Das Feiern der Kirschblüte in Japan ist ein alljährliches Highlight. Als Deutscher in Japan genieße ich die Natur – musste mich aber erst an die noch bestehende Wildnis gewöhnen.
Was einem Gaijin („jemand von außen“) in Japan zu jeder Saison die Sinne betört, ist auch naturästhetische Faszination. Ich erlebe jährlich enorme Glücksgefühle, von soviel Schönheit hier umgeben zu sein – einerseits, denn andererseits lauert auch immer eine Düsternis tödlicher Gefahren. Das große Kantō-Beben von vor über 100 Jahren, das mehr als 100.000 Menschen das Leben kostete und unbeschreiblich viel Zerstörung über Tokyo, Yokohama und drei umliegende Präfekturen brachte, hatte sein Epizentrum unterhalb der Sagami-Bucht, wo wir jetzt leben. Das gewaltige Tōhoku-Beben von vor 14 Jahren forderte circa 20.000 Menschenleben, ein Vielfaches an Existenzen und unterzog den Reaktor von Fukushima Dai’ichi einer zerstörerischen Ernstfallprüfung, die glücklicherweise – anders als anfangs durch Nuklearhysterie angeheizte Falschmeldungen in meiner alten Heimat verbreitet wurde (durch Claudioa Roth, Jürgen Trittin, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und so weiter) – relativ glimpflich ausging.
Zusätzlich zu seiner mit Erdbeben gezeichneten Geologie aufgrund seiner exponierten Lage über Subduktionszonen verschiedenster Erdplatten, kann die landschaftliche Natur Japans ebenfalls sehr problematisch sein, wie ich es in meiner Unerfahrenheit manchmal erdulde. Wir leben in bewaldeter Berggegend am Pazifik, in circa 180 Metern Höhenlage; beliebt ist dieses Areal (Fuji-Izu-Hakone Nationalpark) nicht alleine durch die Präsenz des Fujisan, sondern neben seiner zauberhaften Landschaft auch für Früchtereichtum, exzellenten Fisch und hervorragende Heißwasserquellen (Onsen). Morgens erwachen wir mit Gezwitscher, hinterm Haus ein Bergbach, dem sich ein Bambus-Mischwald vor Felsen anschließt und wo neben Mosquitos noch viele andere Kreaturen ihr Auskommen suchen, auch so manches Pflanzengift lauert. Ich erinnere die schreckgeweiteten Augen meiner Mayu, als ich Ahnungsloser an einem Tage mit bloßen Händen unsere verwachsene, verwilderte Ölweide hinterm Haus beschnitt. „Ich vergaß wohl zu erwähnen, wie viel an Dschungel noch in unserer japanischen Wildnis steckt“, sagte sie mitfühlend, als sie mich abends mit unförmig angeschwollener Hand zum Arzt brachte.
Zu reichhaltiger Orangenernte streunen Makaken sowie Wildschweine von Sommer bis Herbst umher, Reptilien gleiten durchs Gehölz und oben auf den Bergkuppen hängen Bärenwarnungen aus. Die Schlangen dieser Gegend sind nicht giftgefährlich, doch auf Honshū lebende Bären mögen zwar – anders als die extrem gefährlichen Higuma-Grizzlies auf Hokkaido, die eine aufgerichtete Größe von weit über zwei Metern erreichen können – in der Regel Vegetarier sein und nur halb so groß wie die Bären der Nordinsel, töteten aber ebenso bereits verschiedene Menschen ihrer Gebiete nach Konfrontationen in der Wildnis.
Weltweite Begeisterung für die japanische Kirschblüte
Die Gefahren japanischer Natur können für Menschen so herausfordernd sein, wie ihre Schönheit atemberaubend. Nach diesjährig ungewöhnlich lang andauernder Kälte erblüht wie zu jedem Jahr die Natur ringsum mit einer Fruchtbarkeits- und Farbenexplosion, die in dieser Form an wenigen anderen Orten dieser Welt so erscheint. Schon gar nicht in einem – dank „Grüner“ Politik verstärkt in jüngerer Neuzeit – mehr und mehr seine Natur schädigenden Deutschland. Über Japan ziehen Jahr für Jahr zwei unbeschreiblich schön naturbelassene Farbfronten – von September bis November von Nord nach Süd Koyo (紅葉), die rötliche Herbstlaubfärbung, vergleichbar dem American Indian Summer, und zwischen März und Mai von Süd nach Nord Sakura (桜), die japanische Kirschblüte, unvergleichlich. So manche Knospe entfaltet sich früher – erste Blüten der Ryukyu-Kanhi-Sakura finden sich schon Ende Januar auf Okinawa, in einigen Gegenden auf Honshū erblüht Kawazu-Sakura im Februar. Und Ume (梅 – gehört zu den Aprikosen, wird aber japanische Pflaume genannt; gehört nicht zu Sakura) erblüht zwischen Februar und März auf Honshū.
Oben auf der kühlen Nordinsel Hokkaido blüht Sakura spät und dann bis in den Mai hinein. Der alles weit überstrahlende Hauptteppich an Sakura-Blüten entfaltet sich also von März bis April. Sakura-Bäume sind eher Zier- oder Blütengewächse, die zu Erheiterung und Genuss in freier Natur und vielen weiträumigen Parks einladen und einen erheblichen Anteil des gewaltigen Baumbestandes japanischer Natur ausmachen. Je nach Schätzung vielleicht die Hälfte aller Laubbäume, was überzogen sein mag, aber sicherlich ein Hintergrund für die weltweite Begeisterung für die japanische Kirschblüte ist.
Heutzutage verbindet jeder Japan-Interessent etwas mit dem einzigartigen Zauber dieser Blütenzeit, deren Faszination seit Jahrhunderten auch in vielen Kunstsparten inspirierend wirkt. Dies entwickelte sich für eine etwas breitere Schicht unterhalb der japanischen Aristokratie erst während der Tokugawa-Dynastie ab 1603 zu einem allgemeinen Freizeitvergnügen. Mit der Reichseinigung durch Tokugawa Ieyasu (Shogun 将軍) endeten die zerstörerischen Kriege zwischen den Daimyo (大名), den Feudalherren und Kriegsfürsten, eine lange Zeit des Friedens brach an und die Leute konnten sich um mehr als ihr tägliches Überleben kümmern und zusätzlichen Genuss darin einfließen lassen.
Das Schöne mit dem Angenehmen verbinden
Die Freude über den Anblick verschieden bunter Blüten wird zwar schon in frühen Poems aus der Nara- und Heian-Periode (710 – 1185) besungen, wurde aber als Vergnügen in den alten Zeiten – wie im chinesischen Reich, das dazumal kulturell diesen Erdkreis dominierte – nur von herrschaftlichen Familien und ihrem Anhang zelebriert. In der neuen Hauptstadt Edo und seinen Herrschaftsbereichen begannen Tokugawa und seine Fürsten mit der Bepflanzung weiter Alleen mit besonders schön blühenden Bäumen, um zu Sakura diesen prächtigen Anblick zu genießen. In Kyoto hatte laut Überlieferung Toyotomi Hideyoshi – neben Oda Nobunga und Tokugawa einer der drei berühmten Reichseiniger – im Jahre 1598 schon ein spektakuläres Hanami-Vergnügen für seine Feudalherren und ihren Anhang ausgerichtet.
Ueno, nicht weit von Edo und im heutigen Tokyo gelegen, wurde die bedeutende und bis heute populäre, mit Sakura-Bäumen bepflanzte Gegend, in welcher sich die Menschen zu Hanami (花見 – Blütenschau, wird ausschließlich für Sakura verwendet) versammeln. Diese Tradition wurde in moderner Zeit zu einem Vergnügen für alle Japaner und behauptet sich als ein kulturelles Ereignis, zu einem kalenderbestimmenden Zeitrahmen, in welchem die weiß-rosa Blütenpracht seit vielen Generationen den Frühling einläutet, so wie der in bezaubernden Farben erscheinende Laubverfall den Herbst ankündigt – übrigens seit Jahrhunderten relativ regelmäßig, abseits der Global-Warming-Spekulationen.
Sakura ist im heutigen Japan – einem Land, das in vielerlei Hinsicht ein Paradies für Gäste ist, anders als meine deutsche Heimat, die eher einer Servicewüste ähnelt – von bunter Geschäftstüchtigkeit geprägt. Auf allen Sendern wird über die von Süd nach Nord ziehende Blütenfront berichtet, jedes Jahr erscheinen dazu Kalender und viele Geschäfte sowie Waren werden mit Sakura-Symbolik geschmückt. Die atemberaubende Schönheit der so zahlreich blühenden Bäume ist unvergleichlich bezaubernd und landesweit zu bestaunen. Hanami-Partys unter Blüten im Freien, gern auch geschmückt im leuchtenden Kimono, sind gesamtgesellschaftliche Ereignisse, welche den Japanern im Angesicht anspruchsvollen Lebens dessen Farbenfreuden und Fruchtbarkeitspotential vor Augen führen und feiern lassen. Gekennzeichnet sind sie zu diesen Tagen durch viele fröhliche Leute unter gigantischem Blütenmeer, mit Unterhaltung, Picknick und Alkoholika, da hiesige Einwohner mit knapp bemessener Freizeit gern das Schöne mit dem Angenehmen verbinden. Alles in allem gelten Sakura und die sich anschließende Golden Week hierzulande als schönste und friedvollste Anlässe zur Mußestunde.
Bernd Hönig ist Altertumswissenschaftler (Magister Artium Religionswissenschaft/Judaistik), Jahrgang 1966, lebte fast 30 Jahre in Berlin, traf seine heutige Ehefrau Mayu 2016 in Deutschland und lebt jetzt mit ihr in Japan. Dieser Beitrag erschien zuerst auf seinem Blog japoneseliberty.com. Dort beleuchtet er bevorzugt nichtalltägliche Themen, beurteilt aus der liberalen Sicht eines abendländisch freien Geistes.