Deborah Ryszka, Gastautorin / 02.10.2020 / 14:00 / Foto: uritours / 28 / Seite ausdrucken

Kindsköpfe regieren die Welt!

Von Deborah Ryszka.

Da haben wir die Misere. Auf der einen Seite Erwachsene, die einem Kind kopf- und willenlos folgen. Auf der anderen Seite Greta, die Gigantin, die Geistliche, die Göttin. Zwei, die sich gefunden haben? Jawohl. Doch wie passt das zusammen? Wo liegt das gemeinsame Moment beider Parteien, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten? Kind und Erwachsener, Zwerg und Riese? Alexander Kisslers Antwort lautet: „Die infantile Gesellschaft.“ So der Titel seines gleichnamigen Buches, das jüngst erschien. Punkt. Ende. Aus.

Doch von vorne. Wie kommt Kissler auf die Idee, dass wir in einer Gesellschaft der Kindsköpfe leben? Worin sieht er die Ursachen? Was zieht er für Konsequenzen? Antworten auf diese Fragen gibt er mithilfe seiner Beobachtungen und Erlebnisse, die er dem Leser durch viele anschauliche Beispiele aus Alltag, Politik, Medien und dem Schulbereich nahe bringt.

Erfreulich hierbei: Statt um den heißen Brei zu reden, wie es Hobbypolitiker und Berufsfeiglinge gerne tun, zeigt Kissler dem Leser, wo der Kinderschuh drückt. Direkt, unvermittelt, klar. Hierbei versteht er es, in bester Manier alles zu sagen, was nötig ist. Ohne zu beleidigen und zu diffamieren, ohne zu verschönern und ohne sich selbst zu zensieren. Dafür bleibt er umso respektvoller und umso anständiger. Diese Gratwanderung gelingt nicht vielen. Hut ab.

„Sie erklären das Kind zum Orakel, aus dem höhere Mächte sprechen“

Gleichzeitig positioniert sich Kissler klar, bleibt aber bei seinen Betrachtungen und Schlussfolgerungen sachlich und nüchtern, abwägend und kritisch. Das beginnt mit seinem Hinweis auf ein falsches Verständnis von Rousseaus Ansichten zur Erziehung. Als „Vulgärrousseauisten“ bezeichnet der Autor diese Missverstehenden. „Sie erklären das Kind zum Orakel, aus dem höhere Mächte sprechen“.

Diese Sehnsucht nach etwas Höherem, nach etwas Transzendentem spiegelt sich ebenso in einer obsessiven Naturvernarrtheit vieler Erwachsener wider. Schrecklicherweise schlägt diese nicht selten in einen Menschenhass um. So werden Bienen und Amöben höher als Menschen gestellt. Zu recht scheut sich Kissler hier, die seelischen Tiefen jeweiliger Personen näher zu erforschen. In diesem Stadium bedarf es eindeutig schon professioneller Unterstützung.

Das gilt auch für all jene, die nicht begreifen können oder wollen, was gegenwärtig in unserer Gesellschaft geschieht. Sei es, weil es sie nicht interessiert, sie arrogant oder – gelinde gesprochen – sie zu dumm sind. Das betrifft Phänomene, wie etwa den Popularitätszuwachs der AfD, die Zunahme bundesregierungskritischer Stimmen oder die Extremisierungstendenzen vieler Bürger. Jedoch spätestens nach Kisslers Lektüre sollte der Groschen gefallen sein. Zumindest wenn man liest, wie sich etwa kirchliche Organisationen der „Fridays for Future“-Bewegung anbiedern. Oder ein bedeutender Grünenpolitiker mit seinen Kinderbüchern schon die Kleinsten indoktriniert. Unter diesen Umständen scheint ein Würgereflex nur verständlich. Pardon.

Mangelndes Selbstvertrauen, fehlende Erinnerungskultur

Doch zurück zu Kisslers Ausführungen. Nachdem er sich näher mit der „Fridays for Future“-Bewegung und ihren Protagonisten auseinandergesetzt hat – meiner Meinung nach unverhältnismäßig zu lang, schließlich beteiligen sich nur eine Minderheit der Bevölkerung hieran –, legt der Autor den Finger in die Wunde Deutschlands. Es geht um Berlin.

Ja, Berlin ist nicht exemplifizierend für Deutschland. Die Stadt an der Spree hat ihren eigenen Takt. Es ist ein Kosmos für sich. Hier treffen sich geballt und konzentriert alle Extreme: Links und rechts, jung und alt, dumm und intelligent, undsoweiterundsofort. Nichtsdestotrotz gibt die Hauptstadt den Takt vor. Und einen entscheidenden Trend sieht Kissler in einer sich ausweitenden Infantilisierung der Bundeshauptstadt: E-Scooter, Begegnungszonen, Duzen – um nur einige Aspekte zu nennen.

Das sehe man, seiner Meinung nach, auch bei der Kirche. Um jung, „cool“ und „in“ zu sein, spiele sie liebedienerisch den Bettvorleger. So lasse sie sich etwa von „Fridays for Future“-Aktivisten beim ARD-Jahresgottesdienst 2019 kasteien (von unseren Rundfunkgebühren!) oder verkleide sich als Kletterparadies und Erlebnishotel. Erbärmlicher geht es kaum. Gründe kann Kissler auch nennen: Neben mangelndem Selbstvertrauen wären das zum einen konformistische Tendenzen und zum anderen eine fehlende Erinnerungskultur.

„Die dumme Gesellschaft“ wäre treffender gewesen

Nota bene: Während der Lektüre stellt man sich doch die Frage, ob seine Schlussfolgerungen die richtigen seien. Klar, die Beispiele, die er nennt, sind nicht von der Hand zu weisen. Kindervergötterung, Duzen, E-Scooter und Kinder zeigen Erwachsenen den „richtigen“ Weg. Doch geht er mit seinem Urteil nicht zu behutsam, zu vorsichtig, zu sanft ins Gericht? Schließlich verharmlost er die von ihm genannten Probleme, indem er das verniedlichende Wort der „Infantilisierung“ benutzt. Dieses lässt so ein knuffig-süßes Kind mit großen Kulleraugen und kleinem und noch knuffigerem Hundewelpen auf seinem Arm vor dem geistigen Auge erscheinen.

Des Weiteren meint Kissler, Distanz zu ertragen, abstrahieren zu können und Grenzen zu ziehen, seien Kennzeichen eines erwachsenen oder reifen Menschen. Wirklich? Sind gerade das nicht Merkmale einer intelligenten Person? Je intelligenter jemand ist, desto einfacher ist es für ihn, Abstand zu wahren, richtig zu schlussfolgern und Grenzen zu setzen. „Die dumme Gesellschaft“ wäre insofern treffender, aber auch provokanter gewesen.

Nichtsdestotrotz ist „Die infantile Gesellschaft“ wärmstens zu empfehlen. Obschon es ein ernstes Thema aufgreift, liest sich das Buch von Anfang an schnell, leicht und aufmerksam. Durch die vielen anschaulichen Beispiele und die pointierten, scharfsinnigen Beobachtungen des Autors ergibt sich eine abwechslungsreiche Lektüre, die mit der Schlussfolgerung Kisslers endet: „Wir müssen uns den erwachsenen als einen glücklichen Menschen vorstellen. Sind Sie bereit?“ Wir sind es. Aber sind Sie es auch?

„Die infantile Gesellschaft – Wege aus der selbstverschuldeten Unreife“ von Alexander Kissler, 2020, Hamburg: HarperCollins, hier bestellbar.

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Biggi Jaspert-Gärtner / 02.10.2020

Wie hieß es schon vor Jahren Frauen an die Macht! Ich gebe zu, in meinen jungen Jahren und das sind schon mehr als 40 Jahre her, fand ich das auch toll! Jetzt mit 63, mit Kindern und dem alltäglichem Kampf des Lebens immer wieder konfrontiert, schreie ich bei der These “Frauen an die Macht “. Ich fühle mich nicht diskriminiert, obwohl es auch solches in meinem Leben gab. Aber so ist das nun mal. Infantile Gesellschaft bedeutet für mich und so haben wir es heute: ” ich kann, ich will,  mir steht das zu , ich habe alle Rechte und keine Pflichten, ich zuerst!”  Und leisten tun sie nichts. Der Strom kommt aus der Steckdose und das Geld aus dem Bankautomaten! Man muss schon sagen nicht infantil, sondern IRRE!

B. Dietrich / 02.10.2020

Bin eigentlich ein Fan von Herrn Kissler und stimme mit 95% des Geschriebenen voll überein. Wobei es sicherlich richtig ist, dass es der (oder die, selbstverständlich!), der (oder die, selbstverständlich!) es liest sowieso schon weiß, und die (Plural), die es betrifft, nie lesen werden.+++Was mich aber erheblich verstört hat war das letzte Kapitel, in dem Herr Kissler seine eigene, recht oberflächliche, um nicht zu sagen: infantile Einstellung zur Corona-Hysterie referiert. Das hat einen großen Teil des zuvor Kritisierten erheblich relativiert.

maciste rufus / 02.10.2020

maciste grüßt euch. heute werden die alten wieder infantil und die jungen sind bereits debil. oswald spengler wußte es in die worte zu fassen, daß einen langen krieg nur wenige überdauern ohne seelisch zu verderben, einen langen frieden indes keiner. dieser gedanke hat die problemlösung implizit. battle on.

herbert binder / 02.10.2020

“Kinder, ich habe so viele von ihnen aufwachsen sehen, glauben Sie mir. Sehr viele Menschen schauen auf die Kinder. Und sie alle malen sich eine neue Welt aus. Aber ich, wissen Sie, wenn ich ihnen zuschaue, ich sehe nur die immer gleiche alte Tragödie, die wieder von vorn beginnt. Auch sie kommen nicht los von uns. Es ist langweilig.” [“Professione: reporter” (Beruf: Reporter), Michelangelo Antonioni, 1975]

Eugen Richter / 02.10.2020

@ Georg Blunk   Ja, richtig verstanden. Allein AfD einfach nicht negativ kritisch zu erwähnen, ist sehr verdächtig und kann zum Ausschluss im gut sortierten Buchhandel führen.

Alf Rettkowski / 02.10.2020

Infantilisierung ist nur eine Facette eines übergeordneten ideologischen Prinzips der Antikonservativen: Die Überzeugung, dass die Stärkeren immer die Bösen sind und nichts anderes im Sinn haben, als die Schwächeren auszubeuten. Da die Schwächeren als von Grund auf gut angesehen werden, sollen sie die Macht übernehmen. Da sie aber schwächer sind, klappt das nur über Vorrechte, die jedoch als “Wiederherstellung der Gleichberechtigung” verkauft werden. Z.B. dürfen Kinder Erwachsene schlagen, aber nicht umgekehrt. Um das Volk davon zu überzeugen, für solche Vorrechte der Schwächeren zu stimmen, veranstalten die Antikonservativen ein unablässiges Medienpropagandadauerfeuer gegen die Stärkeren. Dabei schicken sie Frauen und Kinder als moralische Schutzschilde an die Propagandafront. Denn wenn sich einer der Stärkeren wehrt, kann ihm dann sofort vorgeworfen werden, er würde sich unritterlich an Schwächeren vergreifen. Svante Thunberg z.B. stürzt sich nicht wie ein Wikinger in die Schlacht mit Leuten wie mir, sondern versteckt sich hinter seiner Tochter. Wenn diese mir eine Ohrfeige verpasste, würde die ganze Welt Beifall klatschen. Aber wehe, ich schlüge zurück… Als Schwächere und damit als moralisch Bessere gelten u.a.: Kinder, Frauen, Dunkelhäutige, Moslems, Homosexuelle, Behinderte, Bildungsferne. Die sollen also gemeinsam die Macht übernehmen, um der “Ausbeutung” ein Ende zu setzen.

Bastian Kurth / 02.10.2020

Diese Entwicklung der zunehmenden Infantilisierung beobachte und bemerke ich schon seit etlichen Jahren. Könnte es sein, daß viele Leute nur zu gerne in die Opferrolle des “unschuldigen Kindleins” schlüpfen wollen? Opfer sind ja immer unschuldig und schützenswert, allerdings kann das auch kippen wenn man hier in unserer Gesellschaft ein wirkliches Opfer, z.B. einer Straftat wird. Da wird dann schnell mal aus dem Täter ein, in der Kindheit gaaaaaanz böse und schlecht behandelte Opfer. Werdet endlich erwachsen, ihr Heulsusen und Somnambulen!!!

Helmut Driesel / 02.10.2020

  Die Bereitschaft, ein Kind als etwas Gebenedeites anzuhimmeln ist der christlich verwurzelten Gesellschaft sozusagen in die Wiege gelegt. Sollte doch eigentlich hier niemanden verwundern. Aber das bedeutet nicht, es ginge um eine dominante Menge von Kindsköpfen. Hier geht es um eine Menge von Selbstdarstellern, die zwanghaft ständig schauen, welche Show gerade läuft, damit sie nicht einen falschen Typ mimen. Wie relevant das für das ernste Gesellschaftsspiel ist oder werden wird, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber die Kinder sollten nicht pauschal abgeurteilt werden, es gibt sehr unvernünftige, aber auch sehr vernünftige Kinder. Es gibt immer eine mehr oder minder nüchterne Realität und es gibt die Show, das Framing, wie man neudeutsch sagt, und es gibt die individuelle Performance, die nämlich über Erfolg und Misserfolg entscheidet. Das hat sich in den letzten hundert Jahren nicht verändert, das Erkennen der Situation und die darauf abgestimmte individuelle Performance. Das entscheidet darüber, ob jemand physikalische Chemie studiert und vielleicht in ein Regierungsamt gewählt wird oder ob derselbe kluge Kopf von Job zu Job tingelt und mit 30 in der Psychiatrie landet. Es könnte doch sein, mal theoretisch angenommen, das Fernsehen würde uns systematisch verblöden und verrohen, dass nur die kindlich unbefangene Psyche noch imstande ist, die wahre Realität zu sehen. Ist nur so eine querulatorische Wahnidee von mir. Heute kommt mal wieder The Walking Dead. Leider spielt der Trump nicht mit, was ich echt originell fände.

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