Klassik in Japan

Sollte klassische Musik im Westen nicht mehr existieren, so würde sie trotzdem in Japan weitergespielt. Und das, obwohl das erste klassische Konzert Asiens erst 1918 in einem Kriegsgefangenenlanger gespielt wurde.

Die Liebe zu klassischer Musik ist im modernen Japan recht ausgeprägt; dieses Land wird unter anderem charakterisiert von so hohen Lebensstandards, wie sie kaum irgendwo anders genossen werden und weist eine pulsierende Kunstszene auf.* Wer längere Zeit in diesem einzigartigen, von Farben, Düften, Klängen, aber auch Naturgewalt geprägten Lande lebt und intensiver in seine Kultur sowie Kunst eintaucht, sollte berührt sein vom japanischen Streben nach Harmonie und Schönheit sowie seiner Synästhesie, einer besonders hierzulande auffällig intensiven Verschmelzung komplexer Sinneseindrücke.

Auch Japans dunkle Seiten werden künstlerisch verarbeitet (vgl. Mystery Writers of Japan Award), da in dieser pantheistisch geprägten Sagenwelt aufzuwachsen, dem Kunstsinnigen poetisch düsteren Mystizismus bescheren kann – man lausche nur einmal ihrer Staatshymne, bedenke, dass japanische Erzählungen nur selten ein Happy End haben oder sinne darüber nach, wie sehr historische Katastrophen und Gewalt die bis zur Moderne vergleichsweise rückständigen japanischen Inseln prägten und Ausdruck in ihrer Kunst fanden. Wer Handlung und Musik im altehrwürdigen Nō-Theater folgt, auch ohne den Text zu kennen (ähnlich wie in Europa bei gesungenen Operntexten versteht auch hier im Publikum kaum jemand den Wortlaut), kann zumindest erahnen, welch Düsteres aus Menschen- wie Götterwelt ihre Kunst bis heute beeinflusst.

Bis in die Zeit der Meiji-Restauration hinein (ab 1868) waren Gregorianischer Kalender, Parlamentarismus und abendländische Kunst wie ihre klassische Konzertmusik in Japan so gut wie unbekannt. Nach der (erzwungenen) Öffnung des Landes gegenüber westlichen Handelsnationen, welche dazumal ihre Interessen auch offen kriegerisch durchsetzten, konzentrierte sich japanisches Engagement zuerst in Richtung Amerika, Großbritannien, Frankreich und Russland. Doch 1873 überzeugte Bismarck die in westliche Länder ausgesandte Iwakura-Mission bei ihrem Deutschlandbesuch in Berlin, dass deutsches und japanisches Kaiserreich darin übereinstimmten, ihre Nationen seien aus Fürstentümern zusammengeschmiedet, achtsam auf ihre Unabhängigkeit, und könnten großen Nutzen voneinander gewinnen.

Japans Oberschicht pickte sich die nach ihrer Ansicht wichtigsten Neuerungen des Westens zur Modernisierung heraus, um sie zu kopieren (beispielsweise wurde das Bürgerliche Gesetzbuch übersetzt, adaptiert und bald danach in seiner japanischen Version 1898 verabschiedet), denn das Ziel Japans war es, politisch wie militärisch stark genug zu sein, um weiterhin auswärtigen Kolonisierungsbestrebungen widerstehen zu können – dass Japan bald selbst zu einer Annexionsmacht wurde, steht auf einem anderen Blatt. 

Die erste vollständig gespielte Orchesteraufführung ganz Asiens in einem Kriegsgefangenenlager

Das Motto zur Erneuerung während der Meiji-Epoche hieß Reiches Land, starke Armee. Doch nicht nur Militärberater, Staatsrechtler, Juristen, Naturwissenschaftler, Ärzte und diverse Beamte strömten vorwiegend aus Deutschland nach Japan, sondern unter ihnen eben auch Lehrer für Komposition sowie klassische Instrumente und hinterließen hier ihre tiefen Spuren. Heutigentags jedenfalls gehört klassische Orchestermusik zu japanischer Identität sowie Landeskultur, und zu jedem Jahreswechsel hört man überall Beethovens Neunte Sinfonie (第九 Daiku) so selbstverständlich wie den Klang ihrer Tempelglocken.

Ihre erste vollständig gespielte Orchesteraufführung ganz Asiens fand interessanterweise am 1. Juni 1918 in einem Kriegsgefangenenlager namens Bando statt, deren Insassen nach der Einnahme der deutschen Kolonialbesitzung Tsingtao (die damals eingeführte Brauereikunst in dieser Stadt wird mit ihrem gleichnamigen Bier bis heute gut vermarktet) an der chinesischen Ostküste nach Honshu verschifft worden waren. Japan hatte 1914 Deutschland den Krieg erklärt sowie infolge seiner Bündnisverpflichtungen – sicherlich auch aufgrund eigener Ambitionen – und speziell auf Wunsch der Briten gemeinsam mit deren Truppen Tsingtao angegriffen und erobert.

Es ist überliefert, dass POW Hermann Hansen und sein Tokushima Orchester diese Uraufführung Beethovens Neunter gestalteten, wie auch von manchen Quellen berichtet wird, dass ein Nachkomme der einstigen Edo Herrscherfamilie (Tokugawa Yorisada) einem Konzert beiwohnte, die Kenntnis über dieses gelungene Musikstück über ganz Japan verbreitete und dafür warb – heute lässt sich hierüber in Naruto, das am Eingang mit deutscher Flagge und „Herzlich Willkommen“ grüßt und auf deren Areal sich das frühere Bando befand, eine Dauerausstellung im Deutschen Haus betrachten.

Japanische Suche nach Harmonie und Schönheit

Auch wenn seit jenen Zeiten verschiedene Klassiker in den hiesigen Schulen gelehrt werden (Bach, Händel, Mozart, Meyerbeer, Strauss, Wagner u.v.a.m.), ragt doch als besonders beliebt in Japan Beethoven hervor – der im Übrigen nicht nur sich selbst, sondern auch andere Musiker seiner Zeit, wie z.B. Spohr, in seinen Werken kopierte und weithin populäre Klangmuster für seine Sinfonien komponierte und vermarktete. Nodaira Ichiro (Piano, Komposition) meint, seine Popularität rühre daher, dass seine Musik „direkt zum Herzen spreche“, Hoenig Mayuko (Oboe, Piano) berichtet mir zusätzlich aus ihrer Studienzeit der klassischen Musik an der Hokkaido-University Sapporo, dass Beethoven unter ihren Kommilitonen wie ein Samurai-Charakter betrachtet wurde, der ewig unverheiratet vor allem seiner Kunst frönte. Zudem werden besondere Leistungen vollbringende Persönlichkeiten mit pathologischen Behinderungen, wie der immer schwerer an Gehör- und anderen Gebrechen leidende Beethoven, hierzulande immer noch etwas mehr geachtet – vergleiche dazu die literarische Figur des blinden Masseurs, Glücksspielers und Schwertkämpfers Zatōichi oder den blinden Konzertpianisten Tsujii Nobuyuki. 

Es offenbart sich hier meines Erachtens eine Verschmelzung japanischer Suche nach Harmonie und Schönheit mit wohltemperierten musikalischen Kompositionen des Okzidents. Klassische japanische Musiker jedenfalls strömen zu Studium und Vervollkomnung ihrer Kunst vor allem nach Europa, und sie agieren ob ihres Geschickes global vermehrt in den großen Konzerthäusern dieser Welt. Viele Orchester weltweit würden ohne die Kunstfertigkeit japanischer Musiker weniger Glanz ausstrahlen – Yasunaga Toru beispielsweise, ein virtuoser Violinen-Maestro, war 26 Jahre bei den Berliner Philharmonikern, wurde gar Konzertmeister dieses Orchesters schon unter Karajan und prägte maßgeblich den musikalischen Stil so mancher Aufführung. Sollte also dereinst die Klassik mit sinfonischer Musik im Westen leiser werden oder gar verstummen, so findet sie doch am anderen Ende der Welt, hier in Japan, ihre neue Heimat. 

*Von daher schmerzt den Autor dieser Zeilen der Niedergang an Lebensqualität in seiner alten Heimat DE seit den Zeiten Merkels besonders. Mit Bezug auf die hier angesprochene Thematik besuchte er erst kürzlich im Bachjahr 300 eine Aufführung von Bachs Matthäuspassion in der mittlerweile heruntergekommenen Metropole an der Deutschen Oper Berlin (24. März, Inszenierung Benedikt v. Peter, Dramaturgie Dorothea Hartmann) und musste mit Erschrecken konstatieren, dass auch diese Performance von einem speziell in DE gepflegten, pseudoapokalyptischen Zeitgeist vergiftet wurde: Neben Bachs herausragender Musik und seinen Chören schrieen dazwischenlaufende Kinder Parolen (Die Erde wird brennen!), liefen mit Kamera u dussligen Schildern (Opfer?, Schuld?, Zukunft?) wie Influencer über die Bühne – traurig ist das, ein Anzeichen kulturellen Verfalls.

 

Bernd Hoenig ist Religionswissenschaftler, Jahrgang 1966, lebte in Berlin, traf seine heutige Ehefrau Mayu 2016 in Deutschland und lebt mit ihr in Japan, wo sie ihre Firma (mittejapan.com) gründeten. Dieser Beitrag erschien zuerst in seinem Blog Japoneseliberty. Dort beleuchtet er bevorzugt nichtalltägliche Themen, beurteilt aus der liberalen Sicht eines abendländisch freien Geistes.

Foto: Karl Jäger - Library of CongressReproduction Number: LC-USZ62-29499, Gemeinfrei, via Wikimedia Commons Pixabay

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Rainer Nicolaisen / 07.07.2024

Die Kategorie des Schönen ist fast allen Deutschen inzwischen abhandengekommen. Die musikalische Sozialisation hört mit dem Popgedudel in der jeweiligen Jugendzeit auf, mit der Bildung des Gesichtssinnes ( bildende Kunst) steht es nicht besser, Literatur wird als Zumutung empfunden; auch etwas wie das Essen ist weitgehend zum geschmacklichen aromatisierten Einheitsfraß verkommen, u.v.m.. Endzeit: DIE Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.

L. Luhmann / 07.07.2024

@“Bertram Scharpf / 07.07.2024 - Meine Rede seit Jahren. Unser Problem ist nicht der Text, der zu Döpdödödöp gesungen wird, sondern daß solch ein Schund an „Musik“ niemandem mehr peinlich ist. Das geistige Niveau, mit dem sich der Deutsche abfindet, ist nur noch erbärmlich, und der Text, der dazu gegrölt wird ist nicht mehr als die logische Folge davon.”—- Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass mittels dieses Liedes unsere Zersetzer etwas angeätzt wurden? Das niedrige Niveau liegt nicht bei den Bürgern, sondern ganz besonders bei den Politikern!

Oliver Seipp / 07.07.2024

Japan ist wie ein Deutschland, das funktioniert. Die Japaner sind höflich, respektvoll, fleißig und der eigenen reichen Kultur positiv verbunden - auch wenn es viele negative Ereignisse in der Geschichte gab. Alles Attribute, die den Deutschen leider im Moment nach meiner Erfahrung irgendwie abgehen, oder die vielleicht auch nicht mehr erwünscht sind…

Ralf.Michael ( ラルフ. ミハエル ) / 07.07.2024

Die deutsche Kultur und deutsche Künstler, Komponisten kennt hier in Japen jedes Schulkind ! Sie würden da echt staunen !

Bertram Scharpf / 07.07.2024

Meine Rede seit Jahren. Unser Problem ist nicht der Text, der zu Döpdödödöp gesungen wird, sondern daß solch ein Schund an „Musik“ niemandem mehr peinlich ist. Das geistige Niveau, mit dem sich der Deutsche abfindet, ist nur noch erbärmlich, und der Text, der dazu gegrölt wird ist nicht mehr als die logische Folge davon.

Hans-Peter Dollhopf / 07.07.2024

Sobald ich volljährig wurde, trampte ich gerne. Die Leute erzählten mir ihre Geschichten. Einmal saß ich auf der Terrasse eines Gasthauses in einem portugiesischen Dorf. Als der Wirt merkte, dass ich Deutscher war, begann er unerklärlich zu zittern. Mein Getränk war halb verschüttet, als er es servierte. Er hatte als Gastarbeiter in Hamburg gearbeitet, Aufzüge eingebaut und mit seinem Verdienst dieses imposante Gasthaus gebaut. Zum Erstaunen seiner am Tisch sitzenden Nachbarn murmelte er: “São difíceis os alemães”. So ergeht es mir mit Japanern und Südkoreanern. Ich meide sie in großem Bogen und gehe in keines ihrer Lokale. Wenn mich ihre Touristen in Heidelberg nach dem Weg fragen, camoufliere ich mich als Amerikaner, um die Situation mit deren Panzer kosmopolitischer Unbekümmertheit zu überstehen. Bei der Abschiedsfeier für einen japanischen Kollegen im Rechenzentrum wurde ich rot vor Verlegenheit über den Auftritt meiner Kollegen: Was für ein Primitivismus, was muss im Kopf des Japaners abgelaufen sein! Ich hatte Quellcode des Kollegen gelesen und war fassungslos gewesen: So effizient und einfach, dass man von der versteckten Komplexität Augenkrebs bekommen konnte. Nichts gegen die Türken, die Muslime im Allgemeinen oder die Chinesen, Argentinier oder Franzosen, aber die Japaner blieben mir eine Nummer zu groß.

Achim Niederbrüning / 07.07.2024

Danke für diesen schönen und erhellenden Artikel! Ich habe mich beim Besuch klassischer Konzerte schon öfters gefragt, woher die Affinität asiatischer (demnach häufig japanischer, vielleicht manchmal auch chinesischer) Musiker für die europäische Klassik kommt. Nun habe ich eine erste Erklärung dafür. Auch mich beschlich dabei der Gedanke, dass nach dem zu erwartenden Zusammenbruch des sog. Westens zumindest die klassische Musik in Japan, vielleicht auch in China oder Südkorea, überleben könnte. Ein kleiner Trost im Angesicht des Niedergangs.

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