochgezogenen blonden Brauen zu den vertieften Schläfen lief; außerdem die markante Bildung des starken Kinns, das er auf stolze Art hochgereckt trug, sodass die vornehm schöne Linie zwischen Ohr und Kinn kühn und herrisch betont ward.“

Höfgen wird, obwohl stets von dem dunklen Schatten des Mephistopheles begleitet, als herausragender Künstler, der ohne jeglichen Zweifel über einen emotional höchst empfindsamen und intelligenten Charakter mit gespitztem Verstand verfügt, vorgestellt. Private Hintergründe und gesellschaftliche Umstände, die ihn verleiten, menschlichen Schwächen wie dem Neid, der Unsicherheit, der Kleinlichkeit, dem Egoismus und der dunklen Unbekannten der Grausamkeit zu erliegen, werden dem Leser nachvollziehbar dargelegt, sodass, dem diabolischen Schatten zum Trotze, beim Lesenden Regungen der Empathie und des Mitgefühls für diesen im Kerne zerrissenen Protagonisten erwachen. Beizustehen wünscht man dem Menschen, der zu keiner Liebe fähig ist, zu trösten wünscht man den Menschen, der sein Gewissen zu ersticken versucht, zu behüten wünscht man den Menschen, der im Kampf gegen seine Schwächen und im Besonderen gegen seinen unersättlichen Ehrgeiz stets als Verlierer hervorgeht. Verzeihen will man ihm seine Fehler und Vergehen, er sei doch nur ein Mensch, nur ein Schauspieler.

Manns „Mephisto“ ist ein Reiseleiter in die Vergangenheit

Stopp. Schon ist man ertappt, im Banne des Teufels höchstpersönlich zu stehen. Die ganze Welt sei eine Bühne und Fraun wie Männer nichts als Spieler? Hat man sich dazu hinreißen lassen, dem Schauspielermenschen mehr zu verzeihen als dem bloßen Menschen, so kann man ihn doch von seiner besonderen Verantwortung nicht befreien. Es bleibt seine Bürde, Herr seiner Rolle zu sein. Höfgen konnte diese Last nicht tragen, Mephistopheles hat sich seines Wesens bemächtigt, er wurde seine nicht länger vom Gesicht zu trennende Maske, er wurde sein Meister.

Der Historiker sei ein rückwärtsgehender Prophet – so Hegel. Ich persönlich bevorzuge es, nicht an Prophetie in Tagen des 21. Jahrhunderts zu glauben, sondern an die simple Fähigkeit und schlichte Verantwortung des Menschen, in der Geschichte zurückzugehen und aus ihr Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Manns „Mephisto“ ist ein Reiseleiter in die Vergangenheit, in dessen Begleitung ich den Weg angetreten habe und doch in der Gegenwart ankam. Ist dies ein weiterer Zaubertrick des dunklen Chaostreibers, der die Wirkungsmacht dieses Romans ausmacht?

Ich bewege mich zurück und lande direkt am Ausgangspunkt meiner Reise, denn das Welttheater setzt seinen Betrieb unaufhaltsam fort, und wir befinden uns auf derselben Weltbühne wie vor 90 Jahren. Die schauerliche Wirkung des Dokumentarromans besteht weniger im unverkennbaren Zurückgreifen des Autors auf Menschen der Wirklichkeit, die seinen erschaffenen Charakteren als Vorlage dienten – die Bedeutung seines Werks liegt ebenso wenig in den persönlichen Verstrickungen des Autors mit den zur Grundlage genommenen Persönlichkeiten oder der antifaschistischen Intention seiner Exilliteratur. Die Mystik dieses Romans, obschon in einen zeitlichen Kontext eindeutig eingegliedert, besteht vielmehr in seiner Zeitlosigkeit, die uns in der Gegenwart wiederbegegnet, und dem Umstand, dass dem Buch der universelle Mensch zur Vorlage seinen Dienst erwiesen hat.

Das Repertoire unserer Weltbühne wiederholt sich

Noch heute werden auf Bühnen Spielchen mit dem Publikum getrieben. Scheinbar harmlose Anfeuerungsrufe wie „Zicke Zacke, Zicke Zacke“, „Hip Hip“ oder „Sieg“ finden in entsprechend antwortenden Rufen ihre Auflösungen. Bei Übergriffen auf Personen aus Minoritätsgruppen finden die Betroffenen in den Augen der Umstehenden, die das Unrecht und die Gewalt bezeugen, keinen Rückhalt, weil sich die Tradition, die Augenlider zu senken oder wegzublicken bewährt hat. Wir haben mit unserem Gewissen Frieden ausgehandelt, während Menschen nach Bezwingen kontinentaler Grenzen auf europäischem Land eine Heimat zu finden versuchen, in einer Gesellschaft, die darauf mit einem Rechtsruck reagiert. Das Repertoire unserer Weltbühne wiederholt sich und auch die von uns verkörperten Rollen sind im Voraus bekannt. Im „Mephisto“ heißt es:

„Wehe, dieses Land ist beschmutzt, und niemand weiß, wann es wieder rein werden darf – durch welche Buße und durch welchen gewaltigen Beitrag zum Glück der Menschheit wird es sich entsühnen können von so riesiger Schande? (...) Es ist Nacht in unserem Vaterlande. Die schlechten Herren reisen durch seine Gaue – in großen Automobilen, in Flugzeugen oder Extrazügen. Sie reisen eifrig umher. Auf allen Markplätzen plappern sie ihren Schwindel. An jedem Orte, wo sie oder ihre niedrigen Helfer erscheinen, erlischt das Licht der Vernunft, und es wird finster.“

Wie bereits erwähnt, halte ich mich nicht an Prophetien in Tagen des 21. Jahrhunderts fest, vor allem nicht an solch düsteren, aber ich habe Sehnsucht nach einem neuen Theater. Die ganze Welt ist eine Bühne und Fraun wie Männer nichts als Spieler, daran ist nichts Verwerfliches. Gefährlich wird es, sobald wir uns dazu hinreißen lassen, Schaupielermenschen mehr zu verzeihen als dem bloßen Menschen. Gefährlich wird es, sobald unsere Masken die Züge unserer Gesichter bestimmen und sobald sich die von uns verkörperten Rollen unserer Kontrolle entziehen und uns zu beherrschen beginnen. Aber noch ist der letzte Vorhang nicht gefallen, daher lasst uns auf die Bühne treten und die Rollen unseres Lebens spielen.

 

Anna Basina, geb. 1995 in Moskau, studiert Humanmedizin an der Universität zu Lübeck und engagiert sich aktiv im Bereich der jüdischen Jugend- und Bildungsarbeit. So gehört sie dem Gründungsvorstand des Verbands Jüdischer Studierender Nord (VJSNord) an und ist Gesamtsprecherin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks.

Foto: Anna Basina

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Peter Ackermann / 31.01.2021

„ Wir haben mit unserem Gewissen Frieden ausgehandelt, während Menschen nach Bezwingen kontinentaler Grenzen auf europäischem Land eine Heimat zu finden versuchen, in einer Gesellschaft, die darauf mit einem Rechtsruck reagiert.“  Die hohe Kunst, im allgegenwärtigen Linksruck einen Rechtsruck zu detektieren. Oder: Was nicht passt wird passend gemacht. Hut ab, Frau Basina!

Johannes Schuster / 31.01.2021

Es mag alles sein, aber es gibt ein Meer aus Dummheit, daß keinen Satz versteht und mag er die Lösung aller Probleme in einer Formel beinhalten. Die Leute sind so einfältig, so transzendental einfältig, daß man eher auf dem Mars Kohl anpflanzen wird im eisigen Winter der Gammastrahlung des Alls, als auch nur ein Jota der Dummheit zu bewegen. Das macht eine Welt aus dem “wir” und “den anderen”. Es wird immer eine Mauer geben, es wird immer ein Glas dazwischen sind, und wir werden Raunen hören, aber wir - und die anderen sprechen jeweils andere Sprachen, denn das Wir ist einmal in dieser einen Bedingung und einmal außerhalb ihrer. Die Autorin hat einen Positivismus, den ich beneide und ich hoffe, daß sie nicht kauern muß in der Enttäuschung. Denn alle Weisheit, die sich dem sehenden als ein verborgener Diamant verrät ist für die Gewöhnlichen nur ein belangloser Stein. Man will ihnen einen wertvollen Stein schenken und nur weil etwas simpel also in einfacher Umhüllung verborgen ist, verwerfen sie alles als unwerten Dreck. Deshalb habe ich bein Noll schon geschrieben, daß man eher in der Wüste eine Million Ohren finden wird, als auch unter zehn Millionen Menschen auch nur einen, der versteht. Danke für den Aufsatz: Nur eines noch zu Mann: Mephisto war auch eine interne familiäre Abrechnung zwischen Gewinner und Verlierer in dem gleichen Casino: Der deutschen Geschichte, wie sich die Rollen wandelten, das offenbart der Wandel der Dinge vom einen zum anderen.

FriedrichLuft / 31.01.2021

Dass Klaus Mann “nicht minder begabt” sein sollte, als sein Vater Thomas - darüber kann man wohl geteilter Meinung sein. Übrigens: Gustaf Gründgens, nicht Gustav.

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