„Echte“ sozialistische Revolutionen richten sich gegen die Machtstrukturen der herrschenden Klasse, gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Ihr Ziel ist, dem Klassenkampf zum Sieg verhelfen: von unten nach oben. So die Theorie. Doch heute wird die Revolution, sprich Transformation, von der herrschenden Klasse selbst ausgerufen, also von oben nach unten.
Das „Gespenst“, das Marx, Engels und Lenin in die Welt setzten, war ein Todeshauch, dem ein verführerisches Gerücht vorauseilte. Nämlich, dass die Revolution der Arbeiter, Bauern und Soldaten zu einer gerechteren Welt führen würde, und die Ausbeutung, die Klassenunterschiede, die Unterdrückung und der menschliche Egoismus endlich ein Ende hätten. Alle proletarischen Revolutionen haben jedoch neue Tatbestände der Gewalt, Suppression und sozialen Missstände hervorgebracht. Der unbedingte Glaube an die Macht des „Proletariats“ und die (technische) Progressivität des klassenlosen Staates waren utopische Verirrungen, die letztlich zur erneuten Instrumentalisierung der Völker durch neue Macht-Cliquen geführt haben.
Heute wissen wir aus Anschauung und Erleben, dass die Macht der kleinen Leute im real existierenden Sozialismus gar keine ist, weil sie immer nur vorübergehend als (revolutionäre) Masse von Interesse ist, deren Impuls man benötigt, wenn es zur Sache geht, um alte Machtgefüge hinwegzufegen und neue zu etablieren.
Danach besetzen Apparatschiks die Posten und verwalten den „neuen“ Masse-Menschen wie das Regime zuvor. Die Selbstentfremdung kehrt zurück: Vor allem tritt sie in der Erscheinung eines Staates zum Vorschein, der als Selbstzweck der Gesellschaft gegenübertritt. Marx erkennt das als Widerspruch zur eigentlichen Idee eines menschlichen Gemeinwesens, in dem der Staat nicht als etwas Fremdes, als Bürokratie dem Menschen entgegentritt, sondern Mensch-sein und Bürger-sein eins sind. Er nennt das die „wahre Demokratie“ in der die eigentliche Bestimmung des Menschen „Freiheit“ heißt. Das klingt wie ein Witz, den man im Ausland heute wieder über Deutschland erzählen darf.
Wettbewerb um den Wohlstand der Arbeiterklasse
Der Wandel der Produktionsverhältnisse, den Marx zwingend vom Kapitalismus zum Sozialismus vorausgesetzt hatte, wurde jedoch durch ein Intermezzo der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland durchkreuzt. (In anderen Ländern durch ähnliche marktwirtschaftliche Modelle.) Insofern reichte der dialektische Blick des Philosophen nicht weit genug – er konnte die gesellschaftlichen Umwälzungen durch zwei Weltkriege und neue weltpolitische Dynamiken nicht vorhersehen. Das ist der Nachteil an einem historischen „Glaskugel-Materialismus“, der „real existierende“ Zwangläufigkeiten voraussetzt, die sich zeitgeschichtlich ergeben müssen (Doktrin), sich aber schnell von selbst falsifizieren.
Doch welche Folgen hatten die (wirtschaftspolitischen) Umwälzungen in Ost und West im 20. Jahrhundert, als Verelendung und Ausbeutung als Folgen der ungezügelten Industrialisierung des 19. Jahrhunderts nicht mehr so im Fokus standen? Wie sahen denn die Produktionsverhältnisse aus? Die Kriegsausgänge markierten nicht nur wirtschaftliche Einschnitte, sondern waren auch Startpunkte einer neuen Arbeitswelt und neuer ökonomischer Ansätze. Die Konkurrenz zwischen dem westlichen Freiheitsmodell und der kommunistischen Kollektiv-Doktrin war ab dem 20. Jahrhundert auch ein Wettbewerb um den Wohlstand der Arbeiterklasse (des Proletariats).
Dabei konnten die Wirtschaftssysteme des Westens mit freiem Unternehmertum und bürgerlichen Struktur-Reformen den gesellschaftlichen Frieden während des ganzen Jahrhunderts immer wahren und waren im Vorteil: Direkte ökonomische Teilhabe schloss die Arbeiter- und Facharbeiterschaft in den wirtschaftlichen Erfolg ein und ließ sich nicht mehr mit Verelendungstheorie und Ausbeutung gleichsetzen (in Westdeutschland standen dafür soziale Marktwirtschaft, Gewerkschaften, Tarifverträge, Arbeitsschutz, Sozialversicherung, etc.)
Gesellschaftliche Eskapaden der Personenkult-Staaten
Die sozialistischen Systeme hingegen verkamen zu fassadenhaften, autokratischen Personenkult-Gebilden (Lenin, Stalin, Ceaușescu, Mao, Pol Pot) oder zu bürokratischen Spießer-Diktaturen (DDR, Polen), die einschüchternd und paralysierend auf den gesellschaftlichen Fortschritt wirkten, in denen Planwirtschaft und Bürokratie unüberwindbaren Barrieren, ökonomische Eigeninitiative und Risikobereitschaft Fremdworte waren – zudem waren Überwachung, Zersetzung und „revolutionäre“ Säuberungen in vielen sozialistischen Ländern Dauerzustand und sozialistisch-ideologische „Pflicht“.
Zum Teil führten die gesellschaftlichen Eskapaden der Personenkult-Staaten zu jahrelangen Versorgungsengpässen, Hungersnöten und Gewaltexzessen gegen die Bevölkerungen (Kulturrevolution in China, Stalinistische Säuberungen). Im Konkurrenzkampf mit dem westlichen System konnte folglich kein Staat des Ostblocks den Abstand zum Westen je einholen.
Hier zeigt sich ein Widerspruch bezüglich des Historischen Materialismus: Die Organisation der Produktion hatte sich schließlich in keinem sozialistischen Land grundlegend geändert oder verbessert, wenn man konstatiert, dass nur politische Eliten ausgetauscht und Unternehmer enteignet wurden. Miss-und Mangelwirtschaft, Kleptokratie, Bespitzelung, Verfolgung und Internierung von Oppositionellen kompensierten in den sozialistischen Musterländern alles, was initiativ, mutig und westlich anmutete. Das materialistische Endziel „Kommunismus“ wurde also nie erreicht und wird nie erreicht werden.
Dialektischen Materialismus an die Grünen abgegeben
Der Egoismus ist eben nicht nur der böse Faktor. Er ist der Antrieb zu Eigenleistung und Risiko, die nach Belohnung streben. Der große Philosoph war von seiner negativen Begriffsdefinition schlicht besessen. Diesen ambivalenten Aspekt des Egoismus musste Marx bewusst übersehen, er wurde damit aber zur entscheidenden Fehlprämisse in seinem System.
Der Traum von der Revolution ist heute trotzdem nicht tot zu kriegen. Statt der karbon- und atombasierten Elektrifizierung propagiert man heute die erneuerbare Elektrifizierung. Es werden gigantomanische Infrastrukturprojekte im Stil von 20-Jahresplänen ausgerufen, deren Finanzierungen ohne kapitalistische Finanzstrukturen unmöglich wären. Klima-Solidarität und (energetisches) Klassenbewusstsein (Verzicht) werden eingefordert, um die Nachhaltigkeits-Revolution loszutreten, die zur ersehnten „Klimagerechtigkeit“ führen und die Menschheit vor dem kapitalistischen Untergang bewahren soll.
Die biederen Alt-Utopien des Arbeiter- und Bauernstaates reüssieren in pittoresker Banalität mit Bildern von kreislaufwirtschaftenden Kleinkommunen mit Nullwachstum, wie ehedem die Dorfsprengel mit Dreifelderwirtschaft (Feudalherr und Raubrittertum ausgeklammert). Dabei setzen auch die Aktivisten auf die Doktrin einer individuellen Mikro-Elektrifizierung: ohne Digitalisierung, sprich Handy, Insta, Twitter, WhatsApp, ist die Nachhaltigkeitsrevolution nicht zu schaffen.
Typus des „Linksperformers“
Die Linken haben den dialektischen Materialismus (Produktionsverhältnisse, Klassenbewusstsein) an die Grünen abgegeben. Die grüne Partei werkelt seit Langem an der Theorie des Neuen Menschen und der Neuen Wirtschaft. „Antikapitalistische Transformation und Herrschaft der Nachhaltigkeitselite“ sind die Begrifflichkeiten und ersetzen „Sozialistische Revolution und Herrschaft des Proletariats“.
Linke müssen sich nun neue „materialistische“ Themenfelder suchen. Identitäts-Debatten und Transgender-Aktivismus bieten scheinbar ausreichend dialektische Anknüpfungspunkte. Hier werden neue Feindbilder und Opfer-Narrative hochgehalten und lassen sich als entsprechende Pseudo-Widersprüche aufdecken, um sie dann linksmethodisch für oder gegen die Gesellschaft „aufzuheben“.
Mit diesen neuen, links anmutenden Themenfeldern tritt heute der medial gewandte Typus des „Linksperformers“ auf, der aber mit den Ideen und Theorien des bärtigen Philosophen aus Trier nur noch wenig am Hut hat. Er ist nicht dialektisch begabt, aber als ideologischer Anwalt der Entrechteten lässt die Gesellschaft ihn selbstbewusst und larmoyant auftreten.
Schmerzliche Mischung beider Farben
Das „Proletariat“ als ursprünglicher Adressat marxistischer Ideologie interessiert Linksperformer insofern nicht mehr, weil es angeblich demoskopisch, ideologisch abgewandert ist und nun – in gewohnt linksdiffamierender Weise – der Szene der Querdenker, Verschwörungstheoretiker, Schwurbler und AfD-Wähler zugeordnet wird. Man will mit Marxens Schutzbefohlenen nichts mehr zu tun haben. Aber auch umgekehrt nicht.
Hier liegt die Ursache, warum die urbanen Hipster-Eliten, Nachhaltigkeits-Ideologen und Linksperformer nicht mehr ausreichen, um eine Partei „die Linke“, ex PDS, ex SED mit breiter Wählerlegitimation auszustatten. Mit dem Verlust des dialektischen Terrains und der vergeblichen Hoffnung auf intellektuellen Nachwuchs hat sich die Linke heute zu einem Anhängsel der grünen Partei entwickelt, wo sich eine schmerzlich hässliche Mischung beider Lieblingsfarben zusammenbraut.
Teil 1 finden Sie hier.
Teil 2 finden Sie hier.
Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.